Читать книгу Aqua Mortis - Carsten Nagel - Страница 9
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Møller wunderte sich. Während seiner mittlerweile vielen Jahre als Mordermittler bei der Kopenhagener Polizei hatte er ja schon so einiges gesehen. Aber wer zum Teufel tötet auf diese Weise ein kleines Mädchen? Mit einer Art Flaschenzug, den Kopf in einem Eimer und mit gefesselten Händen und Füßen – die Hände auf dem Rücken, mit Kabelbindern, wie sie die Polizei benutzte! Nun lag es in einer ungelenken Position auf dem nassen Boden.
Der Tatort war abgesperrt, die unmittelbaren Befragungen durchgeführt, die Institution geschlossen, das Personal in der Küche versammelt, die Kollegen von der Kriminaltechnik unterwegs, aber wegen des Wetters verspätet. Bis auf Weiteres musste Møller sich mit dem jungen Martin Sørensen zufriedengeben, der gerade erst bei der Mordkommission angefangen hatte.
Møller arbeitete die Neuen für gewöhnlich gerne ein. Dieses Mal hatte er jedoch protestiert, da Martin einen langjährigen Assistenten abgelöst hatte. Der Chef der Mordkommission hatte aufgrund von Møllers Weigerung kurz davor gestanden, Tange zu der Sache in der Kinderkrippe zu schicken. Hans Tange, den Stinkstiefel, der rein karrieremäßig mehr damit zu tun hatte, Møller im Nacken zu sitzen als Verbrechen aufzuklären.
Møller hoffte, dass der junge Martin Sørensen nicht allzu smart und forsch sein würde. Auf den ersten Blick erinnerte er mehr an ein keckes Fotomodell als an einen Mordermittler. Aber man musste fair bleiben. Bisher schien Martin ein ausgezeichneter Aspirant zu sein.
Møller wollte schnellstmöglich versuchen, sich einen soliden Überblick zu verschaffen, damit er die unterschiedlichen Mitarbeiter auf die vernünftigste Art und Weise in ihren jeweiligen Bereichen einsetzen und von da an selbst übernehmen konnte.
Unabhängig vom Motiv hinter dem Verbrechen musste es sich um eine wirklich kranke oder gestörte Person handeln. Das war der logischste Ansatz. Es würde Møller sehr überraschen, wenn nicht die eine oder andere Form von Perversion dahinter stünde.
Auf der anderen Seite setzte die ganze Szene wahrscheinlich einen Täter mit einer gewissen gedanklichen Ordnung und Struktur voraus. Auf jeden Fall ausreichend, um detailliert planen und entsprechend handeln zu können.
»Neuigkeiten von den Technikern, Martin?«, fragte Møller im Büro der Leiterin.
Martin Sørensen auf dem Gang steckte seinen Kopf zur Tür hinein. »Ähm, ich rufe die gleich wieder an.« »Schaff auch den Rechtsmediziner her.« »Das habe ich schon versucht. Kein Streifenwagen kann ihn abholen, überall in der Stadt ist der Teufel los. Er kommt mit einem Taxi.«
Es wäre auch schön gewesen, Sanne Berg für eine erste psychologische Einschätzung dabei zu haben, aber sie war wieder irgendwo mit »SOS International« unterwegs; diesmal Laos und Thailand, wie Møller bei »SOS« erfahren hatte. Außerdem hatte sie sich jegliche Form von weiterem Kontakt mit ihm und der Kopenhagener Polizei verbeten, ihn auf eine für sie eigenartige Weise abgewiesen, als er sich das letzte Mal gemeldet hatte. Als wäre sein Angebot einer weiteren guten Beratungsaufgabe etwas Persönliches. Er brauchte ihren Beistand, und wollte ihr gleichzeitig zu einer guten Freelanceaufgabe verhelfen. Was war daran falsch? Nach allem, was sie zusammen fertiggebracht hatten. Møller begriff das nicht. Und gerade Sanne, die sonst so direkt und unumwunden sein konnte. Warum spuckte sie es nicht einfach aus, wenn er etwas Falsches gesagt oder getan hatte? Er hatte sie das letzte Mal, als sie miteinander geredet hatten, geradezu um eine Erklärung angefleht, aber es hatte nichts geholfen. Møller realisierte leicht irritiert, dass Sannes kategorische Abweisung ihn gleichermaßen bekümmerte, wie sie ihm unverständlich war.
