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Die Frucht des Leibes

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In den nächsten beiden Wochen verdoppelt sich der Embryo bis zur Größe einer Heidelbeere, und dann verdoppelt er sich noch einmal bis zur Größe einer Himbeere (an Früchten und Gemüse orientierte Maßeinheiten scheinen der Standard in allen Babybüchern zu sein, die jemals geschrieben wurden). Um die 10. oder 11. Woche herum hat die kleine Erdbeere regelmäßige Schlaf- und Wachphasen. Die meiste Zeit ist der Mutterleib ein Schlafzimmer. Während der Schwangerschaft verbringt der Fötus über 90 Prozent seiner Zeit schlafend. Die Schlafphasen dauern rund 40 Minuten, es folgen wenige Minuten Aktivität, die im Lauf der Zeit mehr werden. Im Erdbeerstadium sind die Bewegungen minimal, aber eindeutig anstrengend, denn ab der 11. Woche kann man beobachten, dass der Embryo im Mutterleib gähnt (Joseph 2000).

Die 13. Woche ist das Pfirsichstadium, und eine gute Zeit beginnt. Das erste Trimester ist vorbei, ein Drittel der Schwangerschaft geschafft, der Embryo hat sich so weit entwickelt, dass wir ihn von nun an als Fötus bezeichnen. Die ersten willkürlichen Bewegungen kommen um die 16. Woche vor, wenn der Fötus ungefähr 11,5 Zentimeter groß ist, so groß wie eine Avocado. In den Wachphasen macht der Fötus Turnübungen. Jetzt ist er eindeutig als Mensch erkennbar mit einem großen runden Kopf und winzig kleinen Fingern und Zehen.

Die fötale Entwicklung ist nicht einfach nur der Prozess, der von einem heidelbeergroßen Klumpen zu einem munteren Baby führt. Die stetige Verwandlung in dieser Zeit ist nicht weniger dramatisch als die Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling. Es teilen und vermehren sich nicht einfach Zellen, sondern ihre Funktionen verändern sich, sie wandern im Körper an unterschiedliche Stellen, wo sie unterschiedliche Rollen erfüllen. Die Heidelbeere hat noch kiemenartige Strukturen, aus denen der Kiefer wird, und einen Schwanz, aus dem das Steißbein wird. Die meisten inneren Organe sind erst in der 20. Woche voll ausgebildet, und Nervenzellen wandern und verbinden sich noch nach der Geburt.

Wie bereits gesagt, wird die werdende Mutter die ersten Regungen irgendwann zwischen der 16. und der 20. Woche spüren (Avocado bis kleine Banane). In der Zeit findet üblicherweise die zweite Basis-Ultraschalluntersuchung statt. Der Arzt oder die Ärztin schaut sich den Fötus genau an, ob sich alles so entwickelt wie erwartet. Auf modernen Ultraschallbildern kann man das Geschlecht des Kindes erkennen, wenn man weiß, wonach man suchen muss. Wahrscheinlich schläft der Fötus während der Untersuchung, aber wenn er sich bewegt, kann es eine hübsche Überraschung geben. Im März 2015 gingen Jen Hazel und ihr Ehemann zur Ultraschalluntersuchung in der 14. Woche zu ihrem Arzt in Olympia im Bundesstaat Washington. Während der Untersuchung klatschte der Fötus – ein Mädchen – in die Hände. Jen schildert die Szene:

Wir kamen zum Ultraschall, und das Baby auf dem Monitor klatschte dreimal in die Hände. Ohne Musik, einfach so. Und mein Arzt sagte: »Singen wir doch mal was.« Mein Mann hielt seine Videokamera bereit, und der Arzt zeigte die Ultraschall aufnahme noch mal mit dem dreimal Klatschen, und wir sangen dazu: »If you’re happy and you know it [clap your hands]

Sie singen nicht besonders gut – Jen muss zu sehr lachen, und ihr Mann ist offensichtlich nicht textsicher –, aber es ist ein herrliches Video. Nachdem sie es auf YouTube hochgeladen hatten, verbreitete es sich verständlicherweise viral. Bis zu dem Zeitpunkt, da ich das hier schreibe, hat es zwölf Millionen Klicks bekommen.

