Читать книгу Aqua Mortis - Carsten Nagel - Страница 6
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Mit langen, zielstrebigen Schritten umkurvte Mads die Ecke an der Jægersborggade und kam so zum Jagtvej. Von dort aus nahm er direkten Kurs auf den Kiosk am Nørrebro Kreisverkehr, wo er sechs Tuborg Gold kaufte, die man ihm in einer Plastiktüte überreichte.
Die Leute gingen dem großen Mann instinktiv aus dem Weg, der auf dem Gehweg vor dem Kiosk ein Bier mit dem Kronkorken eines anderen öffnete und in großen, gierigen Schlucken trank, bevor er wieder dahin zurückging, wo er hergekommen war. Niemand, der ihn sah, zweifelte daran, es mit einem wütenden, jungen Mann zu tun zu haben, der jedes Hindernis aus dem Weg räumen konnte und wollte.
Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Jægersborggade, lag der Jagtvej-Eingang zum Assistens Kirkegård. Dort bog Mads ein und befand sich gleich darauf auf dem Weg, der sich durch den ganzen Friedhof schlängelte – vom Jagtvej am einen bis zum Kapelvej am anderen Ende.
Jægersborggade – Jagtvej – Kapelvej. Mads folgte dem dunklen Pfad, während er die Worte auskostete: Jäger, Jagd, Kapelle, Bumm, das klang fast wie ein Gedicht, dachte er und orientierte sich an den großen, schlanken Pappeln, die den Weg säumten und ihre langen, dunklen Schatten über die Ruhestätten der Toten warfen.
Seine Worte hatten einen sonderbar versöhnlichen Klang, der Mads ein neues Gefühl von Geborgenheit, Konsequenz und Ordnung gab.
Etwa in der Mitte zwischen Jagd und Kapelle, ein Stück abseits des Wegs, setzte Mads sich auf eine Bank, abgeschirmt von einer Ligusterhecke, die immer noch grün war. Eigentlich ist es unglaublich, dachte er, während er sich ein neues Bier aufmachte, was Pflanzen aushalten können. Und manchmal auch Menschen und andere Tiere. »Fast imponierend«, murmelte er und prostete sich selbst zu. Der Hopfen wirkte schon und tat gut in der kalten Dunkelheit.
Eigentlich konnte er doch tun, was er wollte. Niemand zwang ihn, in der Kinderkrippe zu bleiben. Auch nicht bei Nick und all seinen lärmenden, idiotischen Bekannten. Oder in fucking Kopenhagen.
Von nun an würde er von dem Moment, da er zur Arbeit kam, bis er nach Hause ging, überwacht und verdächtigt werden. Mit Ausnahme von morgen früh. So kontrollsüchtig waren trotz allem weder die verklemmten Pädagogen noch die emsigen Helikoptermütter, dass sie eine Stunde früher aufstehen würden, um ihn beim Öffnen der Kinderkrippe zu beaufsichtigen.
Dass jemand sowas überhaupt denken konnte … und noch dazu von ihm, der Kinder und Alte so sehr mochte, dass er alles für sie tun wollte. Pädagogische Hilfskraft, das war auch so ein Frauenquatsch, was hatte er sich dabei gedacht, der Job war ein großer Fehler gewesen, es lief völlig falsch.
Die anderen Männer in der Krippe hatten schon früher aufgehört, jetzt war er dran. Ja, er würde sich aus dem Staub machen, wenn die Weihnachtsferien begannen. Dann konnten alle Pädagogikdamen und Eltern ihren Kindern selbst den Hintern abwischen. Es war so dumm und ungerecht. Am Anfang liebte er seine Arbeit, die Kinder mochten ihn, und er sie.
Jetzt aber musste er hier weg.
Er wollte reisen, war sich aber nicht sicher wohin, nur weg. Vielleicht rüber nach Schweden, zum Alma-Mädchen? »Ein jeder muss auf die Wahrheit hinleben.« So fasste Nick eine von Søren Kierkegaards Ideen zusammen, nach ihm war Nick ganz verrückt, er konnte stundenlang über Kierkegaard reden. Der alte Philosoph lag ebenfalls hier auf Assistens, nicht allzu weit von H. C. Andersen. Auf die Wahrheit hin … Hin und zurück war der Weg gleich lang. Vielleicht sollte er sich zuerst wieder auf dem Land einleben, wo er schlafen und atmen konnte, ohne dass die Augen brannten und alles nach Pfefferspray roch. Ja, an und für sich konnte er damit anfangen, seinem Vater einen Besuch auf dem Hof abzustatten. Tabula rasa machen. Es gab genug zu sagen und zu tun.
