Читать книгу Aqua Mortis - Carsten Nagel - Страница 3
ОглавлениеProlog
Als die Frau erwachte, schrie eine Möwe über ihr. Der Ätherlappen war weg. Der scharfe Geruch hing ihr noch in der Nase. Sie war immer noch durstig. Abgesehen vom Schrei des Vogels war der Gestank des Betäubungsmittels das Erste, das sie registrierte, während sie langsam zu sich kam.
Es fiel ihr schwer, mit dem Klebeband auf dem Mund Luft zu bekommen; auch durch die Nase bekam sie wegen des Schlags auf diese und der Erkältung, die sie sich eingefangen hatte, keine Luft.
Sollte sie das Risiko eingehen und die Augen öffnen? Soviel wusste sie: Wenn sie aufsähe, käme der Ätherlappen. Allein der Gedanke hielt sie zurück. Sie konnte nicht mehr nachzählen, wie viele Male er sie seit der Entführung betäubt hatte.
Aber wo war sie?
War er in der Nähe?
Und was würde sein nächster Schachzug sein?
Sie war an Händen und Füßen gefesselt, die Arme hinter dem Rücken. Auf ihren Beinen und ihrem Körper lagen irgendwelche losen Schnüre. Die Unterlage, auf der sie lag, war hart und uneben. Ihre Glieder waren eingeschlafen und teilweise ohne Gefühl.
Sie lauschte. Vögel … das Geräusch schwappenden Wassers … der Atem des Mannes!
Sie hielt die Luft an und hoffte, dass er nicht näher kommen würde. Er schien mehr außer Atem zu sein als sonst. Er mühte sich mit etwas ab. Seine Lungen rasselten, als wenn er neben dem Schuppen, der seit ihrer Entführung ihr Gefängnis gewesen war, Brennholz hackte.
Sie spürte, dass ihre Hose im Schritt feucht war. Hatte er sich an ihr vergangen, als sie noch betäubt war? Hatte er irgendeine Art von Instrument benutzt? Es half nicht, darüber nachzudenken. Sie spürte etwas Kühles. Wasser. Sie lag auf dem Boden eines Bootes mit Wasser, das in kleinen Bewegungen hin und zurück schwappte. Waren die Schnüre auf ihren Beinen ein Fischernetz? Die Bewegungen des Wassers waren die Bewegungen des Entführers.
Das Boot konnte nicht groß sein. Vielleicht nur eine Jolle, die einen der vielen sommerlichen Regenschauer abbekommen hatte.
Der Mann hantierte ein paar Meter von ihr entfernt an etwas herum. Es klang, als ob er etwas in Gang zu setzen versuchte. Sein zufriedenes Grunzen erreichte sie gleichzeitig mit dem ekligen Geruch, der sie sofort in Panik versetzte: der Ätherlappen zum allerletzten Mal. Aber dann… Das war kein Äther, das war Benzin.
Wollte er sie mit Benzin übergießen, die Jolle von Land stoßen, sie als lebende Fackel benutzen? Würde sich endlich Zufriedenheit in ihm breitmachen, während er ihr endgültiges Ende beobachtete?
Es folgte ein metallisches Klirren, danach das Gluckern einer Flüssigkeit, die von einem Behälter in einen anderen geschüttet wurde. Während er wahrscheinlich Benzin in den Außenbordmotor füllte, mit dem er sich abgequält hatte, versuchte sie, ihre Hände loszuwinden, mit dem einzigen Resultat, dass sich ein Splitter in ihre Hand bohrte.
Ein Splitter, also eine Holzjolle, sicherlich älteren Datums, das wusste sie nun. Wissen war jetzt alles, ihre einzige Waffe.
Eine Plastikschöpfkelle schaukelte gegen ihre Hüfte. Das Geräusch eines Streichholzes, das entzündet wurde. Dann der wohlbekannte Pfeifenrauch mit Vanillegeruch.
Sie hasste Vanille.
Das Boot bekam einen Ruck versetzt, als der Motor startete. Die Jolle setzte sich in Bewegung und glitt durch das Wasser. Der Seegang war ruhig, sie mussten sich in einer Art Hafen befinden. Die Kelle schlug sachte gegen ihr rechtes Knie.
Stimmen? Ihr Entführer sprach mit einem anderen Mann! Sie schielte zu dem Mann am Außenbordmotor hinüber, versuchte sich aufzurichten, den Körper zu drehen, damit ihr Kopf oder auch nur ein Fuß hinter der Reling zum Vorschein kamen. So dicht an einer möglichen Befreiung war sie bisher nicht gewesen. Aber auf dem Boden des Bootes konnte sie sich genau so wenig bewegen wie in der Aalreuse, in die er sie jede Nacht ihrer Gefangenschaft gezwungen hatte.
