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Der Wind peitschte die gefühlte Temperatur auf minus 15 Grad hinunter, obwohl das Thermometer nur ein paar Grad unter Null anzeigte. Martin hatte Probleme mit seinem Auto auf der Amagergade: Das Schloss ließ sich weder über die Zentralverriegelung noch manuell öffnen. Møller schüttelte sich und versuchte, sich warm zu halten, indem er zwischen Martin und Mads, der auf der obersten Treppenstufe vor dem Eingang zur Kinderbastion wartete, hin und her lief. »Verfluchte Wartung!«, rief Møller in Martins Richtung aus. »Ja, das ist fast wie bei der Dänischen Bahn«, antwortete Martin. »Die Dänische Bahn? Wovon redest du?« »Der Winter kommt für die Dänische Bahn auch immer überraschend«, sagte Martin.

»Junge und betrunkene Menschen ...«, dachte Møller, begnügte sich aber damit zu brummen: »Geht es weiter, oder was?« »Ja, ja«, antwortete Martin und kämpfte weiter mit dem Schloss.

Møller spürte ein leichtes Ziehen in den Muskeln, sein Nacken schmerzte, kein Zweifel mehr, dass eine Grippe im Anflug war.

Die feuchte Luft verwandelte sich in kleine Tropfen, während das Personal nach und nach die Kinderbastion verließ. Die Krisenhilfe fand nun nicht mehr in der Bastion, sondern in der Stadt statt.

Ein Mann parkte seinen Lieferwagen und näherte sich mit langen Schritten. Møller kam es vor, als schielte er zu Mads hinüber, der nicht so aussah, als wollte er sich von seinem Platz auf der obersten Treppenstufe rühren; in den Augen aller war Mads längst so gut wie verurteilt. Als er näher gekommen war, nickte der Mann Møller und Martin freundlich zu und sagte: »Gibt es ein Problem, kann ich helfen?«

»Nein danke, es klappt schon«, antwortete Martin.

Marie, die Köchin, tauchte in der Tür auf, immer noch erschüttert und in Tränen aufgelöst. Mads machte ihr Platz.

»Frederik, endlich!«, rief sie beim Anblick des Mannes erleichtert aus und eilte die Treppe hinunter.

»Mutter«, sagte der neu Dazugekommene und zog sie liebevoll, fast beschützend an sich. »Ich werde jetzt auf dich aufpassen.« An Møller gerichtet fuhr er fort: »Meine Mutter ist nicht ganz … Sie ist sehr sensibel und nicht so stark.«

Møller nickte, Marie und ihr Sohn nickten zurück, ihr Gesicht zeigte ein kleines, dankbares Lächeln.

Gut, dass es noch Leute gibt, die sich umeinander kümmern, dachte Møller, der als Mordermittler oft gesehen hatte, wie soziale Ausgrenzung weniger starke Menschen isolieren und lähmen konnte.

Kurz darauf verschwanden Marie und ihr Sohn im Lieferwagen und fuhren weg.

Immer noch auf der obersten Stufe stehend, drehte Mads seine Handflächen nach oben und hielt beide Arme in die Luft, sodass er Møller einen Augenblick lang an die Christusfigur erinnerte, die er und Sanne Berg vor zweieinhalb Jahren auf dem Gipfel des Corcovado in Rio de Janeiro gesehen hatten. Die Christusfigur war das Markenzeichen von Rio und ganz Brasilien. Für Møller war sie zum Symbol für all das Gute geworden, das sie beide während des FBI-Profilingkurses in den USA und ihrem anschließenden, heimlichen Urlaub in Südamerika erlebt hatten. Abgesehen von all den anderen Dingen, die sie beide verbunden hatten. Fast ein Pakt, der sich jetzt weiter weg anfühlte als je zuvor.

»Il pleure dans mon coeur comme …«, sagte Mads plötzlich mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck.

Er rollte mit den Augen, während er in seiner Erinnerung vergeblich nach einer Fortsetzung zu suchen schien.

