Читать книгу Mädchen und Spinnen - Caroline Willand - Страница 6
Spinne!
ОглавлениеTicke jauchzte innerlich und schlug ihr Messer wieder in seine Lederhülle ein, als etwas ihren Kopf berührte. Achtlos fuhr sie sich durch die Haare und wollte sich gerade an den Abstieg machen, da kitzelte es an ihrem Hals. Unwillkürlich wandte Ticke sich um.
Und da war sie. Riesig, braunweiß und so nah, dass es keine Rettung gab: die Besitzerin des Netzes, eine der größten Kreuzspinnen, die es in diesen Teilen der Welt gibt. Mit ihren langen, tastenden Fühlern hatte sie sich schon mal ein Bild davon gemacht, wie dieser neue freche Braten wohl schmecken würde. Ihre Kiefer knackten leise und ihre zwei Hauptaugen betrachteten Ticke beinahe melancholisch. Die andern sechs Augen hatten nichts als Hunger.
Im Nachhinein gesehen war es das einzig Richtige: Ticke fiel vom Baum. Ihre Sinne versagten, sie konnte sich vor Entsetzen nicht mehr halten und so stürzte sie in die Tiefe und landete neben dem Bündel im Moos, das auch ihren Fall abfederte. Die Spinne, die gerade zur Umklammerung angesetzt hatte, griff enttäuscht ins Leere, verlor dabei ebenfalls das Gleichgewicht und fiel auch. Aber wenn eine Spinne fällt, hat sie ihren Faden, der ihren Sturz auffängt. Trotzdem wäre sie genau auf Ticke gelandet, hätte die sich nicht aus Reflex zur Seite geworfen.
Doch Tickes Lage war am Boden kein bisschen besser als vorher, sie hatte keine Waffe und keine Chance zu entkommen. Spinnen tragen ihr Skelett wie Bienen, Käfer und Heuschrecken außen. Sie haben also einen harten Panzer, und nur mit einem Speer konnte man ihnen beikommen. Nicht mal mit Pfeil und Bogen. Und schon gar nicht mit einem kleinen Glasmesser, das man zudem vorher ordentlich eingewickelt und weggesteckt hat. Trotzdem tastete Ticke, die noch immer auf dem Boden lag, hinter sich nach einer Waffe, nach irgendetwas, das das Ungeheuer aufhalten würde, aber da war nichts. Ihre Glieder klickten leise, als sich die Spinne in Position brachte. Ticke wusste genau, was gleich geschehen würde, und eine Welle heißer Panik überrollte sie und übernahm die Kontrolle über ihren Körper.
Hätte sie auch nur einen winzigen Augenblick Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte ihr Leben an diesem Tag wahrscheinlich geendet und trotzdem fragte sich Ticke später viele Male, wie es wohl zugegangen war. Wie war es möglich, dass Tickes Beine, die so ziemlich vor allem davonrannten und denen sie auch dieses Mal die Kontrolle überließ, ausgerechnet dieses eine Mal, anstatt sie eine aussichtslose Flucht versuchen zu lassen oder einfach unter ihr nachzugeben, das einzig Mögliche taten: Anstatt vor der Gefahr wegzurennen, rannte sie blindlings auf die Spinne zu und dann sprang sie.
Ticke sprang. Sie machte einen Satz, entging durch die unerwartete Bewegung den vielen Beinen, zog sich hoch und schwang sich auf den riesigen gewölbten Rücken. Wie sie das geschafft hatte, wusste sie selbst nicht, vielleicht waren ihre Jägerreflexe angesichts der Möglichkeit, von einer Spinne ausgesaugt zu werden, doch noch zum Vorschein gekommen.
Jetzt klammerte sie sich jedenfalls mitten auf dem riesigen weißen Kreuz an den Rücken der Spinne. Die Spinne war unschlüssig. Sie spürte Tickes Gewicht auf sich und versuchte sie mit ihren zahlreichen Beinen zu erwischen, aber in den vergangenen Sommermonaten, mit all ihren fetten Brummern, war ihr Rückenpanzer einfach zu breit geworden.
Ticke drückte sich flach an den Panzer, und die tastenden Beine konnten sie unmöglich erwischen. Angesichts des Todes denkt man die komischsten Dinge, das hatte Ticke schon oft gehört. Ihr einziger Gedanke galt der Tatsache, dass die Spinne abscheulich muffig roch. Mit dem Gesicht gegen deren dicken Leib gepresst, konnte sie das nur zu genau feststellen.
Da die Spinne Ticke auf diese Weise nicht erwischen konnte, rannte sie wütend hin und her, drehte sich um sich selbst und versuchte ihre freche Reiterin auf diese Weise abzuschütteln. Ticke wurde es übel, der Gestank tat sein Übriges – aber sie hielt sich eisern fest. Aufgeregt klickte und knackte die Spinne, doch plötzlich packte sie ihren Faden und machte sich daran, wieder nach oben zu klettern.
„Ich muss abspringen!“, dachte Ticke verzweifelt, doch in diesem Augenblick durchfuhr ein heftiger Ruck die Spinne, sie gab ein zischendes Geräusch von sich, das klang, als würde Luft aus einem Ballon ausströmen, und alle ihre Beine fuhren wild durch die Luft, während sie rückwärts stürzte und Ticke mit ihr. Alles wurde schwarz.
