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»Danke für letzte Nacht. Gilles«, stand auf dem Zettel, den Sanne auf ihrem Nachttisch vorfand. Das Laken lag zerknüllt neben ihr. Es war 10 Uhr. Sie brauchte Kaffee.

Während Sanne Wasser in den Kocher füllte und einen Filter in dem Trichter über der Thermoskanne platzierte – sie hielt nichts von Kaffeemaschinen, weder von den altmodischen noch von den hypertrendigen –, zappte sie zwischen CNN, BBC World, DR Update und TV2 News hin und her.

Auf den dänischen Kanälen lief überall etwas über den Mord und über Tange. Dann war Møller doch nicht an der Sache dran? Vielleicht war es Tange gelungen, Møller diesmal ins Abseits zu manövrieren. Diese beiden und ihr Kampf um Beförderung! Ursprünglich hatten sie, das jüngste Team der Mordkommission, gut zusammengearbeitet und eine sehr wirkungsvolle Rollenverteilung gehabt. Das »Good cop, bad cop«-Spiel hatte sie bei ihren Ermittlungen weit gebracht und höchsten Instanzen imponiert. Zu irgendeinem Zeitpunkt jedoch hatte der Konkurrenzdruck in der freundschaftlich-kollegialen Zusammenarbeit Oberhand gewonnen. Als Sanne hinzukam, waren die Gegensätze sowohl im Denken als auch bei den Verhörmethoden so frappierend, dass Sanne den Eindruck gehabt hatte, dass diese Rollenverteilung überhaupt keinen professionellen Hintergrund hatte, sondern eher in der Natur ihrer Charaktere lag. Sie konnte Tange nicht ausstehen und zweifelte weiterhin daran, dass seine Aggressionen sich auf das Oral-Sadistische begrenzten, was sich unter anderem daran bemerkbar machte, dass er seine Zähne in alles und jeden schlagen musste, nicht zuletzt in seine stinkende Pfeife und eben auch in andere Menschen, je schwächer, desto besser.

Nun, ihr konnte Møllers und Tanges interner Hahnenkampf ja egal sein, zumindest ließ Møller sie in Ruhe.

Sara, kleiner Schatz … Rein moralisch gesehen hätte sie Møller natürlich von Anfang an einweihen sollen, aber es war einfach zu spät gewesen, und im Übrigen … Sie hatten beide ihren Alltag, er mit seiner Familie und bei der Polizei in Dänemark, sie mit Samuel in den USA, bis er … Schluss jetzt, wie schwer es ihr immer noch fiel, ihren Hass zu kontrollieren.

Sanne goss sich Kaffee ein, er war wie ein guter Freund und fast eine Voraussetzung für den ordentlichen Beginn jedes neuen Tages.

Tange lächelte übertrieben zufrieden vom Flachbildschirm an der Wand. Das war just, bevor die Anmoderation und die Fragen des TV-Journalisten ihn zum Nationalheld ausriefen. Das ganze Land stand nach dem schrecklichen Kindermord in der Kinderkrippe in der Amagergade unter Schock.

Auf dem Anrufbeantworter war eine Absage von Sannes einziger Klientin. Sanne war frei. Wunderbar frei, wenn sie sich entspannen und es genießen konnte. Gefährlich frei, wenn Unruhe und Rastlosigkeit wieder die Macht über sie ergriffen und sie auf eine wilde Flucht in alle Richtungen schickten.

So schön es mit Gilles auch gewesen war, hatte sie weder heute noch morgen vor, ins Lagkagehuset zu gehen, so viel wusste sie.

Sie konnte mit dem Vortrag für die Sigmund-Freud-Gesellschaft anfangen, den GS ihr auf’s Auge gedrückt hatte. Falls sie sich also konzentrieren konnte. Und falls sie ihn überhaupt halten wollte. Warum eigentlich Zeit dafür verschwenden? Mit Eros verhielt es sich für sie ein bisschen wie mit der Philosophie: Er sollte nicht nur studiert, sondern in erster Linie gelebt werden. Und Thanatos … War es nötig, Vorträge über den Tod zu halten, wo er doch ganz von allein kam?

In G. S.’ Welt war das mit Eros und Thanatos natürlich komplizierter. Das war es auch in Sannes, wenn sie sich theoretisch darin vertiefte. Aber es war das Praktische, die wahrhaftige Begegnung mit dem einzelnen Menschen, die ihr das Gefühl vermittelte, Gutes zu tun. Sowohl im Therapiezimmer als auch draußen in der Welt, wo sie gebraucht wurde.

