Читать книгу Aqua Mortis - Carsten Nagel - Страница 10
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Sanne Berg bat den Taxifahrer, vor dem Café Oven Vande anzuhalten, das im Erdgeschoss des »Christianshavnergården«-Hauses lag und auf Christianshavns Kanal hinausging. Es war zur Gewohnheit geworden, dass sie hier immer ein Sandwich kaufte, wenn sie von einer ihrer Dienstreisen nach Hause kam.
Sannes Penthousewohnung, der »Gipfel«, lag im selben Gebäude wie das Café. Die Wohnung war nicht groß, aber es gab eine Terrasse, und aus diesem Grund hatte Sanne zugeschlagen und sie gekauft, als alles andere in ihrem Leben auseinanderzubrechen schien. Es war Sommer gewesen, die Terrasse platzte vor Üppigkeit des Grüns und der Blumen in allen Farben. Die überwältigende Schönheit, die herrlichen Düfte, die Ungestörtheit, die Aussicht, das Ganze hatte sie wie eine große tröstende Chance verstanden: Wenn sie sich jemals mit Saras Tod würde abfinden können, dann im »Gipfel« mit dieser paradiesischen Terrasse.
»Na, zum Teufel, da sind die Bullen«, sagte der Fahrer in einem Ton, als ob schon die Tatsache selbst eine Gefahr darstellte.
Gott weiß, ob er gesucht wird oder einfach nur paranoid ist, dachte Sanne. »Das macht dann 190«, fügte er hinzu.
Sanne gab ihm 200 und stieg aus dem Wagen. Sie reiste immer so leicht wie möglich, am liebsten nur mit Handgepäck, das sie im Taxi auf dem Rücksitz behielt. Sie hatte nicht die Geduld, länger zu warten als absolut notwendig.
Ein paar uniformierte Beamte und Falck-Leute hatten auf der Snorrebrücke Stellung bezogen, die sich schräg vor dem Café Oven Vande über den Kanal erstreckte. Sie waren dabei, etwas durch die Schollen und den Eis- und Schneematsch hochzuziehen. Sannes Neugier behielt über Hunger und Kälte die Oberhand. Sie überquerte die Straße und ging zu den Männern hinüber.
»Und, wie läuft das Eisfischen?«
Die Männer blickten auf. Sie betrachteten Sanne sichtlich amüsiert und warfen einander ein paar schlecht getarnte, mehrdeutige Blicke zu. Sahneschnittchen und sowas.
Schön, dass es noch Männer gibt, die etwas vom Flirten verstehen, dachte Sanne.
»Es ist nur ein Fahrrad«, sagte der eine Beamte und deutete auf das überwiegend zugefrorene Wasser.
Sanne wusste sofort, dass von einem Verbrechen die Rede sein musste. Zu dieser Jahreszeit wurde der Kanal niemals von Gerümpel gereinigt. Im Sommer beobachtete sie das Geschehen von ihrer Terrasse aus, die auf der einen Seite Aussicht auf den Kanal und weiter über Kopenhagen und auf der anderen Seite auf die Erlöserkirche mit dem gewundenen Turm und dem ziemlich lauten Glockenspiel bot. Oft setzte sie sich mit einer Flasche Wein auf das Bollwerk, um die Sommerstimmung zu genießen und mit anderen Anwohnern zu plaudern.
»Da ist die Ladefläche, ich glaube, wir haben es, verdammt noch mal«, sagte der Beamte, während ein Falck-Mann den kleinen Kran vom Auto aus dirigierte. Eins der typischen Lastenfahrräder aus der Schmiede in Christiania kam zum Vorschein.
»Schönen Tag noch«, sagte Sanne und ging zurück zum Café.
»Gleichfalls«, erklang es von den Männern, einer von ihnen fügte am Ende sogar »Schatz« hinzu.