»Comme il pleut sur la ville«, vervollständigte Martin mit einem schnellen Blick auf Mads, bevor er weiter das Schloss bearbeitete.

Møller glotzte einen Augenblick lang vom einen zum anderen, ihm wurde immer schwindeliger. Was zur Hölle bekamen die heutzutage auf der Polizeischule beigebracht? Und: Woran dachte Mads, wie kam er auf sowas? Was bedeutete das, warum sagte er sowas gerade jetzt?

»Ja, es regnet überhaupt nicht«, fuhr Mads fort, in seiner Position fast erstarrt, die Hände zu beiden Seiten ausgestreckt. »Es schneit, verdammt noch mal! Was heißt Schnee noch mal?«

»Neige«, antwortete Martin, ohne vom Schloss aufzusehen.

»Ist französische Poesie heute ein Fach an der Polizeischule?«, sagte Møller in Martins Richtung, aber in einem Ton, aus dem der junge Polizeiassistent heraushören konnte, dass es sich nicht um eine Frage handelte, sondern eher um die Aufforderung, still zu sein.

»Im Gymnasium«, erläuterte Mads, dessen Blick einen Moment lang aufzuleuchten schien, bald darauf jedoch von einer Dunkelheit dahinter getrübt wurde.

»Was?«, hakte Møller nach. »Erklär, was du meinst.«

»Mein bester Freund in der Schule war Halbfranzose, aber seine Eltern zerstritten sich, Michel und seine Mutter zogen zurück nach Frankreich und …«

»Und was?«, fragte Møller weiter.

»Nach der Scheidung traf ich … Verlaine und Rimbaud waren meine besten Freunde auf dem Gymnasium. Insbesondere Arthur.«

»Arthur wer?«, sagte Møller und fühlte sich plötzlich so unendlich müde.

»Rimbaud, selbstverständlich«, antwortete Mads.

»Die Tür ist offen«, rief Martin.

Møller kämpfe gegen die Müdigkeit an, die von einem Zentrum in der Brust ausgehend nun von seinem ganzen Körper Besitz ergriff. Er weigerte sich, sich wegen einer leichten Grippe eventuell wichtige Informationen entgehen zu lassen, aber es fühlte sich an, als ob seine eigenen Worte an seinem Atem festklebten, der sie einfach nicht aus seinem Mund herauslassen wollte. Nur mit größter Anstrengung schaffte er es, seine Frage zu stellen: »Also Arthur Rimbaud … Was ist mit dem?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich kann mich an nichts mehr erinnern«, sagte Mads und blickte zu Boden, während er nun verzweifelt den Kopf schüttelte.

»Wollen wir nicht reingehen?«, fragte Martin.

Mads sah immer noch aus, als wäre er an der obersten Stufe festgefroren. Møller war schwindelig, aber es gelang ihm, Martin ein Zeichen zu geben, Mads auf seinen Platz zu helfen. Er selbst stolperte zum Auto, seine Beine zitterten unter ihm, so etwas hatte er noch nie erlebt.

Die beiden saßen schon drinnen, als es Møller endlich gelang, das Auto zu erreichen und sich auf den Beifahrerplatz zu setzen.

Es knisterte im Radio, Martin lauschte und nahm die Nachricht entgegen. Auf dem Rücksitz kam es Mads vor, als hörte er Møller etwas darüber sagen, dass sie zu einem Hof fahren würden. Einen Augenblick lang sah Mads Landlyst vor sich. So hatte er sich seine Heimkehr und das Wiedersehen mit seinem Vater nicht wirklich vorgestellt.

»Cool«, sagte Martin und sah Møller von der Seite an. »Es sieht so aus, als hätten sie Frau Thomsens Fahrrad in Christianshavns Kanal gefunden.«

»Zum Hof der Polizeiwache«, murmelte Møller mit dem sonderbaren Gefühl, als liefe ein kaltes Feuer seinen Körper auf und ab. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Aqua Mortis

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