Früher war sie im ganzen Land umhergereist und hatte viel verdient. Die Vorträge brachten ihr Prestige und gutes Geld. Es gab keinen Vorstand oder Führungsstab, vor dem sie nicht schon einmal referiert hatte. Sie war seinerzeit am Höhepunkt ihrer Karriere angelangt, mit fetten Honoraren.

Mit ihren drei größten Erfolgen hatte Sanne das Geld geradezu geschaufelt. Abhängig von der Art des Arrangements und der Teilnehmerzahl lag sie zwischen 30 000 und 40 000 Kronen pro Vortrag. »Kommunikation mit schwierigen Personen« war ein klarer Gewinner, dicht gefolgt von »Dynamische Führung, weck deine Mitarbeiter«, und schließlich »Positive Totalkommunikation von A – Z«.

Bei der Sigmund-Freud-Gesellschaft würde ihr »Eros und Thanatos mit einem persönlichen Twist« höchstens sechs Flaschen Wein von zweifelhafter Qualität einbringen. Sanne hatte aus zwei Gründen mit den Vorträgen aufgehört. Zum einen stand damals der Umzug in die USA bevor.

Zum anderen brachte ihr die Arbeit nichts mehr ein als die Befriedigung einer gewissen Gier, die narzisstische und vollkommen selbstbetrügerische Bestätigung in einer aufs Geld fixierten Kultur: Sieh mich an, so groß bin ich, so viel bin ich wert!

Als ob einige Menschen mehr wert wären als andere, hatte sie da gedacht und darüber sinniert, dass die ›schwierigen Personen‹ – im Gegensatz zur Verteilung des Geldes – einigermaßen gleichmäßig auf die Mitarbeiter und Vorgesetzte, denen sie begegnete, verteilt waren.

Seitdem Sanne aus den USA zurückgekehrt war, hatte sie nicht einen einzigen Vortrag gehalten. Arbeitsmäßig hatte sie sich auf die SOS-Reisen sowie die Betreuung von Mitarbeitern in einer Reihe internationaler Nothilfeorganisationen beschränkt. Dazu einige private Klienten. Staatliche Aufträge nahm sie nicht entgegen, zum einen, weil sie es nicht nötig hatte, aber auch ganz einfach deswegen, weil sie mit allzu viel Verwaltungsaufwand verbunden waren. Alles in allem machte ihr ihre Arbeit Spaß.

Nichtsdestoweniger brachte dieses nomadische Arbeitsleben jene irritierende innere Unruhe mit sich. »Unruhe ist ein Teil des Daseins« sagte sie ihren von eben diesem Zustand geplagten Klienten oft. »Du kannst gerne unruhig sein, das ist ein Zeichen dafür, dass du lebst, Ruhe kommt von selbst, Ruhe findest du im Grab. Jetzt im Moment bist du quicklebendig.«

Sanne wünschte sich jetzt selbst allerdings ein ruhiges Leben, in dem sie nicht nur in die Ferne, sondern auch in sich selbst hinein flüchten konnte. Sie ließ gute Bekannte und zu enge Freundschaften fallen und wollte einfach in Frieden gelassen werden. Bevorzugt auf der Terrasse im Sommer und mit einer Flasche besseren Blubberwassers in Reichweite, der Sapphire aus Bombay konnte gut und gerne Gesellschaft bekommen, wenn nur die Qualität stimmte.

Natürlich konnte jeder Idiot sehen, dass Isolation auf diesem Niveau ein symbolischer Vorgeschmack auf den Tod war. Genauso wie sie mit Gilles einen Vorgeschmack auf einen Augenblick der Nicht-Existenz bekommen hatte. Es war nicht ganz abwegig, wenn die Franzosen den Orgasmus als la petite mort bezeichneten. Genau das war es nämlich letzte Nacht gewesen. Der Körper brannte, das Gehirn wurde zu einer explodierenden Sonne, die sie hinaus in ein wunderbares, befreiendes Nichts katapultierte. Woraufhin dieselbe Sonne sich regenerierte und wieder aufging. Die Morgenröte holte sie zurück, wie neugeboren. Nach der Wiederauferstehung gab es nichts mehr zu diskutieren. Sie wurde, wie andere auch, zu noch einer Runde gepeitscht, mit all der Unruhe und der Leere, die das Leben ausmachten. Vielleicht würde sie sich dieses Blickwinkels bemächtigen, falls sie sich entschied, ja zu dem Vortrag und den sechs Flaschen Rotwein zu sagen, die sie verschenken würde, um nicht eine Runde migräneähnlichen Katers zu riskieren.