Sanne gefiel es, dass sie im Alter von 43 immer noch die Aufmerksamkeit von Männern erregen konnte, und oft auch mehr als das. Wenn alles andere dunkel und unmöglich schien, brachte die Erotik ein Licht in ihr Leben, das ihr für eine Weile neue Kraft gab. Sex war ganz einfach, zusammen mit gutem Wein, Sannes bevorzugte Energiequelle, wenn sie »down & under« war, wie sie es selbst gerne nannte. Dass Gammeltoft-Svendsen, ihr früherer Psychoanalytiker und jetziger Supervisor, sich auf das etabliertere Diagnosesystem bezog und zuerst über Trauer und seither von Depression gesprochen hatte, störte sie nicht. Auch nicht, wenn er die Überlebensmanöver, die auf Leiden folgten, als »Eskapaden« bezeichnete oder sogar behauptete, von einem klinischen Gesichtspunkt aus gesehen könne man von Acting-out sprechen.
Das, was Sanne in der Beziehung zu G. S. gerade am meisten schätzte, war, dass sie – ob sie sich einig waren oder nicht – alles sagen konnten, was ihnen einfiel. Als Teil der Analyse hatte das Ganze recht einseitig angefangen: Sie lag auf der Couch und redete, während er still reflektierend am Kopfende saß. G. S. war der Einzige, den Sanne jemals in die vollständigen Umstände von Saras Tod eingeweiht hatte.
»Hej, Sanne, schon zurück, wieder zu Hause, guten Appetit. Gute Reise? BLT?«
Ahmed, der kurdische Kellner, lächelte sie an und war schon dabei, in der Küche ein Bacon-Lettuce-Tomato-Sandwich zu bestellen. Bevor sie antworten konnte, drehte er sich jedoch noch einmal zu ihr um.
»Ich Idiot, ich vergessen. Kein BLT für zwei Stunden. Chef bestellen Saugwagen … kein big problem Kloake, nich’ geh’ Küche jetzt. Küche-Toilette, Toilette-Küche … Wasser kommen hoch, hoch, hoch. Du verstehen, ja?«
Sanne verstand Ahmed ausgezeichnet, ihr Lieblingskellner, seitdem er an einem warmen Abend im letzten Sommer im Café Oven Vande aufgetaucht war. Er war immer entgegenkommend und offen für ihre Wünsche, brachte ihr ab und zu Essen in die Wohnung hinauf, wenn sie nicht die Kraft aufbrachte aufzustehen, und war im Übrigen auf angenehme Weise gesprächig. Sie ging davon aus, dass er sich wie viele andere Geringverdiener in Dänemark illegal im Land aufhielt. Er klang auf jeden Fall nicht so, als hätte er sich in einer Sprachschule ausgiebig mit der Verwendung dänischer Verben befasst. Aber heute war sie müde und wollte so schnell wie möglich nach oben. Kurze Zeit später stand sie deshalb im Aufzug auf dem Weg in den ersten Stock.
Sanne warf die Schlüssel auf den Sofatisch im Wohnzimmer und ging ins Schlafzimmer. Ihr Bett lockte, sie hatte auf dem verspäteten Flug aus Bangkok nur ein paar Stunden geschlafen. Sie hoffte, dass es ihr gelang, sich am laufenden Tag wach zu halten, um schnellstmöglich wieder in den dänischen Tagesrhythmus hineinzukommen.
Zurück im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher ein. TV2 News brachte in Dauerschleife einen Beitrag über einen Kindermord auf der Amagergade. Ob Møller an der Sache dran war? Sie hatte keine Kraft, länger darüber nachzudenken, und schaltete das Gerät schnell aus.
Sanne warf einen Blick auf die Terrasse, wo sich nun alles in Winterschlaf befand. Die Küche sah nicht viel besser aus, ihr Kühlschrank war gähnend leer.
Sollte sie ihre Mutter anrufen? Es war eine Ewigkeit her, seit sie miteinander gesprochen hatten. Wenn man das überhaupt als Gespräch bezeichnen konnte. Sie hatten nicht viel mehr als das gemeinsam, was ihre Mutter als »gute Gene und Schlagfertigkeit« bezeichnete.
Den Großteil ihrer Kindheit hindurch hatte Sanne das mit den Genen bezweifelt und geglaubt, sie sei adoptiert worden. Ihren biologischen Vater hatte sie nie gekannt, er starb, als Sanne noch klein war. Die einzige Erinnerung an ihn war eine Ausgabe von Shakespeare Sonetten, sein Verlobungsgeschenk an ihre Mutter, aus denen sie Sanne in der ersten Zeit nach dem Tod des Vaters auf der Bettkante laut vorgelesen hatte.