»Tag, Møller«, erklang es fast synchron von den zwei Technikern, die endlich aufgetaucht waren.
Møller war erleichtert, es waren erfahrene Kollegen, die wussten, was sie zu tun hatten. Er wies sie kurz ein und sie gingen an ihre Arbeit.
Was wäre Sannes unmittelbare Reaktion gewesen? Wie hätte sie den Tatort interpretiert, die Szene mit dem Eimer, dem Kind und der Hebevorrichtung eingeordnet? Hatte der Täter eine Signatur hinterlassen und was war in dem Fall seine Visitenkarte? Abgesehen von ihren rationalen und analytischen Gaben verfügte Sanne über eine besondere Intuition, aus der schlau zu werden verteufelt schwer war. Gefühle versus Vernunft, hatte er nachsichtig gedacht, als sie zwei das erste Mal zusammengearbeitet hatten. Später hatte er für sich selbst erkannt, dass das, was sie ab und zu spürte, sie tatsächlich oft in die zutreffende Richtung führte. Doch jetzt war es mehrere Jahre her, seit sie zusammen an einem Mordfall gearbeitet hatten.
Eins war sicher: Er würde nicht mehr betteln. Da war die berufliche Ebene, aber er musste auch auf seinen persönlichen Stolz achten. Außerdem waren da Else und die Kinder. Seit dem letzten Schub ihrer Multiplen Sklerose war Else an den Rollstuhl gefesselt. Sie brauchte ihn mehr als je zuvor. Und die Mädchen! Beim bloßen Gedanken an die Mädchen schlug sein Herz schneller. Er sah sie ganz deutlich vor sich, wie sie auf dem Foto in seinem Portemonnaie posierten, ohne dass er es anzuschauen brauchte. Er hatte das Bild letzten Sommer bei ihrem jährlichen Gartenfest geschossen und zum genau richtigen Zeitpunkt auf den Auslöser gedrückt. Hand in Hand lächelten die Mädchen und Else vor dem weißen Schmetterlingsflieder, dessen dichte Sträucher mit ihren süß und würzig duftenden Blüten gerade aufgeblüht waren. Jeanette mit der frisch erworbenen Studentenmütze, ein wenig nach hinten geschoben über dem langen, blonden Haar. Das Nesthäkchen Eva, mit hellen Locken, unschuldig, und die Überraschung ihres Lebens. Møller und Else hatten beide geglaubt, dass Else aus diesem Alter raus war. Und jetzt war Eva gerade elf geworden. Auf dem Foto guckte sie fasziniert und erwartungsvoll zu ihrer großen Schwester auf, als würden ihre großen, hellblauen Augen sowohl »Herzlichen Glückwunsch« als auch »und eines Tages bekomme ich auch so eine Mütze« sagen.
Møller hielt es für sehr wahrscheinlich, dass es sich bei dem toten Mädchen um das Kind handelte, das am Vorabend verschwunden war. Es hatte unter der Abdeckung auf der Ladefläche des Lastenrads seiner Mutter geschlafen, sicher an seinen Sitz gegurtet, während die Mutter bei 7-Eleven einen Liter Joghurt kaufte.