Sie musste mit G. S. darüber reden, was er eigentlich erwartete, bevor sie ihre Entscheidung traf. Aber nicht heute, wo sie sich immer weniger selbst spürte und überhaupt keine Idee hatte, was sie mit dem Tag anstellen sollte.

Die polnische Reinigungskraft sollte kommen. Wenn sie sich doch nur krankmelden würde, damit Jack, dem es chronisch an Geld fehlte, für sie einspringen könnte. Doch das tat Krystyna nicht, sie war viel zu pflichtbewusst, um derart spät abzusagen. Sanne hatte oft Lust ihr zu helfen, doch davon wollte Krystyna nichts hören. Stattdessen hatte sie fast immer ihren erwachsenen Sohn dabei, und so arbeiteten sie in der Hälfte der veranschlagten Zeit als ein wohlfunktionierendes und pausenlos miteinander plapperndes Team zusammen. Da wäre sie bloß ein störendes Element.

Wie wäre es mit Training? Nein, bei diesem Wetter? Kleidung aus, Kleidung an, schwitzen, duschen, und so weiter. Von ihrer Terrasse konnte Sanne runter in Jacks bescheidene Wohnung im Sandkagen sehen. Ab und zu erspähte sie ihn im Fenster, von wo aus er schräge Sicht auf den Kanal hatte, wenn er auf dem breiten Fensterbrett saß und schrieb. Vielleicht konnten sie heute frühstücken, wenn ihm nicht die Deadline irgendeines seiner Blogs im Nacken saß oder er vollständig von seinem Ewigkeitsprojekt »Verzweifelte Bekanntschaften« in Anspruch genommen wurde, eine Romanerzählung, die ihn dazu gebracht hatte, die Journalistenausbildung mittendrin abzubrechen.

Sanne ergänzte den Bademantel um ein Halstuch und ging auf die Terrasse. In Jacks Fenster waren nicht einer, sondern zwei Schatten zu erkennen. Sie berührten einander. Vielleicht hatten er und Jesper wieder zusammengefunden, während sie verreist gewesen war. Oder vielleicht war er in der Stadt gewesen und hatte bei jemandem gepunktet, der es nicht so eilig hatte weiterzukommen wie Gilles.

Sanne sog die Wärme auf und murmelte: »Der Ball ist im Tor, doch das Tor ist voller Löcher.«

Die postkoitale Leere war keineswegs Neuland für Sanne, aber das hier war mehr. Es ging nicht um Gilles, den Spaß, den sie zusammen gehabt hatten, die vorübergehende Erlösung und das darauffolgende Gefühl innerer Leere. Es ging nicht um Sex. Auch nicht um ihr vielleicht zu einsiedlerhaftes Arbeitsleben.

Es ging in erster Linie um Sara, und um Sannes Intuition und ihre Gefühle. Das, was G. S. extrasensorische Wahrnehmung nannte, oder einfach nur ESW: eine Art von übersinnlichem Empfinden, das Sanne dazu befähigte, etwas zu erleben, das sich jenseits des Objektiven und unmittelbar Zugänglichen abspielte. Es ging um ihre eigene kleine Sara, die Sam unmittelbar nach dem Unfall hatte beerdigen lassen, während Sanne sich in Dänemark aufhielt, um ihre absolut letzte und – wie sie nun wusste – gleichgültigste Vortragsreihe mit dem Titel »Kommunikation mit schwierigen Personen« abzuschließen.

Warum hatte man sie nicht gleich nach dem Unfall informiert? Warum war Sara schon beerdigt gewesen, als Sanne in die USA zurückkehrte? Warum hatte sie während der gesamten Gedenkfeier das Gefühl, als ob man ihr etwas verschweigen würde? Selbst als Samuel sein Urteil wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss entgegennahm und mit Handschellen direkt in die Haft geführt wurde, beschlich sie dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass etwas immer noch ungesagt und verkehrt war.

Weiter brachten ihre Intuition und ESW sie hingegen nicht. Wahrscheinlich handelte es sich nun eher um zunehmende Fantasien, die im schlimmsten Fall zu reiner Paranoia ausarten konnten, als um irgendeine Form extrasensorischer Wahrnehmung, für die es nicht den geringsten wissenschaftlichen Beleg gab.