Ihre Mutter war immer ein wenig distanziert und unterkühlt gewesen, mehr an ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen und ihrer Villa in Gentofte als an Sanne interessiert. Daran hatte sich bestimmt nichts geändert, als ihr Stiefvater und Kaffeegroßhändler Holger an Sannes siebtem Geburtstag einzog.
Mit der Zeit wurde es immer mehr zu einem Teil von Sannes Persönlichkeit, sich ein Stück abseits der häuslichen Normen zu bewegen. Die Pubertät tat ihr Übriges, und je mehr Sanne über das Leben außerhalb ihres Elternhauses lernte, desto mehr empfand sie es fast als ihre moralische Pflicht, in Opposition zu stehen.
Holgers Reaktionen auf ihr Verhalten standen ihrer Dickköpfigkeit in nichts nach. Nach einer ihrer zahlreichen Auseinandersetzungen bestellte er sie in sein Büro, wo er sie mit seinen langen Armen festhielt und Sanne in Anwesenheit seines Vizedirektors mitteilte, dass er ihr, wenn er ihr richtiger Vater wäre, die Zunge abschneiden und diese als Köder an seiner Angel befestigen würde.
Zum ersten Mal fehlten Sanne die Worte. Sie wollte einfach nur abhauen, konnte sich aber nicht aus seinem Griff befreien und musste gegen die Tränen ankämpfen.
Während die Männer nicht aufhörten zu lachen und das Geräusch noch tagelang in ihrem Kopf nachhallte, überdachte Sanne ihren nächsten Zug. Die perfekte Gelegenheit bot sich schon bald: Die jährliche Abendgesellschaft der Kaffeegroßhändler. Sannes Mutter hatte sich natürlich bereiterklärt, sie in der Villa zu veranstalten – warum eine so hervorragende Gelegenheit verstreichen lassen, sich selbst, die prächtige Villa und ihren Schmuck zur Schau zu stellen?
Sanne hatte eigentlich vorgehabt, auf den Tisch zu springen, wo sie entweder das Sozialistenlied »Wenn ich eine rote Flagge peitschen sehe« singen oder zwischen Vorspeise und Hauptgang strippen wollte, aber plötzlich war die Rehkeule schon aufgegessen, das Dessert ebenfalls, der Cognac und der Kaffee in der alten Bibliothek serviert, die Holger in »sein Herrenzimmer« umgetauft hatte.
Holger hielt eine Rede, in der er sich gründlich selbst beweihräucherte. Kaffeebohnen rauf, Kaffeebohnen runter, Import, Export, Röstung, Mahlen, Austausch. Am Ende hob er sein Glas und sagte: »Liebe Kollegen, liebe Gäste! Bevor ich einen Toast mit dem Wunsch nach einem weiteren profitablen Jahr ausspreche, möchte ich nur daran erinnern, dass ich meine wunderbare Frau – abgesehen von Sanne, die heute sogar auch dabei ist, eine ganz gute Wendung zu nehmen – für den Tanz zur Verfügung stelle, der im angrenzenden Salon stattfindet. Skål!«
Die Leute ergriffen ihre Cognacgläser und prosteten Holger, ihrer Mutter und Sanne zu. Sanne blickte hinunter in ihr Zitronenwasser, dann sah sie wieder auf. Dann nahm sie den Teelöffel vom Unterteller ihres Nachbarn, schlug damit gegen eine Flasche Sodawasser, stand auf und sagte: »Liebe Gäste … auch du, Holger. Ich will euch nicht weiter ermüden, sondern fasse mich so kurz wie möglich …«
Sanne erinnerte sich an die Stille, die einige Sekunden lang herrschte, die Andeutung von Nervosität in der Handbewegung ihrer Mutter, die ihr signalisieren sollte, fortzufahren, erinnerte sich an den Blickkontakt mit ihrem Stiefvater, bevor sie sich selbst innerlich wieder unter Kontrolle bekam.
