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Mads Højlund raste auf seinem Fahrrad durch Kopenhagens Straßen. Wie konnten sie ihm das antun? Er wollte weg von dem Ganzen, nicht nur von der Winterkälte und den unerträglichen Frauen in der Kinderkrippe in Christianshavn. Ebenso von den ständig besorgten Eltern, ihrem Verhätscheln der Kinder, weg von der ganzen verfickten Gesellschaft. Es war ihre, nicht seine. Sogar Nick, mit dem er sich eine Wohnung in Nørrebro teilte, und zu dem er jetzt auf dem Weg nach Hause war, war unerträglich geworden und pisste ihn an – zuletzt mit seinen rücksichtslos lärmenden Gästen, einer Horde Aktivisten, deren Stimmen rund um die Uhr durch Mark und Bein drangen. »Zu Hause«? Auf gewisse Weise war dieses Wort für einen Erwachsenen noch sonderbarer als für ein Kind. Nein, er gehörte nicht in diese Scheißstadt, in der sich genau jetzt irgendwelche Politiker, überreiche Wirtschaftskapitäne und protestierende Jugendliche aufhielten; ein weiterer hoffnungsloser Versuch, die Welt daran zu hindern, Amok zu laufen.

Mads gab auf seinem Fahrrad erneut Gas. Dänemark, gut und gerne fünf Millionen Menschen, in einer lächerlichen Umfrage wieder einmal zur Heimat des »glücklichsten Volks der Welt« ernannt, in der nun alle Medien schwelgten. Wonach hatte man sie gefragt? Wie waren ihre Antworten aufgefasst worden? Wo versteckte das glücklichste Volk der Welt all sein Glück? Vielleicht im Hafen, der den prahlenden Behörden zufolge so sauber war, dass man problemlos darin schwimmen könne. Nur vergaßen sie zu erwähnen, dass das Wasser nur zwei, drei Monate im Jahr warm genug zum Baden war, und dass das Hafenbecken nach jedem größeren Regenschauer von ertrunkenen Ratten geflutet wurde. Reine Selbstzufriedenheit, typisch dänisch, dachte Mads, just bevor er das Nationalmuseum erreichte und scharf nach rechts schwenkte, die Rådhusstræde hinauf in Richtung Nørreport Station.

Nein, das Großstadtleben hatte bestimmt nicht mehr dieselbe Anziehungskraft wie vor vier Jahren, als er den Hof seiner Eltern verließ und mit einem Rucksack voller Träume vom Land in die Stadt zog. Weder übertriebene noch unerreichbare Träume hätte man meinen sollen: ein eigenes Heim, ein süßes Mädchen, ein passabler Job.

In Wirklichkeit hielt er es in Kopenhagen nicht mehr aus. Und schon gar nicht nach der heutigen Demütigung in der Kinderkrippe. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, war völlig absurd. Er stand da, mitten im Toilettentraining mit Klein-Ida auf dem Töpfchen und der großen Ida auf der Kindertoilette. Und da steckt die Leiterin plötzlich ihren Kopf herein und erzählt ihm, quasi so nebenbei, dass er nicht mehr allein mit den Kindern sein dürfe, wenn er ihnen die Windeln wechselt, sie gewaschen würden, oder man ihnen erklärte, wie man auf die Toilette geht. Oder in anderen vergleichbaren Situationen, die als »potentiell intim, sexuell, oder auf andere Weise grenzüberschreitend« gedeutet werden könnten. Klein-Ida kicherte und streckte sich begeistert nach ihm, die große Ida sang. Es habe so viele Geschichten mit Pädophilievorwürfen gegeben, fuhr die Leiterin fort.

Mads stand bereit, um den Kleinen zu helfen, erstarrte aber.

Jetzt sollte er zum Teufel noch mal überwacht werden.