Kann ein 14 Wochen alter Fötus glücklich sein? Damit sind wir beim Kern dessen, um was es in diesem Kapitel geht. Gibt es eine Zeit vor dem Lächeln? Wann fangen Glücklichsein und Zufriedenheit an? Gibt es beides von Anfang an, oder beginnen die Emotionen erst irgendwann nach der Geburt? Jens Tochter Pip kam ohne Probleme und gesund zur Welt. Sie ist ein glückliches, verspieltes Baby und liebt Musik immer noch. Aber wie sah es aus, als Pip ein zitronengroßer Fötus von 14 Wochen war? War sie glücklich, und wusste sie es? Konnte sie es wissen? Eine einzelne befruchtete Eizelle, eine Zygote, weiß nichts von Glück und kann es nicht zeigen, genauso wenig der kleine Zellklumpen in der Blastozyste oder auch der gähnende erdbeergroße Embryo. Aufgrund vieler Erzählungen von Eltern in meiner Studie zu lachenden Babys glaube ich fest, dass ein erst wenige Wochen altes Baby echte Zufriedenheit zeigen kann. Aber wann geht es los? Wann ist ein Lächeln wirklich ein Lächeln?

Es gibt keine Untersuchungen über Freude bei Föten. Tatsächlich wüsste man nicht, wo man anfangen sollte. Aber Schmerz bei Föten ist ein guter Wegweiser zu Freude. Freude und Schmerz laufen über ähnliche Schaltkreise, und es gibt immer mehr Hinweise, dass ein Fötus am Ende des zweiten Schwangerschaftsdrittels, ungefähr in der 24. oder 25. Woche nach der Empfängnis, rudimentäre Schmerzempfindungen hat. Das Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (RCOG) veröffentlichte 2010 eine detaillierte Studie, in der alle verfügbaren Hinweise diskutiert wurden. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass ein Fötus vor der 24. Woche keinen Schmerz empfinden kann (RCOB 2010).

Damit jemand Schmerz fühlen kann, müssen Nervensignale des unangenehmen Reizes zu einem Kortex gelangen, der sie verarbeiten kann. Wenn das Signal irgendwo aus dem Körper das Gehirn nicht erreicht, spüren wir nur eine dumpfe Empfindung. So funktioniert eine Lokalanästhesie: Sie blockiert die Nervensignale an der Quelle. Wenn die Signale den Hirnstamm und das Zwischenhirn erreichen, aber nicht an den Kortex weitergeleitet werden, spüren wir nichts. So wirkt eine Vollnarkose: Alle Signale vom Hirnstamm an den Kortex werden blockiert.

Vor der 24. Woche kann ein Fötus Schmerz nicht empfinden, weil noch nicht alle Verbindungen im Gehirn ausgebildet sind. Vor allem der Thalamus, eine Art Verbindungsstück zwischen Gehirn und Körper, ist noch nicht richtig mit dem Kortex (dem Teil mit den Falten und Rillen, der denkt) verschaltet. Das ist nicht allzu überraschend, wenn man bedenkt, wie kompliziert das Gehirn ist und wie aufwendig die Verschaltung. Jeder Teil muss mit jedem anderen Teil kommunizieren, und die Verbindungen sind lange, schlauchförmige Fortsätze von Gehirnzellen, die sogenannten Axone. Um eine Stelle mit einer anderen zu verbinden, müssen die Zellen in einem Bereich entstehen und zu dem anderen migrieren, dabei ziehen sie den Fortsatz hinter sich her.

Wie man sich vorstellen kann, ist das kompliziert, und die Verschaltung kann erst stattfinden, wenn es etwas gibt, mit dem sich die Nervenzellen verbinden können. Der Thalamus und der Kortex, ursprünglich die kortikale Platte oder Rindenplatte, wachsen unabhängig voneinander. Eine weitere Gruppe von Zellen entwickelt sich in der sogenannten Subplate unterhalb des Kortex. Von der 12. bis zur 18. Woche gelangen Verbindungen vom Zwischenhirn in die Sub plate und warten dort ab, während die kortikale Platte reift. Um die 24. Schwangerschaftswoche beginnen sie ihre Wanderung, um sich mit allen Bereichen des Kortex zu verbinden, ein Prozess, der bis zur 32. Schwangerschaftswoche weitergeht. Ebenfalls um die 24. Woche migrieren die Nervenzellen der Subplate-Zone selbst in verschiedene Bereiche des Kortex und verbinden diese miteinander. Beide Prozesse sind wichtig für das Schmerzempfinden. Ein 18 Wochen alter Fötus zuckt vor einem Nadelstich zurück und setzt sogar Stresshormone frei, aber er spürt den Schmerz nicht. Die Signale erreichen das Zwischenhirn und möglicherweise die Subplate-Zone, aber weiter kommen sie nicht. Das reflexhafte Zurückzucken und die Hormonfreisetzung gehen vom Hirnstamm aus.