»Holger, du hast nichts außer Kaffee zwischen den Ohren, und der ist obendrein noch dünn! Skål!«
Einen Augenblick lang war nur das Ticken der deutschen Standuhr zu hören, dessen Regelmäßigkeit plötzlich wie ein unheilverkündender Countdown zur Hölle klang. Holger saß wie gelähmt da, ganz baff, die Frau des Vizedirektors neben sich. Doch dann warf ihre Mutter den Kopf in den Nacken, sodass ihr Brillantschmuck glitzerte, und brach das Schweigen mit ihrem lautesten Salonlachen: »Meine Tochter ist so witzig, das hat sie von mir. Aber worauf warten wir noch, lasst uns doch tanzen.« Während die Erwachsenen tanzten, fand Sanne eine Flasche Champagner bei der Aushilfe in der Küche. Es war kaum ein Glas voll daraus getrunken worden. Sie nahm sie mit auf ihr Zimmer und fand sofort Gefallen sowohl an seinem Geschmack als auch an der Wirkung.
Holger und Sanne hatten bis zu dem Tag gekämpft, an dem Sanne als Siebzehnjährige mit einem amerikanischen Jazzmusiker ausriss, den ihr Stiefvater als »Neger« und »kohlenschwarz« bezeichnet hatte, obwohl jeder Idiot sehen konnte, dass ihr neuer Freund nougatfarben war. Und als die Verbindung zwischen Holger und Sanne auf Drängen ihrer Mutter wiederhergestellt wurde, hörten die beiden Streithähne dennoch nicht auf sich zu bekriegen, bis Holger eines Tages inmitten einer Schimpftirade über »die gelbe Gefahr« aus China, die neben dem Tee- auch den Kaffeehandel bedrohte, einen Asthmaanfall erlitt. Daraufhin hatten sie beide versucht, den Ball flach zu halten, Sannes Mutter wegen und in der Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft. Es lohnte sich allerdings kaum. Drei Wochen später »schlief Holger friedlich ein«, wie ihre Mutter es ausdrückte. Kurze Zeit nach Holgers Tod verkaufte die Mutter die Villa in Gentofte und zog nach Los Christianos im südlichen Teil Teneriffas. Im englischen Bridgeclub traf sie Henry, der bald Holgers Platz einnahm, woraufhin sie zusammen in einen Luxuskomplex für wohlhabende Ausländer zogen. Sanne war ihm ein einziges Mal begegnet, und es war zu keinerlei Auseinandersetzung gekommen.
Trotzdem war es wohl besser, damit zu warten, ihre Mutter anzurufen, bis sie eines Tages mehr Energie übrig hatte, dachte Sanne nun. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, falls Henry dranginge. Falls es ihre Mutter selbst wäre, wäre es nicht viel besser. Und sie würde es nicht aushalten, wenn sie sich nach so langer Zeit wieder wegen allem und nichts in die Haare gerieten.
Sanne war müde und hungrig. Gleichzeitig merkte sie, dass die wohlbekannte innere Unruhe sich ankündigte.
Sie versuchte, sich selbst etwas aufzumuntern, um diesem Gefühl hoffentlich besser entgegentreten zu können. Die SOS-Reisen, bei denen sie in Not geratenen Skandinaviern auf der ganzen Welt half, boten ihr sowohl sinnvolle Arbeit als auch ein vernünftiges Einkommen. Es war eine gute Reise gewesen. Es war ihr gelungen, der jütländischen Familie in Laos bestmöglich zu helfen. Der Mann, der unglücklicherweise zu dicht an eine der unzähligen kleinen Streubomben gekommen war, die die Amerikaner während des Vietnamkriegs so reichlich auf das Land hatten rieseln lassen, war schnell behandelt und mit ihrer Hilfe in eins der führenden Krankenhäuser des Nachbarlands überführt worden. Der Spezialist im Krankenhaus in Bangkok erklärte ihnen, dass der Patient ein typisches Opfer der ›Bombies‹ war. Er würde den Fuß und den untersten Teil des Beins verlieren, aber überleben. Sanne hatte die Familie unmittelbar ins Krankenhaus gerufen und über die relevanten Details ausgefragt. Und nach dem psychologischen Rapport hatten sowohl das Ehepaar als auch die Kinder ihre Krisenhilfe angenommen und davon profitiert. Sie hatten zu weiteren Einrichtungen Kontakt aufgenommen, die Behandlungen ohne Warteliste anboten und die der Familie zur Verfügung stehen würde, sobald sie nach Dänemark zurückgekehrt war. Im Flugzeug hatte sie ihren vollständigen Bericht geschrieben und ihn kurz nach ihrer Landung in Kastrup an SOS International geschickt. Ihre Aufgabe war damit erledigt und sie konnte in Ruhe auf ihr Honorar warten. Und der Tag war, wie jedes Mal, wenn sie von einer SOS-Tour zurückkam, völlig klientenfrei.