Ticke blinzelte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie läge zuhause in ihrem Bett. Doch als sie die Augen ganz öffnete, sah sie als Erstes das Netz über sich, roch wieder den modrigen Spinnengestank und das Entsetzen sprang sie so heftig an, dass sie sofort auf den Beinen war. Aber etwas hielt sie fest, sie wollte sich losreißen und achtete zuerst gar nicht auf die beschwichtigenden Stimmen neben ihr. „Ticke!“, sagten die Stimmen und: „Halt, Mädchen, ist ja alles gut!“
Da waren Sed, der ihren einen Arm festhielt, und eine alte Frau mit wirren weißen Haaren und einem beinahe ebenso blassen Gesicht, die auf sie einredeten. Ticke kreischte auf und versuchte noch einmal sich loszureißen, doch etwas traf unvermittelt ihr Gesicht und ihr wurde wieder schwarz vor Augen.
Dieses Mal hörte sie zuerst Seds vorwurfsvolle Stimme: „Hättest sie ja nicht gleich umhauen müssen.“
„Schnickschnack“, sagte eine fröhliche Stimme, „bei Panik ist das noch immer das Beste.“
Ticke öffnete die Augen ganz und sah Sed direkt ins Gesicht, der sich besorgt über sie gebeugt hatte. „Hej, Spinnenreiterin!“, sagte er sanft.
Die alte Frau reichte ihr eine Schale mit einer Flüssigkeit. Gierig griff Ticke danach, denn sie hatte schrecklichen Durst, hätte aber das Zeug beinahe sofort wieder ausgespuckt, denn es war so bitter, dass es einem sofort den Mund zusammenzog.
„Trink!“, befahl die Frau mit der fröhlichen Stimme, und da trank Ticke ohne abzusetzen. Die Frau sah ihr befriedigt dabei zu. Als Ticke ihr die Schale zurückgereicht hatte, kreuzte die Frau ihre Arme vor ihrer Brust und neigte ihren Kopf. Diese Geste bedeutete Dank bei den Schmetterlingsleuten. „Ich bin Sedna“, sagte die Frau, „und ich danke dir für meine Rettung aus dem Netz. Ohne dich wäre ich jetzt wahrscheinlich Spinnenfrühstück.“ Ticke riss die Augen auf.
Sedna, die Morre, war zwar eine Institution. Selbst kam sie aber nur zum Baum, wenn jemand so krank war, dass er nicht zu ihr kommen konnte oder wenn eine Frau ein Kind bekam.
Das geschah jedoch so gut wie nie, denn Schmetterlingsleute werden selten sehr krank und die meisten Unglücksfälle verliefen so schwer, dass keine Hilfe mehr nötig war, oder sie waren leicht, sodass zumindest Sedna der Meinung war, man könne sich selbst herbemühen. Die Schmetterlingsleute hatten auch nicht viele Kinder. Deshalb hatte Ticke die Morre erst zweimal gesehen. Das war viele Jahre her, aber ja, sie erkannte die alte Frau wieder, Haare so weiß wie eine Wolke. Und jeder hatte ihr Platz gemacht und ausgesucht höflich gegrüßt, damals. Und nun war Sedna ins Netz einer Kreuzspinne geraten und es war Ticke, die sie gerettet hatte.
Ticke saß erschöpft im Moos und betrachtete staunend die Alte, die sich nach diesen Worten einfach abgewandt hatte und nun die dicke Erle erklomm, ohne Steigschuhe oder sonst irgendetwas, und ihr dann von oben eine Strickleiter herunterwarf. „Meine Treppe für die Kranken“, rief die Alte hinterher. Sed schnaufte verächtlich, half Ticke aber sehr rücksichtsvoll auf. Sie machten sich an den Aufstieg, obwohl Ticke schaudernd feststellte, dass die Leiter aus mehreren Strängen Spinnengarn geflochten war. Ihre Arme und Beine wollten ihr noch nicht richtig gehorchen, doch Sed half ihr.
Mit zitternden Knien kam sie oben an. Im Baum war eine kleine Plattform, sehr kunstvoll geflochten und darauf eine weiße Hütte – aus Birkenrinde, wie Ticke erkannte. Sedna bedeutete ihnen aus dem Eingang, einzutreten.
Drinnen roch es zwar seltsam, war aber sehr gemütlich, das Bett war mit Maulwurffell bedeckt und die Morre machte sich an der Feuerstelle zu schaffen. „Du bist also Ticke“, sagte sie über ihre Schulter. Ticke nickte nur, was die Alte wahrscheinlich nicht sehen konnte.
Sed war richtig aufgedreht: „Ein Glück, dass ich gerade in dem Moment gekommen bin. Hast du gesehen, wie ich geworfen habe? Die ist runtergefallen wie eine dicke Raupe.“ Er lachte hell auf.
„Was ist genau passiert? Wo ist die Spinne hin?“, fragte Ticke ihn.
Sed lachte noch lauter: „Ich kam grade die Erle runter, da wollte das Vieh mit dir nach oben abhauen. ’n Glück, dass ich werfen kann, und natürlich auch eines, dass ein spitzer Stein genau griffbereit lag. Ich hab ihre Webe glatt durchgehauen mit meinem Wurf. Da ist sie runtergepurzelt und kaum hatte sie ihre acht Beine wieder einigermaßen zusammen, ist sie abgehauen, als wär ’n Golkschlürfer hinter ihr her! Was für ein feiges Biest!“
Sed kicherte entzückt über seinen Triumph, aber die Morre schüttelte ablehnend den Kopf:
„Sie hat sich zurückgezogen, aber hüt’ dich, sie feige zu nennen, Kleiner. Eine Spinne wie diese sollte man lieber nicht unterschätzen.“
„Und wie kams dann, dass du in ihrer Vorratskammer gelandet bist?“, fragte Sed frech.
Doch Sedna schwieg und legte noch Holz nach. Ticke spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Von ganz weit weg hörte sie noch, wie die Morre Sed Anweisungen gab, und das leise Prasseln des Feuers. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf, den kein Traum störte.