Die ganze Nacht hatten die Kollegen nach dem Mädchen gesucht, ohne Ergebnis. Zugegeben, dachte Møller verärgert, es hatten nicht viele Beamte zur Verfügung gestanden, fast alle Kräfte waren eingesetzt worden, um während des internationalen Gipfeltreffens Ruhe in der Stadt zu gewährleisten. Und mindestens genauso schlimm: Die Notrufzentrale hatte zunächst irrtümlicherweise verstanden, dass es sich um eine Anzeige wegen eines gestohlenen Fahrrads handelte – was es auch war, denn das Fahrrad war weg, als die Mutter aus dem 7-Eleven kam – und sie den Angaben zufolge betrunken und hysterisch gewirkt hatte, als sie in den Hörer rief: »Mein Fahrrad ist weg, was habe ich getan, ich wollte doch nur ein bisschen Joghurt, mein Fahrrad wurde gestohlen, ihr müsst mir helfen, sofort«, während sie unzusammenhängend von ihrer Tochter und ihrem Exmann zu reden begann. Drei Mal hatte sie angerufen; die ersten beiden Male wurde sie angewiesen, ein Formular im Internet auszufüllen und sich eventuell persönlich am folgenden Werktag an die Station Amager zu wenden, bevor die Verbindung unterbrochen wurde. Erst beim dritten Versuch war es beiden Seiten gelungen, einander zu verstehen.
Nach einer letzten Runde in der Kinderbastion nahm Møller im Büro der verreisten Leiterin Platz, abgeschirmt vom schlimmsten Theater. Die Stellvertreterin hatte vier oder fünf Mal in Tränen aufgelöst wiederholt, dass die Leiterin der Einrichtung in London sei. Vermutlich war es Zufall, aber unter diesen Umständen wichtig zu notieren.
»Bring den jungen Mann wieder herein«, sagte Møller und fuhr sich, wie vor jeder wichtigen Befragung, mit der linken Hand durchs Haar.
»Yes, Sir«, antwortete Martin energisch und führte breit grinsend eine Art Salut aus, bevor er verschwand.
Møller folgte ihm mit den Augen, bis er weg war. Was war falsch, mit »Ja« oder »Jawohl« oder »Wird gemacht« zu antworten? Glaubte Martin, dass sie in einem englischen TV-Krimi mitspielten? Naja, vielleicht war er einfach ein bisschen ausgelassen. Møller würde es nur ansprechen, falls es sich wiederholen sollte, und unter allen Umständen bis später warten, um nicht auf irgendeine Weise ihre heutige Zusammenarbeit zu beeinträchtigen.
Die zwei jungen Männer erschienen in der Tür: Der eine stand vor einer ziemlich vielversprechenden Karriere bei der Polizei, der andere befand sich wahrscheinlich auf direktem Kurs in eines von Dänemarks Gefängnissen.
»Ja, ich würde gerne noch einige Worte mehr mit dir wechseln«, erklärte Møller Mads und wies mit einer Handbewegung auf einen Stuhl, sodass sie einander schräg gegenübersaßen. Besser das Ganze freundlich und ruhig angehen und sehen, wohin es führte, anstatt ihn gleich während der ersten Befragungen einzuschüchtern. Møller deutete Martin mit einem Nicken an, dass er sich rechts neben ihn setzen sollte.
Møller betrachtete Mads, der sich fast zum Stuhl tastete und sich nur vorsichtig hinsetzte. Er wirkte jetzt eher konfus und verwirrt als eigentlich schockiert. Da war etwas Zerbrechliches an dem großen, jungen Mann, der nicht viel älter als Jeanette sein konnte. Mörder? Noch ein verlorener armer Kerl in einer verrückten Welt? Beides? Bis auf Weiteres fiel es schwer, nicht ein klein wenig Mitleid mit ihm zu haben. Es würde wohl lange dauern, bis der junge Mann wieder er selbst wäre.
»Ich würde gerne so viel wie möglich über das Ganze erfahren, Mads. Es handelt sich ja um ein sehr ernstes Verbrechen. Sicherlich auch eine schlimme Erfahrung für dich und die anderen.«
»Das ist wie ein verwirrender Film«, sagte Mads, dessen Blick durch den Raum irrte. »Ich glaube nicht, dass ich mich überhaupt konzentrieren …«
Er verstummte und sah auf den Schreibtisch.