Doch die innere Anspannung ließ sich leider nicht so einfach verdrängen. Sie überlegte, eine Schlaftablette zu nehmen und ins Bett zu gehen.
Wenn sie ausgeruht war, hatte Sanne das Gefühl, mit fast allem fertig werden zu können. Da war nicht viel anderes als die Tragödie mit Sara, die sie quälte. Ohne ausreichenden Schlaf fühlte sie sich oft so schwach und hilflos, dass sie sich wünschte, sie wäre nie Psychologin geworden, und dass ihr ausnahmsweise mal geholfen werden müsste. Sie sollte am besten bald Kontakt zu G. S. aufnehmen, wenn sie auch versuchen würde, Sara aus den Gesprächen rauszuhalten. Einen Augenblick erinnerte Sanne sich an die Wochen, in denen ihr klar wurde, dass ihr Betreuer von ihren Mutter-Kind-Verlust-Problemen genug hatte.
»Deine Tochter wurde neun Monate alt, du hast ein Jahr lang ununterbrochen getrauert und von ihr gesprochen. Wann gedenkst du mit dem Bluten aufzuhören?«, hatte G. S. Sanne unumwunden gefragt, als sie ihm in Tränen aufgelöst von Saras Tod und ihren eigenen wilden Fantasien erzählt hatte. Und bereits eine Woche später sagte er: »Sanne, ich weiß, dass du es besser weißt. Es ist Zeit, von einem verlorenen Objekt auf ein lebendiges überzugehen.«
Was hatte G. S. sich vorgestellt? Sollte sie sich ein kleines Meerschweinchen kaufen? Seine international berühmte Abhandlung über »Die Geschichte der Bestialität aus Psychiatrischer Perspektive« war auf jeden Fall keine Garantie für ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen bei seiner klinischen Arbeit.
War seine Frage ein Ausdruck von Professionalität, Ungeduld oder Zynismus, dachte Sanne nun. Vielleicht eine Mischung aus allem. G. S. selbst war kinderlos, genau genommen unfruchtbar, nachdem er ein mumpsverwandtes Testikelproblem missinterpretiert und ignoriert hatte.
G. S. interessierte sich vor allem für den Einfluss der Kindheit auf die Gefühle, die Gedanken und den Grad der Reife eines Erwachsenen, wohingegen Kinder selbst ihn nicht besonders beschäftigten.
Wenn es um Sannes eigenes kleines Mädchen ging, durfte nicht einmal G. S. ihr vorschreiben, was sie tun musste oder sollte, egal, wie viel Zeit vergangen war. Es sollte ihr erlaubt sein, in Frieden zu leiden, ohne das typisch leere Geschwafel ihres Fachs über die Krise als Wendepunkt hin zu einem intensiver wahrgenommenen und authentischer gelebten Leben. Solange es ihr passte, würde sie weiterhin ihr stummes Ja nicken und aufstehen, wenn ihr Leid ihr andeutete, dass sie bis in alle Ewigkeit miteinander tanzen würden.
War es bloß das Nachhausekommen, das ihr immer schwerer wurde und sie einfach umzuwerfen drohte? Warum konnte sie sich nicht einfach entspannen und genießen, zu Hause zu sein?
Der Anrufbeantworter des Festnetztelefons war voller Nachrichten von Freunden, Einladungen von Bekannten, zwei neuen Anfragen von Privatklienten, abgesehen von G. S., der dabei war, eine neue Vorlesungsreihe für die Sigmund-Freud-Gesellschaft zu planen. Der Fokus lag auf den unterschiedlichen Auffassungen über den Lebens- und Todestrieb, ausgehend von Freuds Schriften über Eros und Thanatos. Würde Sanne am 23. Juli etwas dazu vortragen wollen? Es könne auch gerne ein Beitrag mit einem persönlichen Twist sein. Und die letzte Nachricht kam von ihrem besten Freund Jack, der mit ihr heute Abend zu einer Vernissage und anschließend in einem neuen Schwulenrestaurant essen gehen wollte, aber die Nachricht war bereits über eine Woche alt.
