Читать книгу Das lachende Baby - Caspar Addyman - Страница 15
Soziale Wesen von Anfang an?
ОглавлениеHilflos und zu früh geboren sind Menschenbabys wie keine andere Spezies von ihren Eltern abhängig. Aber sie haben ein paar Tricks in ihren winzig kleinen Ärmeln, damit es mit der Bindung klappt. In den ersten Stunden nach der Geburt sind Babys wach und können kommunizieren. Sie mögen es, wenn man sie hält und leise mit ihnen spricht. Es scheint sogar, als würden sie das Gesicht ihrer Mutter anschauen, die sie hält. Aus zwei Gründen ist das bemerkenswert. Erstens sehen sie nach der Geburt so unscharf, dass ein Gesicht für sie nicht viel mehr ist als ein Dreieck mit drei schwarzen Flecken für Augen und Nase. Zweitens haben sie nie zuvor ein Gesicht gesehen, trotzdem fasziniert es sie mehr als jeder andere Reiz.
Wissenschaftlich wurde das erstmals in den 1970er-Jahren nachgewiesen (Goren, Sarty und Wu 1975), aber bis 1991 blieb die Erkenntnis unbeachtet. Dann wiederholten zwei britische Forscher das Experiment. Mark Johnson und sein Mitarbeiter John Morton bestätigten das ursprüngliche Ergebnis und lieferten eine Erklärung für das, was da wohl passierte (Johnson, Dziurawiec, Ellis und Morton 1991; Johnson und Morton 1991). Sie glauben, dass es um die Interaktion von zwei Gehirnsystemen geht, einem für Erkennen und einem für Lernen.
Sie hatten die Studie in Angriff genommen, weil Mark Johnson wissen wollte, ob Menschenbabys sich von frisch geschlüpften Küken unterscheiden. Zu Beginn seiner Karriere als Biologe arbeitete Johnson bei Professor Gabriel Horn an der Cambridge University. Gemeinsam untersuchten sie die Gehirnmechanismen, die der Prägung zugrunde liegen, dem Prozess, bei dem kleine Vögel lernen, eine Bindung an ihre Mütter herzustellen. Küken folgen ihrer Mutter oder allem, was entfernt wie ihre Mutter aussieht. Das weiß jeder, der schon mal eine Schar Entenküken beobachtet hat, die der Entenmutter hinterhermarschieren. Erstmals untersucht hat die Prägung Konrad Lorenz in den 1930er-Jahren. Er brachte Gänseküken dazu, ihm hinterherzulaufen, wenn er mit seinen Gummistiefeln vorausging. Dafür bekam er den Nobelpreis. Ich glaube, die nobelpreisgekrönten Gummistiefel sind in dem Museum zu besichtigen, das in seinem ehemaligen Wohnhaus im österreichischen Altenberg eingerichtet wurde. Wie bei Iwan Pawlow und seinem Nobelpreis für das Füttern von Hunden steckte auch hinter Lorenz’ Forschungen mehr, als der erste Blick vermuten lässt.
Lorenz teilte sich 1973 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin mit Niko Tinbergen und Karl von Frisch. Mit dem Preis wurde ihre Rolle als Begründer der Ethologie, der Verhaltensforschung bei Tieren, gewürdigt. Karl von Frisch ist bekannt durch seine Entdeckung des Schwänzeltanzes der Bienen. Niko Tinbergen untersuchte wie Lorenz instinktive Verhaltensweisen und kritische Phasen in der Entwicklung von Tieren. Die Küken, die ihrer Mutter folgten, zeigten, dass bestimmte Verhaltensweisen von Natur aus angelegt sind, aber dass sie auch einem Paar Gummistiefel nachliefen, beweist, dass der Mechanismus flexibel ist. Der entscheidende Punkt bei diesen Forschungen war, dass sie evolutionäre Erklärungen für tierisches Verhalten lieferten, die auf dessen Bedeutung für das Überleben basierten.
Immer wieder werden die Leser in diesem Buch auf die »Nature-Nurture-Debatte« stoßen, auf den Gedanken, dass manche Fähigkeiten angeboren (nature) und andere erlernt sind (nurture). Jeder, der sich mit Entwicklungspsychologie beschäftigt, erkennt an, dass beides eine Rolle spielt, aber dennoch gibt es eine Kluft zwischen denen, die meinen, die Gene seien für das meiste verantwortlich, und den anderen, die den größten Anteil beim Lernen sehen. Die Arbeit von Johnson und Morton war wichtig als Beleg dafür, dass wir immer von »Natur plus Lernen« sprechen sollten.
Was die Fähigkeit von Neugeborenen angeht, Gesichtern zu folgen, hat die Natur zwei Gehirnsysteme ausgewählt: einen Kreislauf tief im Innern des Gehirns, der sich rasch auf Muster ausrichtet, die Gesichtern ähneln, und den allgemeineren, höherrangigen Kortex, der aus allem lernt, was er zu sehen bekommt. Dieses Lernen ist nurture. Weil Babys viele Gesichter sehen, werden sie Experten für Gesichter. Sie lernen, Personen zu unterscheiden und männliche Gesichter von weiblichen. Weil sie ihre Eltern häufiger sehen als alle anderen, erkennen sie sie am schnellsten. Dabei spielen Gene, Umwelt und Verhalten zusammen. Johnson und Morton legten mit ihrer Theorie eine mechanistische Darstellung dieses Zusammenspiels vor. Johnson nennt den Prozess »interaktive Spezialisierung« und entwickelte die Theorie zusammen mit Kollegen in einem sehr einflussreichen Buch mit dem Titel Rethinking Innateness weiter (Elman u. a. 1996).
Dieses Experiment war auch direkt dafür verantwortlich, dass ich mich der Babywissenschaft verschrieb. Aufgrund dieser Forschungen stellte die Birkbeck University in London Mark Johnson 1998 als Professor an und schlug ihm vor, das Centre for Brain and Cognitive Development zu gründen, auch bekannt als Birkbeck Babylab. Als einen der ersten Mitarbeiter rekrutierte er meinen Doktorvater Denis Mareschal, dessen Anfängervorlesungen über die kindliche Entwicklung mich auf das Forschungsgebiet gelockt hatten. Auf Mareschals Empfehlung hin las ich Rethinking Innateness, und von da an wollte ich auch Babyforscher werden.