»Nimm es nicht so persönlich, Mads, du siehst ja fast aus wie jemand, der einen Geist gesehen hat.«

»Ich finde, das ist sehr weit hergeholt.«

»Das gilt für alle, nicht nur für dich.«

»Gilt das auch für dich?«

»Nein, für alle Männer, meine ich.«

»Aber hier gibt es doch keine anderen Männer außer mir.«

»Nicht jetzt, aber wir suchen ja … vielleicht wird das eines Tages auch für Frauen gelten. Das sind nur vorbeugende Maßnahmen.«

»Willst du stehenbleiben und dabei zuschauen, wie ich die Kleinen fertig mache?«

»Hör auf, aus allem ein Problem zu machen, Mads. Ich wollte es nur vor meinem Freizeitausgleich gesagt haben. Jetzt weißt du jedenfalls, wie es aussieht.«

Dann war die Leiterin gegangen. Erst aus dem Raum, dann aus der »Kinderbastion«, während Mads die Kleinen abwischte. Die vorbeugenden Maßnahmen traten erst später am Tag in Kraft, als die Stellvertreterin kam. Die Leiterin und einige Freundinnen wollten für ein paar Tage zum Weihnachtsshopping nach London.

Warum nannte man die Dinge eigentlich nie beim Namen? Warum sagten sie nicht einfach, dass Männer gefährlich waren und dass er als Mann ein Sicherheitsrisiko darstellte?

Weil es in der Kinderkrippe nicht mehr Männer gab, galt das selbstverständlich nur ihm. Kein erwachsener Mann würde sich damit abfinden, verdächtigt zu werden, nur weil er seiner Arbeit nachging. Das konnte sich nur in einer reinen Frauenwelt abspielen, oder wie immer man das auch nennen wollte.

Unmittelbar vor Nørreport musste Mads hart bremsen, doch die glatte Straße ließ ihn direkt weiter geradeaus schlittern, hinein ins Chaos, das sich plötzlich vor ihm auftürmte – ein Wirrwarr aus Demonstranten, Beamten, Schildern, Schutzschilden, Visieren, gezogenen Schlagstöcken, laut bellenden Schäferhunden und dem widerlichen Geruch von Pfefferspray.

»Nehmt sie fest!«, hörte Mads eine Stimme kommandieren, während er kurzzeitig den Druck von Fuß- und Handbremse nahm, um gleich darauf wieder zuzudrücken. Das Fahrrad blieb stehen, aber Mads flog über den Lenker, der beständig wachsenden Menschenreihe entgegen, die die Beamten in Kampfkleidung gerade formten, eine akkurat arrangierte, gleichmäßige Linie mitten auf der Fahrbahn. In einer Nanosekunde führte ihn die Erinnerung zurück zu den Märklinzügen seiner Kindheit, es blitzte die Dänische Bahngesellschaft auf, bevor Mads sein Fahrrad in Zeitlupe und begleitet von den Sirenen der Einsatzfahrzeuge gegen einen Würstchenwagen schleudern und die Knüppel der Polizeibeamten auf die flüchtenden Demonstranten runterhageln sah – all das, während er selbst auf die panische Menschenmenge zuflog.

Mads landete auf einem rothaarigen Mädchen, das offenbar keine glückliche Dänin war, denn sie schrie in einem nicht sehr glücklichen Ton »fascist pigs«, einen Augenblick bevor sie, infolge von Mads’ nicht unerheblichem Gewicht sowie der Knüppel der Ordnungsmacht, mit den Schneidezähnen und dem Gesicht auf den Straßenbelag knallte und bewusstlos wurde. Mads registrierte gerade noch eine schwedische Flagge, einen Greenpeace-Sticker und eine Art Zugangskarte, die an ihrem Anorak baumelte. In roter Handschrift stand da etwas mit Alma. Unmittelbar darauf spürte er die Kraft der Polizeiknüppel auf seinen eigenen Schulterblättern, den Geruch von Pfefferspray, das in seinen Augen und seiner Kehle brannte, danach den Polizeigriff, der seinen 85 Kilo schweren und 1,90 Meter großen Körper so leicht, als wäre er eine Schneeflocke, ans Ende der Reihe hievte, ein weiterer Waggon in dem anscheinend endlosen Zug der Festgenommenen.