Sie hatte nicht die Kraft, auf irgendetwas davon jetzt zu antworten. Einen Augenblick dachte sie darüber nach, ihre Sporttasche zu packen und trotz des Wetters mit dem Fahrrad zur Fitness World auf Holmen zu fahren, wo sie boxte und ab und zu eine Spinningstunde mit Jack einlegte.
Körperliche Betätigung war ein hervorragendes Mittel gegen innere Unruhe, negative Gedanken und eine lange Reihe anderer Qualen. Sanne trieb selbst so oft wie möglich Sport und empfahl es all ihren Klienten, wenn sie nur meinte, dass es auch nur den kleinsten Effekt haben könnte. Trotzdem ließ sie sich jetzt einfach aufs Sofa fallen.
Über ein Jahr lang waren Hass und Trauer gleichzeitig da gewesen. Weder wollte noch konnte sie die Trauer loslassen, denn ließ sie sie los, war es ihr, als verlöre sie dadurch den letzten Kontakt zu Sara. Und was dann? Der Hass hingegen … Sie spürte zwar, dass sie nicht den Rest ihres Lebens damit zubringen konnte, aber noch war sie einfach nicht bereit, Samuel die Alkoholfahrt zu vergeben, die Sara das Leben gekostet hatte.
Sanne versuchte es noch mal mit den TV2 News. Ihre Ahnungen wurden bestätigt: Møller war am Mordfall in der Kinderbastion dran, der Reporter brachte mit einem breiten Lächeln seine Hoffnung auf eine baldige Aussage von »einem der führenden Mordermittler des Landes« zum Ausdruck.
Wer weiß, ob er noch einmal versuchen würde, seine Klauen in sie zu schlagen. No way, sie würde nicht darauf eingehen. Zwar hatte ihre Doktorarbeit das Thema »Tod und der Sterbende« behandelt, aber weder die Abhandlung noch der amerikanische Täterprofilingkurs machten aus ihr eine Kriminalpsychologin. Ihr Hauptgebiet war und blieb Traumatologie und alles, was mit Krisen- und Katastrophenpsychologie zu tun hatte.
Dass sie im Rahmen der Verlängerung ihres Lehrauftrags an der Polizeischule bei einer Reihe ernsthafterer Verbrechen hinzugezogen und zuletzt von der Mordkommission auf Beraterbasis angestellt worden war, änderte nichts an der Sache. Wie gerne Møller sie auch ins Boot der Mordkommission holen wollte, für sie war das Vergangenheit.
Møller war ehrlich gesagt der Letzte, auf den sie jetzt Lust hatte, allein schon der Gedanke an ihn regte sie auf. Møller war gleichzusetzen mit … ja, in der Tat in erster Linie mit einer Toten. »Ich möchte dich bitten, die Dinge zu differenzieren«, sagte Sanne ab und an zu ihren Klienten, was tatsächlich oft schon half. Sie selbst konnte das nicht, wenn es um die Gefühle ging, die Møller in Gang setzte. Zusammen wurden Leid und Trauer in einen mächtigen Ringer verwandelt, der sie wie ein kleines, hilfloses Opfer zu Boden warf.
Wenn es auf dieser Welt etwas gab, was Sanne nicht sein wollte, dann ein Opfer. Oder auch nur wehrlos. Ich bin eine Überlebende, schärfte sie sich wieder und wieder selbst ein, wenn sie Sara nicht mehr in ihren Armen spüren konnte.
»Herr, gib mir Kraft, durch diesen Tag zu kommen«, hörte Sanne sich plötzlich selbst murmeln, zu ihrer eigenen großen atheistischen Verblüffung.
Sie stand auf und ging in den Flur. Vor dem Spiegel frischte sie ihre Lippen mit rosa Lipgloss auf. Das helle, schulterlange Haar band sie zu einem kleinen Pferdeschwanz, was ihr Gesicht offener und zugänglicher machte. Der Concealer überspielte die Müdigkeit unter ihren Augen.
Sie musste jetzt raus auf die Straße. Sie brauchte dringend etwas zu essen und Sex.