Читать книгу Aqua Mortis - Carsten Nagel - Страница 15
Оглавление12
Mads lag ausgestreckt auf seiner Pritsche im Vestre-Gefängnis.
Im Augenblick gaben sich die Miseren einander die Klinke in die Hand. Woher zum Teufel hätte er auch wissen sollen, dass Martin Judo-Experte war?
Der Kampf hatte nur wenige Sekunden gedauert, dann lag Mads auf dem Boden vor dem Eingang zum Traumazentrum des Rigshospitals. Der nun von der Pritsche im Vestre abgelöst worden war.
Die Füße ragten ein wenig über die Pritsche hinaus, weil Mads so groß war. In den ersten Tagen war er den Raum mehrmals abgeschritten. Das Ergebnis war jedes Mal das gleiche. Die Zelle maß acht Quadratmeter.
Er wäre gerne den Tisch, den Stuhl, und den Schrank losgeworden, um mehr Platz zu haben, aber das war nicht möglich. Er hatte den nettesten der Gefängniswärter um Erlaubnis gefragt – sie wurden richtig sauer, wenn er sie so nannte – an jenem Tag, als sie ihm den Fernseher wegnahmen, weil Tange, der Staatsanwalt und irgendein neuer Richter beschlossen hatten, dass er in Isolationshaft solle.
Das Waschbecken wollte er natürlich behalten, weil er die ganze Zeit pinkeln musste, und hinterher musste er sich schließlich die Hände waschen.
Der Kühlschrank gab ein störendes, brummendes Geräusch von sich, während er die Temperatur runterfuhr. Dann wurde er ganz still. Auf die Tafel wollte er unter keinen Umständen verzichten. Es war viel einfacher, dem Puzzlespiel in seinem Hirn zu folgen, wenn er es verlagerte, sich auf die Pritsche legte und sich die unsichtbaren Teilchen auf der Tafel vorstellte. Jetzt gerade waren die meisten verschwunden, aber sie würden schon wieder auftauchen, wenn er sich nur konzentrierte und seine Gedanken verdichtete. Gerade war seine wichtigste Aufgabe, die Teilchen zu finden und sie richtig zu platzieren, sodass er das Ganze selber verstehen und denen erklären konnte, damit sie ihn freiließen und ihm eine gute Reise nach Hause nach Lille Skensved wünschten.
Dann würden sie auf die Jagd gehen, er und sein Vater!
Bevor Tange und Richter Nummer zwei beschlossen hatten, dass Mads in Isolationshaft überführt werden sollte, hatte er mit seiner Gehirnerschütterung auf der Krankenstation des Vestre-Gefängnisses gelegen. Das waren einige gute Tage gewesen, weil es ein etwas angenehmerer Ort als die Zelle war. Außerdem hatte er sich das Zimmer mit Jens geteilt, einem kleinen, rothaarigen Kerl, der ihm erzählte, er stamme aus Südjütland, »so dicht dein Arsch an die Grenze kommen kann, ohne ein deutscher zu sein.«
Mads vermisste Jens.
Jens war gerade der Blinddarm entfernt worden, als sie sich begegneten. Er litt auch an einer Krankheit, die ADHS hieß, gegen die er Pillen bekam, eine Art Speed, das ihn im Zaum halten sollte, was es glücklicherweise nicht tat, sagte er. Jens wurde nie des Redens müde und konnte alles Mögliche erzählen, sowohl über das Gefängnis als auch die Welt da draußen.
Jens sagte Mads, dass er nicht traurig sein solle über all das, was über ihn geredet wurde, weil drei andere Männer sich gemeldet und den Mord an der kleinen Ida Thompson gestanden hätten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich alle bei Mads entschuldigen und ihn freilassen und ihm eine Menge Schmerzensgeld zahlen würden.
Mads war so erleichtert und froh gewesen, dass er seine Gehirnerschütterung vollständig vergaß, aus dem Bett gehüpft und im Zimmer umhergesprungen war. Die Krankenschwester hatte leider um Hilfe gerufen und das Personal sah sich gezwungen, ihn zu seiner eigenen Sicherheit am Bett zu fixieren.