Während Mads einer Leibesvisitation unterzogen und mit auf dem Rücken gefesselten Händen hingesetzt wurde, verstand er, der Worte sonst liebte, zum ersten Mal die Bedeutung des Begriffs »das globale Dorf«. Ohne ein anderes Ziel zu haben, als nach Hause zu kommen und sich den Schmutz des Tages abzuwaschen, war er plötzlich ein Teil genau dieses Dorfes geworden. Er hatte immer davon geträumt auszureisen und Teil einer größeren, fremden Gruppe zu werden, doch bisher hatte er seinen Traum nicht verwirklicht. Nie zuvor war er mit so vielen unterschiedlichen Menschen aus so verschiedenen Ländern zusammen gewesen wie in diesem Gefangenenzug der Polizei. Erst mit dem Gipfeltreffen hier im Dezember war in Dänemark ernsthaft der Winter eingebrochen. Jetzt breitete sich die eisige Kälte vom Bürgersteig über seinen Hintern in alle Glieder aus, seine Zähne klapperten, sodass er sich auf die Zungenspitze biss, und seine Finger waren so gefühllos vom Frost, dass Mads dachte, sie könnten in Wirklichkeit auch genauso gut amputiert sein; Teufel aber auch, dass er die gefütterten Schweinslederhandschuhe vergessen hatte, als er wie ein verwundetes Tier geradezu aus der Kinderbastion geflüchtet war.

Die Leute rieben sich immer noch die Augen, husteten inzwischen aber etwas weniger, der Pfefferspray war also offenbar in die Uniformtaschen zurückgekehrt. Selbst die bellenden Schäferhunde hielten das Maul, jetzt wo in Mads’ Teil der Reihe Ruhe herrschte. Lediglich die Einsatzfahrzeuge stießen nach wie vor infernalischen Lärm aus, wenn sie vorbeidonnerten, anscheinend in alle Richtungen, mit blinkenden Lichtern und laut heulenden Sirenen. »Where are you from?«, schrie ein Beamter Mads plötzlich an. »I was born in Little Skensved«, übersetzte Mads, so gut er konnte, und dachte, die englische Anrede müsse seinem kurzen, dunklen Bart geschuldet sein, der auf Ersuchen der Eltern ebenfalls ein Punkt auf der Tagesordnung der Kinderkrippe gewesen war; ein Bart konnte offenbar Brutstätte für alles sein, von Läusen bis hin zu bösen Absichten, hier wahrscheinlich das Merkmal eines Selbstmordattentäters. »Where?«, rief der Beamte weiter. Erst jetzt bemerkte Mads, dass es eine Frau war, die sich hinter dem Visier verbarg. »Ich komme aus dem verdammten fucking Dänemark, und ich bin auf dem Weg nach Hause von der Arbeit, ich wohne in Nørrebro.«

Zu Mads’ großer Überraschung teilte die Beamtin ihm mit, dass er gehen dürfe. Vielleicht hatte sie seine großen, blauen Augen gesehen. Ein Friseur hatte Mads einmal gesagt, dass sie seinem Gesicht etwas Mildes und Unschuldiges verliehen. Auf jeden Fall half die Beamtin ihm, die Kabelbinder zu entfernen, er kam auf die Beine und hielt Ausschau nach seinem Fahrrad. An den Mannschaftswagen, die bereitstanden, um die Leute wegzufahren, hatten sich lange Schlangen gebildet. Dann entdeckte er sein Fahrrad, das halb unter den Würstchenwagen gerutscht war. Mads befreite es und stellte fest, dass es, abgesehen von einem leicht wackeligen Vorderreifen, auf wundersame Weise unbeschädigt geblieben war. Der Heimweg konnte fortgesetzt werden.

Mads schwang sich auf den Sattel und trat in die Pedale. Das Letzte, was er sah, bevor er weiter auf die Frederiksborggade fuhr, war das rothaarige Alma-Mädchen, das auf einer Bahre in den Krankenwagen geschoben wurde.

Aqua Mortis

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