Ab der 24. Woche gelangen Nervensignale allmählich bis zum Kortex. Die Aufzeichnung von Gehirnströmen bei sehr unreifen Frühgeborenen zeigt ab diesem Zeitpunkt koordinierte neuronale Aktivität als Reaktion auf einen Pieks in die Ferse. Das ist die vom RCGO formulierte Untergrenze für das Schmerzempfinden. Aber wie die Ärzte in ihrem Bericht schreiben, ist das zwar das theoretische Mindestalter, in dem Schmerz empfunden werden kann, aber das Bewusstsein dafür kommt womöglich erst später. Die Aktivität im Elektroenzephalogramm (EEG) ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht kontinuierlich wie bei einem Erwachsenen oder einem Neugeborenen. Es ist nicht klar, wann Schmerz wahrgenommen wird und ob die Erfahrung ein Bewusstsein braucht, das erst noch kommen muss.

Ab der 24. Woche beginnt sich das Gehirn ernsthaft zu vernetzen. Der sensorische Input durch Hören, Sehen und Berührung dringt zu den entsprechenden Bereichen des Kortex durch. Wechselseitige Verknüpfungen von Kortex und Hirnstamm entstehen ab der 26. Woche. Feedbackschleifen bilden sich, und die Föten können beginnen, willentliche Kontrolle über ihre kleine Welt im Mutterleib auszuüben. Sie hören, fühlen und sehen sogar Dinge, und sie fangen an zu lernen.

Es ist unwahrscheinlich, dass ein Fötus vor diesem Zeitpunkt etwas wahrnimmt. Aber im dritten Trimester nimmt er erstaunlich viel auf. In Untersuchungen zu Veränderungen der fötalen Herzfrequenz hat man festgestellt, dass ein Fötus ab der 26. Woche auf wiederkehrende Vibrationen reagiert und lernen kann, sie zu ignorieren. Er re agiert auch auf Veränderungen der Beleuchtung außerhalb des Mutterleibs, hört die Stimme der Mutter und spürt ihre Berührung durch die Bauchwand (Marx und Nagy 2015).

Meine liebste Untersuchung dazu ist die von Peter Hepper von der Queen’s University in Belfast (Hepper 1991). Er testete Neugeborene im Alter von zwei bis vier Tagen, um zu sehen, wie sie auf Musik reagierten, die sie im Mutterleib gehört hatten. Dabei machte er sich die Tatsache zunutze, dass viele Mütter Seifenopern anschauten. Die Hälfte seiner Stichprobe waren Fans der Serie Neighbours, die andere Hälfte nicht. Das bedeutete, dass die Hälfte der Babys im Mutterleib viele Male die eingängige Titelmelodie gehört hatte. Als er sie den beiden Gruppen auf der Säuglingsstation vorspielte, nahmen die Bewegungen und der Herzschlag bei den Babys, deren Mütter Neighbours gesehen hatte, im Vergleich zur Kontrollgruppe ab, sie schienen aufmerksam zu lauschen. Um auszuschließen, dass sie nicht einfach auf beliebige Musik reagierten, spielte er ihnen die Titelmelodie von Coronation Street vor, und es gab keine Reaktion. Ein zweites Experiment erbrachte ähnliche Ergebnisse, aber diesmal bekamen die Babys die Melodien noch im Mutterleib zu hören, über Kopfhörer auf dem Bauch der Mütter. Hepper schreibt, den Babys sei nicht nur die Musik vertraut geworden, sondern sie hätten sie auch mit dem ruhigen, entspannten Zustand in Verbindung gebracht, in den die Mutter beim Anschauen der Serie geraten sei.

Eine verblüffende Erkenntnis aus all diesen Studien ist, dass es anscheinend keine Rolle spielt, ob der Fötus aktiv ist oder »schläft«. Wie gesagt, ein Fötus ist nur 10 Prozent der Zeit aktiv, und die Phasen der Aktivität sind ein traumähnlicher Zustand, der kaum mit dem wachen Interesse eines neugeborenen Babys vergleichbar ist. Einige Forscher gehen sogar so weit zu sagen, der Fötus verbringe die gesamte Schwangerschaft in einem tiefen Schlaf. Der Bewusstseinsexperte Christof Koch schrieb in Scientific American:

Ich wette, dass der Fötus in utero nichts wahrnimmt; dass es sich für ihn so anfühlt wie für uns ein tiefer, traumloser Schlaf. Durch die dramatischen Ereignisse bei einer natürlichen (vaginalen) Geburt wacht das Gehirn jedoch abrupt auf. Der Fötus muss seine paradiesische Existenz in der geschützten, wassergefüllten und warmen Umgebung des Mutterleibs verlassen und gelangt in eine feindliche, luftgefüllte und kalte Welt, die seine Sinne mit absolut fremden Tönen, Gerüchen und Anblicken attackiert – ein höchst stressreicher Vorgang (Koch 2009).