»Kabeljau und Schollen, vielleicht sogar ein Steinbutt … und zu den Reusenpfählen.«
Ihr Bewacher sprach, ohne dabei die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Der Motor gewann an Kraft, die Stimmen erstarben.
Bald würde sie nicht mehr sein. Möglicherweise würde sie zum letzten Mal richtig sehen. Vorsichtig schlug sie die Augen auf. Der Himmel war grau und blau gefärbt, schöner als je zuvor. Im Boot um sie herum lagen Fischernetze und Bojen mit weißen Flaggen, auf ihren Beinen befand sich, ganz richtig, ein Netz. Möwen kreisten über ihnen in der Hoffnung auf ein leichtverdientes Mahl.
Würde er sie dem Meer opfern, sie an die Pfähle binden und in Fischfutter verwandeln?
Ihr Körper protestierte, versuchte, Macht über die Dinge zu gewinnen, sie rollte vor und zurück, wodurch sich ihre Bewegungen auf das Boot übertrugen und der Motor knurrte.
»Na, du bist wach, jetzt dauert es nicht mehr lange. Wir müssen nur noch ein wenig weiter hinaus, dann bist du frei. Zappeln nützt nichts. Denk an etwas Schönes, denk an … die kleine Meerjungfrau!«
Sie konnte immer noch nicht über die Reling sehen, sie sah nur ihn und den Himmel. Er wendete ein wenig den Kopf und spähte hinaus, sodass der große schräge Halsmuskel, einem unüberwindbaren Widerstand gleich, hervortrat. Eine Ader pochte schwach, aber rhythmisch auf seiner Schläfe. Als er von der Meerjungfrau sprach, klang das wie von außen eingegeben. Auf einmal wusste sie, dass sie dabei waren, den Kopenhagener Hafen zu verlassen. Plötzlich ließ er die Ruderpinne los, ließ den Motor Motor sein, stand auf, ging fast singend auf sie zu:
»… The Little Mermaid … Die kleine Meerjungfrau … La Petite Sirène …« Sie beeilte sich, die Augen zu schließen, wusste aber, dass sie für ihren Blick würde bezahlen müssen; es blieb keine Zeit mehr, bald würde sie im Dampf des Äthers entschwinden, er beugte sich erneut über sie … Aber nein.
Mit einer schnellen Bewegung riss er ihr das Klebeband vom Mund.
»So soll dein letzter Tag nun auch nicht aussehen«, sagte er, bereits auf dem Weg zurück zum Außenbordmotor.
Das Boot machte eine Wende und schlug nun stärker gegen die Wellen. Das monotone Klopfen des Motors verwandelte sich in ein konstantes, niemals aufgebendes Klagen, die Jolle schob sich weiter, entfernte sich mehr und mehr vom Land.
Jedes Mal, wenn sie aus dem Ätherrausch erwacht war, überrascht darüber, noch am Leben zu sein, hatte sie den Erstickungstod gefürchtet, wegen der verstopften Nasenlöcher und des viel zu strammen Klebebands auf ihrem Mund.
Nun kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass der Tod durch Ersticken vielleicht gnädig gewesen wäre im Vergleich zu dem, was sie erwartete.
War sie dabei aufzugeben? Unschädlich gemacht auf dem Boden der alten Jolle, wusste sie nicht, wogegen sie ankämpfen sollte.
Eine Welle spritzte über den Steven, der Motor brummte, das Boot stieg und fiel hart zurück, sie schlug mit dem Nacken auf.
Während der Schmerz sich in Kopf und Schultern ausbreitete, erinnerte sie sich an das wenige, was sie über den Tod durch Ertrinken gelernt hatte.
Das Ganze war so furchtbar. Doch in dieser Furcht keimte Trotz auf. Sie konnte jetzt nicht sterben, schon gar nicht mit ihm, als letzter Akt seiner wahnwitzigen Vorstellungen! Sie musste kämpfen, nicht nur für sich selbst, sondern für ihr kleines Mädchen und alle kleinen Mädchen. Sie musste alle Mittel einsetzen, sich nicht brechen zu lassen, was auch komme.
Wenn möglich würde sie den Mann am Steuer erschlagen.
Aber was konnte sie schon tun, verschnürt und gefesselt wie sie war? Ohne Waffe und mit einem Körper, der bald nicht mehr konnte.
Nur die Sprache war ihr geblieben. Und selbst die war immer wieder bedroht. Durch ein beschissenes Stück Klebeband!
Sie sah wieder auf. Trotziger, immer trotziger betrachtete sie den Pfeife rauchenden Mann, der so viel Übel verursacht hatte.
»Ich will mit dir reden«, sagte sie. »Es gibt etwas, das du wissen solltest.«