»Jetzt gehen wir das Ganze von Anfang an durch, vielleicht wird es dann weniger verwirrend. Was hast du getan, bevor du heute Morgen hierher kamst?«
»Ich habe geschlafen.«
»Wann bist du aufgestanden?«
»Das muss gegen sechs gewesen sein.«
»Wann bist du ins Bett gegangen?«
Mads dachte nach und merkte, wie er errötete, als er nicht antworten konnte. Møller bemerkte die schnell blinzelnden Augenbewegungen des jungen Mannes. Die letzte Frage hatte ihn offensichtlich unter zusätzlichen Stress gesetzt.
»Ich kann mich nicht richtig erinnern«, bekam Mads schließlich heraus.
»Okay, Mads. Was hast du gestern Abend gemacht?«
»Nichts Richtiges … Nachgedacht.«
»Warst du mit jemandem zusammen?«
Mads schüttelte den Kopf und sah zum Fenster. »Ich kann am besten alleine nachdenken.«
»So geht es mir auch. Warst du zu Hause?«
»Nein, ich bin spazieren gegangen. Ich habe mich auf eine Bank gesetzt und nachgedacht.« »Kannst du dich erinnern, welche Bank, wo?«
Mads blickte schnell in Møllers Richtung, dann ließ er seinen Blick wieder durch den Raum wandern, zu Martin, zum Fenster und wieder zu Møller. »Es klingt komisch, aber ich war auf dem Assistens Kirkegård. Es ist weil … Ich wohne gleich nebenan und bin gerne dort. Es ist ja nicht länger ein richtiger Friedhof, jedenfalls nicht ausschließlich, es ist ja fast schon ein Park.«
»Was hast du zu dieser Zeit auf dem Friedhof gemacht?«
»Ich habe dort gesessen und nachgedacht und … Ich habe dagesessen und ein paar Bier getrunken«, fügte er an Martin gewandt hinzu.
»An einem kalten Winterabend hast du dagesessen und ein paar Bier getrunken?«, fuhr Møller fort.
»Ich wollte nur die Zeit totschlagen.«
»Die Zeit totschlagen?«
»Ich meine, da war so viel Lärm, ich hatte Kopfschmerzen… Mir geht es nicht so gut«, fügte Mads hinzu.
Møller merkte, dass das auch für ihn galt. Sonst gingen ihm Verbrechen nicht mehr so an die Nieren. Doch heute war ihm schwindelig und ein wenig übel. Vielleicht war die Grippeepidemie im Anflug, die er bisher hauptsächlich als eine Mischung aus Hysterie und Marketingstrategie von Seiten der Pharmaindustrie angesehen hatte.
»Trink ein Glas Wasser, das hilft normalerweise«, schlug er Mads vor, und signalisierte Martin mit einer Handbewegung, allen einzuschenken.
»Ich will nur sichergehen, dass ich dich richtig verstehe«, sagte Møller zu Mads. »Es ist klar, dass du jetzt unter Schock stehst. Aber sagtest du, dass gestern Abend Lärm in deinem Kopf war?«
»Nein, eher in der Wohnung, oder … beides. In der Wohnung waren alle möglichen Menschen, und die ganze Zeit laute Musik, jemand schrie und lachte. Ich habe nur versucht, Ruhe zum Nachdenken zu finden.«
»Okay, zu der Wohnung kommen wir später. Hast du auf dem Friedhof mit jemandem geredet?«
»Nein. Ich sah ein Licht in der Dunkelheit, und dann den Schatten von … ich glaube, es war ein Mann. An mehr kann ich mich nicht erinnern, bis zu … der Sache heute Morgen.«
»Nicht so schnell, Mads. Ich möchte gerne hören, woran du an so einem dunklen und kalten Abend beim Rumsitzen gedacht hast.«
»An alles Mögliche.«
»Du hast über Dinge nachgedacht. Welche Dinge?«
»Nein, vielleicht eher über Menschen.«
»Menschen?«
»Ja, an etwas in der Art Vater, Mutter, Kind. Ich dachte an meine Mutter und meinen Vater … die Kinder hier.«
»Du dachtest an die Kinder hier?«