Das ist ein sehr lebendiges Bild, aber ich bin nicht der Meinung, dass das Leben im Mutterleib in einem so sedierten Zustand stattfindet. Die Veränderungen der kindlichen Herzfrequenz in unterschied lichen Studien sprechen dafür, dass sie auf Ereignisse um sie herum reagieren, und ich denke, manche Eindrücke können dem Fötus sogar Vergnügen bereiten. Anekdotische Berichte von Babys, die auf Ultraschallbildern lächelten, gibt es seit 2000, seit die Auflösung der Bilder so gut ist, dass man Gesichtsausdrücke erkennen kann. Die Psychologin Nadja Reissland und ihre Kollegen von der University of Durham haben solche Bilder systematisch untersucht und dabei sieben fötale Gesichtsausdrücke unterschieden. Sie bestätigen, dass sowohl Weinen wie Lachen im Mutterleib »geübt« werden (Reissland, Francis, Mason und Lincoln 2011).

Reisslands Team nutzte moderne »4D«-Ultraschallaufnahmen mit hoher räumlicher und Tiefenauflösung in Echtzeit und untersuchte zwei Föten mehrfach zwischen der 24. und der 35. Woche. Jedes Mal zeichneten sie zehn Minuten lang den Gesichtsausdruck auf, und was sie sahen, klassifizierten sie mit einem Standardcodierungssystem, um objektive Aussagen zu erhalten. Gesichtsausdrücke können in ihre Mikro-Bestandteile zerlegt werden (gekräuselte Lippen oder angehobene Backen). Das Codierungsschema für sehr kleine Babys wurde angepasst, sodass man Ausdrücke definieren konnte, die ein »weinendes Gesicht« oder ein »lachendes Gesicht« ergaben. Manche wie eine gekrauste Nase gehörten zu beiden Gesichtern. Andere definierten nur Lachen (herausgestreckte Zunge und zurückgezogene Lippen) oder Weinen (heruntergezogene Oberlippe und gerunzelte Augenbrauen). Bei der Kombination der Daten von beiden Föten (zwei Mädchen) stellten die Wissenschaftler fest, dass der weinende Gesichtsausdruck in der Zeit zwischen der 24. und der 35. Schwangerschaftswoche von 0 Prozent auf 42 Prozent zunahm und der lachende von 0 Prozent auf 35 Prozent. Ein fröhlicher Gesichtsausdruck war genauso häufig wie ein kummervoller, und beide tauchen nach und nach auf, wenn der Fötus immer mehr Bewusstsein erlangt. Aus der Sicht des Babys gibt es keine Zeit vor dem Lächeln.

Deshalb sage ich auf entsprechende Fragen, dass Grimassen und Lächeln von Kindern in utero ab der 25. Woche etwas bedeuten. Ich glaube, da beginnt das fötale Bewusstsein für Freude und Schmerz. Das unterscheidet sich kaum von der Grenze von 24 Wochen im Bericht der britischen Geburtshelfer. Aber ich persönlich ziehe die 25. Woche vor, wenn der Fötus nach der universellen Obst- und Ge müse skala so groß wie eine Aubergine ist.

Eine frühere Freundin von mir, Belinda, sagte immer, die weiche und elastische Haut von Auberginen erinnere sie an die pummeligen Ärmchen, Beinchen und Bäuche von Babys. Im Supermarkt konnte sie nicht widerstehen und musste immer die Auberginen drücken. Als ich meine Arbeit mit Babys begann, fragte sie mich häufig: »Wie geht es den Auberginen?« Es wurde unser geheimes Codewort. Vor ein paar Jahren, als Belinda mit ihrer Tochter Rosie schwanger war, bekam ich eine glückselige SMS von ihr, in der sie mir mitteilte, die Schwangerschafts-App auf ihrem Smartphone habe sie informiert, dass nach 25 Wochen ihre Blaubeere die nächste Stufe erklommen habe und sie nun ihre eigene kleine Aubergine im Bauch trage.


Das lachende Baby

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