Am Tag darauf waren die Riemen wieder entfernt worden. Die Krankenschwester schlug vor, dass Mads und Jens aufstehen und ein paar Schritte gehen sollten.
Mads war ein wenig schwindelig geworden, aber es war dennoch schön, auf den Beinen zu sein, und es fiel ihm erstaunlich leicht, Jens zu stützen, der wegen seiner Operationswunde wie ein alter Mann vorneübergebeugt ging.
»Hast du Kinder?«, erkundigte sich Jens. »Ein Baby, das mit irgendjemandem zu Besuch kommen könnte?«
»Nee, habe ich nicht«, sagte Mads. »Aber ich denke darüber nach, bald eins zu haben.«
»Shit«, sagte Jens und erklärte, dass Babys der beste Weg seien, um Stoff reinzuschmuggeln. Das Personal checkte zwar die Windeln, aber noch waren es nur die Erwachsenen, denen man zur Kontrolle einen Finger in die Möse und die halbe Hand in den Arsch steckte.
Etwas später sagte Jens, dass er eine schlechte Nachricht habe. Die Polizei habe gerade eine Pressekonferenz abgehalten und gesagt, dass von »falschen Geständnissen« die Rede sei. So etwas passiere leider oft, wenn eine Sache so stark in den Medien ausgeschlachtet würde, wie der Mord an Klein-Ida.
Und am Mittwoch war Mads auf den Titelseiten aller Zeitungen. Jens malte mit der linken Hand in der Luft, während er die Überschriften überflog: »Mörder gefangen«. »Bestie hinter Gittern«. »Meister der Perversion«.
Mads stellte sich vor, was sein Vater wohl dachte. Es war nicht auszuhalten. Und seine Mutter! Sie wäre vor Traurigkeit krepiert. So betrachtet war es sogar besser, dass das Krankenhaus sie auf dem Gewissen hatte.
Jens sah ihm an, wie mies es ihm ging, und er versuchte, ihn zu trösten. Er erzählte so voller Begeisterung vom Grenzland, dass Mads es geradezu vor sich sah und Lust bekam, ein Teil davon zu werden. Die Menschen und ihre Sprachen dort vermischten sich und liefen kreuz und quer über die Grenze, all das Fremde und Neue glänzte so hell, all das Fantastische, das vor ihm lag und nur auf ihn wartete.
»Sollen wir nicht dort runterfahren?«, fragte Mads.
»Das geht nicht«, antwortete Jens, »die Mauer ist vier Meter hoch. Wie zur Hölle sollten wir hier rauskommen?«
»Darüber muss ich nachdenken«, sagte Mads.
Am Tag darauf wurde er zurück in seine Zelle verlegt, und dann folgte die Isolation, wo er weder fernsehen noch mit anderen Menschen sprechen durfte. Jetzt stand Mads ganz ehrlich kurz davor, von all dem ziemlich genervt zu sein.
Den Wärtern zufolge, die ihm das Essen brachten und ihm auf die Toilette folgten, wenn er scheißen musste, war er nun schon seit drei Monaten im Gefängnis, die meiste Zeit davon in Isolationshaft.
Mads war sich nicht ganz sicher, ob er ihnen vertrauen konnte, aber wenn das stimmte, arbeiteten die Polizei und die Anklage ziemlich langsam. Vielleicht hatte die Mentalität der Ermittler, die sich erfolglos mit Wohnungseinbrüchen herumschlugen, nun auch die Mordkommission angesteckt.
Garantiert war dieser Tange, dieser pedantische Vernehmungsleiter, daran schuld, dass er immer noch eingesperrt war.
Es war auf jeden Fall nicht die Schuld seiner Anwältin, sie hatte getan, was sie konnte. Sie konnte ja nichts dafür, dass die anderen ihr nicht zuhörten.
Mads verstand nicht alles, was sie sagte, sie kam auch nicht so oft, aber es war trotzdem schön, wenn sie es tat, weil sie gut roch, ein wenig wie seine Mutter, wenn sie alle zusammen zu einer Silberhochzeit oder Konfirmation gegangen waren.
Und Mads verstand jedenfalls, dass seine Anwältin sowohl gegen die Isolation als auch gegen die Zwangsmedikation protestiert hatte.