»Ja, auch an sie.«
»Was dachtest du?«
»Sie taten mir ein wenig leid.«
»Warum?«
»Ich fand es traurig.«
»Was war traurig?«
»Das Ganze. Wir sollen uns bald verabschieden. Ich verreise zu Weihnachten, das will ich ja selber. Aber es tut trotzdem weh, und ich kann es nicht ertragen, mir vorzustellen, dass es vielleicht auch ihnen wehtut und es somit auf gewisse Weise meine Schuld ist. Und dann … Plötzlich stehe ich mit einem Messer in der Hand da, der Kopf steckt im Eimer fest, und …«
»Und?«
»Dann bin ich mit der Stellvertreterin zusammengestoßen. Ist sie okay?«
»Einigermaßen«, nickte Møller. »Sie wird schon wieder. Sie war es, die Alarm geschlagen hat.«
»Was ist denn passiert?«
»Sie hat nur ein paar Haare verloren und steht unter Schock, aber ansonsten ist ihr nichts passiert. Du hast dir den Kopf am härtesten angeschlagen und bist vermutlich ohnmächtig geworden.«
»Stell dir nur mal vor … Ida«, hörte man eine aufgeregte Stimme draußen auf dem Gang. »Dem Schwein sollten sie den Schwanz abschneiden.«
»Wir sind gezwungen, dein Alibi zu überprüfen«, fuhr Møller fort.
Tränen rannen Mads’ Wangen hinab. Wie konnten sie glauben, dass er … Schluchzend vergrub er sein Gesicht in seinen Händen. Møller sah die roten, striemenähnlichen Abdrücke an den Handgelenken, wollte aber nicht gerade jetzt danach fragen.
»Was ist mit denen, die sauber machen? Das sah mir aus wie Wischwasser«, schluchzte Mads. »Vielleicht gibt es Spuren auf dem Mopp. Der Vorsitzende des Elternbeirats ist auch manchmal abends hier. Und ich habe jemanden oben auf dem Wall gesehen, ich glaube, es waren Langzeitarbeitslose … oder vielleicht Obdachlose.«
»Wir werden das Ganze untersuchen«, sagte Møller.
Er wartete einen Augenblick, bevor er Mads eines der Papiertaschentücher reichte, die er immer zu diesem Zweck mitbrachte. Bloß kein Stress. Bei einer Befragung war es, wie in allen anderen Situationen des Lebens, letztendlich war es besser, den Leuten die Zeit zu geben, die sie brauchten.
Martin hatte gut Farbe im Gesicht bekommen, sagte aber glücklicherweise nichts und verhielt sich zurückhaltend.
Møller räusperte sich, Mads trocknete sich die Augen und blickte auf, während er das Taschentuch in seiner rechten Hand zerknüllte.
»Du hast das Mädchen also gefunden«, sagte Møller. »Und du kennst es?«
»Ja, das ist … Klein-Ida.«
»Klein-Ida. Ida Thomsen?«
»Ja«, antwortete Mads so leise, dass die Stimme der Stellvertreterin aus der Küche zu ihnen drang und ihn fast übertönte: »Ich will nicht mehr, dieser Ort, das ist zu viel, und sie ist in London, ich kann nicht mehr.«
»Gibt es auch eine große Ida?«, fuhr Møller fort.
»Die große Ida«, nickte Mads. »Sie wird fast immer von dem philippinischen Au-Pair gebracht und abgeholt. Aber an ihren Nachnamen kann ich mich nicht erinnern.«
»Du hast heute die Bastion geöffnet und …«
»Kinderbastion.«
»Ja, und wie lange warst du allein? So ungefähr.«
»Ich glaube … vielleicht eine Viertelstunde.«
»Was hast du hier als Erstes gesehen?«
»Den Sandsack … Also, es war ja keiner, auch keine Elfe, aber ich dachte zuerst … Nein, falsch, als erstes bemerkte ich, dass die Tür nicht verschlossen war, dann etwas, was von der Decke hing, ich konnte nur nicht erkennen, was es war, bevor …«
»Bevor?«, wiederholte Møller so freundlich wie möglich und versuchte, ihm da durchzuhelfen.