Es war nur schade, die Kleinen zu verlassen und sie ihren Eltern und dem restlichen Personal zu überlassen. Am liebsten wollte er alle Kinder mitnehmen, aber das konnte er natürlich nicht. Er musste sich etwas anderes überlegen. Ja. Er würde jeden Jungen und jedes Mädchen lange und fest umarmen, und wenn es auch schwer werden könnte, sie alle ganz loszulassen, würde er ihnen in seinem Inneren Lebewohl sagen und nie mehr wiederkommen.
Ein Schatten näherte sich von der Kapelle. Den Lichtflecken mitten auf dem Weg nach zu urteilen musste es sich um einen Fahrradfahrer handeln. Nun war er so nahe, dass Mads den Umriss eines Mannes erkennen konnte. Und nun bemerkte auch der Mann Mads hinter dem Liguster, tat aber sofort so, als hätte er ihn nicht gesehen. Das Fahrrad fuhr extra schnell. Das »Hej«, das Mads auf der Zunge lag, wurde kalt in seinem Hals, während der Fremde vorbeifuhr und sein Rücken kleiner und kleiner wurde, um letztlich ganz im Dunkeln zu verschwinden.
Es störte Mads nicht mehr so sehr, wenn die Leute vor ihm Angst hatten, er hatte sich daran gewöhnt. Wurde es zwischendurch dennoch zu schlimm, öffnete er sich einfach für die Stimme seiner Mutter, das half normalerweise. »Der Schein trügt«, sagte sie bereits, als er in die Pubertät kam und raketenartig in die Höhe schoss. »Die Menschen glauben sonstwas, dabei bist du in Wirklichkeit ein so gutmütiger Schrank.«
An diesem Abend halfen die Worte seiner Mutter allerdings nicht, im Gegenteil. Diese Stimme war eine Erinnerung an den Tod und damit der vierte Fluch des Tages. Ein Fluch, weit schlimmer als die Kinderkrippe, der arschkalte Gefangenenzug und der Lärm in der Wohnung, denn dieser Fluch währte ewig. Dem Tod seiner Mutter konnte er nichts entgegensetzen. Oder konnte er? War es wirklich unwiderruflich vorbei, oder konnte er irgendetwas tun, was ihren Tod ausglich, jetzt, da die Trauer nicht länger jegliche Handlung lähmte, sondern nur noch in seinem Körper steckte und ihm Übelkeit bereitete?
Mit seinen Gräueltaten hatte das ganze verdammte und wohlhabende Dänemark mit dem »besten Gesundheitssystem der Welt« seiner Mutter das Leben genommen. Sie in ein Bett in einem Vorraum ohne ordentliche Beobachtung gelegt, anstatt auf den Operationstisch, der ihr das Leben hätte retten können, wenn sie nicht aussortiert worden wäre. Weil sie nur die war, die sie war: eine ärmliche, ausgelaugte, in die Jahre gekommene Hausfrau, noch dazu vom Land.
Auf gewisse Weise hatte er seinen Vater im Stich gelassen, als die Mutter starb, indem er selbst kurze Zeit später nach Kopenhagen zog. Sein Vater hatte Mads dennoch unterstützt, es war nur natürlich, dass ein junger Mann von zu Hause weg und sich die Hörner abstoßen musste. Ja, er hatte ihn im Stich gelassen. Er konnte sicher seinem Vater auf dem Hof helfen, bis er sich über einige Dinge mehr im Klaren war. Wenn die täglichen Pflichten auf dem Hof erfüllt waren, konnten sie vielleicht sogar gemeinsam auf die Jagd gehen.
Mit Eiskristallen in seinem kurzen, dunklen Bart biss Mads den Kronkorken von dem letzten wohlverdienten Bier.
Alles war in Auflösung begriffen, jede Ordnung und Rechtschaffenheit verschwunden. Alles und alle betrogen, nichts war so, wie es sich ausgab, Kinderbastion, my ass, warum war man nicht einfach ehrlich und sagte Frauenmacht? Die Kultur war Stück für Stück so weiblich durchsetzt, de facto so feminisiert worden, dass man genauso gut die Konsequenzen daraus ziehen und alle Jungen kastrieren könnte. So wie er und sein Vater, soweit er zurückdenken konnte, zu Hause auf Landlyst jeden Wurf Ferkel kastriert hatten. Zwei Schnitte mit einem Skalpell und weg mit den Testikeln. So kastriert man ein Schwein. Wieviel schwerer konnte es mit einem Jungen sein?
Eine Kastration war nichts Besonderes, jedenfalls wenn man zu zweit war. So verhielt es sich mit den meisten Dingen. Allein verlor man die Freude. Man sollte zu zweit sein, mindestens. Sonst war es vielleicht besser, niemand zu sein.