Die Pillen machten es ihm unmöglich, die Teile seines Puzzlespiels zu finden und zusammenzusetzen. Glücklicherweise gelang es ihm oft, sich vor der Einnahme zu drücken.
Die Anwältin hatte auch etwas darüber gesagt, dass Mads in eine psychiatrische Abteilung überstellt werden sollte, ansonsten bestehe das Risiko, dass er irgendein Syndrom entwickeln würde, aber darüber waren sich die Ärzte des Vestre-Hospitals nicht einig. Das Gefängniskrankenhaus könne leicht sowohl somatische als auch psychiatrische Krankheiten behandeln, und er betonte, dass Mads nicht aktiv geisteskrank sei.
Aktiv, passiv, was machte das für einen Unterschied, dachte Mads, während einer weiteren Vernehmung, in der er Tange etwas über Rechtssicherheit und »den Arzt unterstützen« sagen hörte: »Das Vestre-Hospital und -Gefängnis haben sehr viel Erfahrung mit Simulanten.«
»Simulanten«. Mads verstand ausgezeichnet, dass das nicht gerade von Vorteil für ihn war, er war ja nicht dumm, aber abgesehen davon war »Simulant« eigentlich ein ganz hübsches Wort.
Im Übrigen hatte er auch keine Lust, in irgendeiner psychiatrischen Abteilung zu landen, er wollte nur aus dem Gefängnis raus.
Kurze Zeit später war das Ganze überstanden, und er war wieder in seiner Zelle mit der Anschlagtafel.
Von Møllers Unschuld musste ausgegangen werden, bis das Gegenteil bewiesen war. Er war bewusstlos gewesen, als sie die Rampe zum Eingang des Traumazentrums des Rigshospitals runterfuhren.
Wenn sie ihn nur mit Møller reden ließen, würden sie beide einen Ausweg aus alledem finden. Sie waren so gut in Gang gekommen, bis es vor der Kinderbastion zu schneien begann.
Martin war Schuld daran, er hatte ihn im Stich gelassen und zu den anderen gehalten, als es wirklich darauf ankam. Okay, Mads hatte ihn geschubst, aber er hatte doch bloß abhauen wollen. Und Judo? Was zum Teufel bildete Martin sich eigentlich ein!
Tange war garantiert hauptverantwortlich und der eigentliche Drahtzieher. Vermutlich steuerte er sowohl die Richter als auch die Ärzte in ihrem Kadavergehorsam, so wie er auch die Verhöre leitete.
Tange war sich seiner Sache so sicher. Wenn sogar die Verteidigerin darauf bestand, dass es an Beweisen mangele. Mads verstand nicht, wie Tange so überzeugt davon sein konnte, dass er Klein-Ida getötet hatte. Er wiederholte es bis zum Erbrechen und versprach Mads obendrein noch, dass, wenn er alles zugab und ›die Karten auf den Tisch legte‹, er aus seiner Isolation entlassen würde und Zugang zu Fernsehen, Internet und sozialer Zusammenkunft mit den anderen Insassen im Gefängnis bekäme.
Mads konnte sich gut vorstellen, wieder mit Jens zusammen zu sein. Aber was waren das für Karten, von denen Tange da redete? Mads hatte doch keine Karte. Und wie sollte er das Ganze erklären können, wenn er Tange nicht vertraute, und auch nicht wusste, ob dieser die Wahrheit überhaupt verstehen würde.
Wahrheit, das klang so einfach. Aber wer war aufrichtig, wer spielte falsch, was war richtig und was verkehrt? Betrug und Täuschung, das war es, der ganze Scheiß!
Tange glaubte, er könne Mads mit seinen hochtrabenden Drohungen und kalten, stechenden Schweinsaugen Angst einjagen. Doch das konnte er nicht.
Dass Tange Schweinsaugen hatte, störte Mads mit der Zeit immer weniger. Das würde es so viel einfacher machen, ihn zu schlachten.
Wenn er nur nicht so schrie wie die Ferkel, wenn sie kastriert wurden. Diese Art von Schreien war nicht auszuhalten, und wenn sie erst von einem erwachsenen Mann kämen – Mads wollte sich das nicht vorstellen. Nun, wenn es nicht anders ging, musste man ihm halt einen Lappen in den Mund stopfen.