War Sara überhaupt tot?, fragte sie sich täglich selbst. Sie hatte ja niemals die Leiche gesehen. Es verging kein Tag, an dem Sanne nicht bedauerte, dass sie nicht verlangt hatte, das Grab öffnen zu lassen.

Was, wenn die kleine Kinderleiche, die in dem Sarg lag, überhaupt nicht Sara war. Und weiter: Was, wenn es überhaupt kein Unfall gewesen war? Was, wenn Samuel aus dem einen oder anderen geisteskranken Grund Sara etwas angetan hatte? Seine Eifersucht war grenzenlos. Aber Mord? Nein, auf keinen Fall … oder vielleicht … weil alle Erfahrung zeigte, dass nichts sicher war in dieser Welt, in der die Wirklichkeit die Fantasie so oft übertraf.

Aber nein, natürlich nicht, ihre Psyche spielte ihr einen Streich. Ihre starke Intuition, ESW oder nicht, hatte ihr in der Kindheit oft geholfen, auch später als klinische Psychologin, ja, sogar bei der Zusammenarbeit mit Møller und der Mordkommission. Aber die Intuition war niemals etwas anderes als ein Zusatz gewesen. Sie musste die Situation akzeptieren, wie sie war. Sie litt immer noch unter ihrer Trauer, die alles überschattete, an einem langjährigen Leugnen des Unerträglichen. Vielleicht nicht die angemessenste Reaktion, aber doch eine Art Schutz vor dem totalen Zusammenbruch.

Dieser Erkenntnis zum Trotz war Sanne tagtäglich hin- und hergerissen: Sollte sie weiterhin als ein Teil der kontinuierlichen Trauerbewältigung in diesen Gedanken und Fantasien herumgraben – oder sollte sie in die USA fliegen, vor Gericht gehen und verlangen, dass ihr Kind exhuminiert und endlich in Sannes Anwesenheit identifiziert würde?

Samuels Priester hatte, vermutlich um sie zu trösten, gesagt, Trauer sei ein Ausdruck tiefer Liebe. Aber war es nicht auch die Angst davor, der grauenvollen Wahrheit ins Auge zu blicken, dachte Sanne jetzt. Dass sie im Grunde ganz allein war und sich nichts sehnlicher wünschte, als diesen Zustand zu ändern, egal wie?

Sie brachte immer seltener die Kraft auf, sich Menschen zuzuwenden. Viele von ihnen würden vermutlich Alzheimer entwickeln und an einem Herzinfarkt sterben, bevor sie sich dazu würde aufraffen können, ihnen eine Einladung zu irgendeinem unbedeutenden Abendessen oder einer Cocktailparty auf der Terrasse zu schicken, Dinge, um die es sich in ihrem Bekanntenkreis ständig drehte.

Wann hatte sie zuletzt mit ihrer eigenen Mutter geredet? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Waren ihre Lebensauffassungen und Werte immer noch so unterschiedlich, dass sie ein vernünftiges Gespräch, eigentlich jeden Kontakt unmöglich machten? Ihre Mutter war jetzt älter, aber immer noch eine Mutter, die ebenfalls in gewisser Weise ihr Kind verloren hatte. Die Nabelschnur war schon lange auf mehr als eine Art gekappt. Ihr Magen sackte ab, als Sanne sich einen Augenblick lang vorstellte, wie sie ihre Mutter anrief und ihr von den Nächten erzählte, in denen sie träumte, wie sie auf dem amerikanischen Friedhof auf der Erde lag und mit ihren bloßen Händen grub, bis ihre Nägel einrissen und das Blut floss, tiefer und tiefer hin zu der Kinderleiche im Kirschholzsarg, die nicht dort sein konnte, nicht dort sein durfte, nicht Sara!

Plötzlich kam es Sanne widernatürlich vor, dass eine Mutter und eine Tochter sich so entfremden konnten. Oder vielleicht war es nicht die Natur, sondern das Ergebnis dessen, was etwas zu euphemistisch Gesellschaftsentwicklung genannt wurde? Wann und womit hatte es überhaupt angefangen?

Licht, Luft, und Bewegung, das war es, was sie jetzt brauchte. Sie würde einen Spaziergang auf dem Wall rund um den Stadtgraben machen. Ja, dann konnte sie an der Kinderbastion vorbeigehen und sich den Fundort von außen ansehen. Sie musste nur aufpassen, weder Møller noch Tange in die Arme zu laufen.

Aqua Mortis

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