»Ja, also, bevor ich das Licht einschaltete, und dann … Ida? Ich habe sie erst gar nicht erkannt, ich wusste nicht, dass sie das war. Zunächst stand ich nur da. Dann versuchte ich, sie hochzuheben. Ich habe es nicht geschafft. Ich lief in die Küche, um ein Messer zu holen, ich kann mich fast nicht mehr dran erinnern.«
»Du hast sie da runtergeholt, nicht wahr?« »Ja, selbstverständlich, das musste ich, das war so … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Du hast die Handschuhe anbehalten?« »Die Handschuhe«, sagte Mads und drehte und wendete seine Hände, als würde er erst jetzt entdecken, dass er sie noch immer trug. »Ich … Ja, das habe ich wohl.«
»Wir müssen dich bitten, sie uns zu geben«, sagte Møller.
Mads streifte sie ab, Martin Sørensen nahm sie entgegen und legte sie in eine durchsichtige Plastiktüte. Mads verfolgte den Weg der Handschuhe mit den Augen.
»Warum hast du nicht 112 angerufen?«, fuhr Møller fort.
Mads richtete sich ein wenig auf. Zum ersten Mal sah er Møller direkt in die Augen.
»Oft kommt ihr sowieso nicht, wenn man euch anruft. Ich habe von mehreren Einbrüchen gelesen, wo die Polizei überhaupt nicht …«
»Okay, Mads, du hast wohl Recht damit, dass es da Probleme geben kann, aber das lassen wir mal beiseite. Wir konzentrieren uns auf heute Morgen, okay? Wollen wir uns darauf einigen?«
»Ja, das stimmt.«
»Warum hast du das getan?«
»Was getan?«
Die Panik in Mads’ Stimme war nicht zu überhören, die Frage versetzte ihn eindeutig in Unruhe. Møller sprach gefasst weiter. »Sie dort runtergeholt.«
»Ich wollte das … sie nur befreien.«
»Hast du überhaupt nicht daran gedacht, auf uns zu warten?«
»Ich konnte es nicht ertragen, den Kopf in dem schmutzigen Wasser«, sagte Mads.
»Ja, ja«, sagte Møller. »Die Techniker sind nicht wirklich begeistert. Sie werden einige Proben nehmen, auch von dir. Und du musst mit auf die Wache und eine detailliertere Aussage abgeben.«
Mads nickte, Tränen traten ihm wieder in die Augen, er murmelte: »Klein-Ida, ihr Kopf … die Mütze … Entschuldigung.«
»Ähm, ich glaube, er steht unter Schock«, flüsterte Martin Møller zu.
Nebenan in der Küche hatte die Stellvertreterin wieder angefangen, laut zu weinen. »Die Krisenhilfe ist unterwegs«, hörte Møller jemanden beruhigend auf sie und den Rest des Personals einreden.
»Ich glaube übrigens, dass es ein Seil aus Randers war, Randers Reb«, sagte Mads wie in Trance.
Eine der Erzieherinnen klopfte an und öffnete die Tür. Neben ihr stand eine ältere, dickliche Frau, die einen scheuen Eindruck machte. Sie hielt einen Teller in der Hand.
»Ja, Entschuldigung, dass wir stören, ich bin Pernille und das ist Marie, unsere Köchin, sie wollte nur …«
Mit einem kleinen, freundlichen Schubs bugsierte sie Marie über die Türschwelle und weiter in den Raum hinein. Die runde Brille konnte nicht die tränennassen Augen der kleinen Frau verbergen, als sie zu Mads ging und den Teller mit Brötchen und Käse vor ihm hinstellte.
»Versuch jetzt ein wenig zu essen, ich weiß ja, dass du zu Hause nie was bekommst«, sagte sie.