Читать книгу Das lachende Baby - Caspar Addyman - Страница 13
Oxytocin
ОглавлениеOxytocin ist der unangefochtene chemische Herrscher bei der Geburt. »Das gute alte Oxytocin«, wie Natalie immer sagt. In den letzten zehn Jahren wurde Oxytocin auch zur »Liebesdroge« und zum »Kuschelhormon« hochgejubelt. Angeblich ist es in großen Mengen vorhanden, wenn Menschen sich verlieben, und in weniger großen Mengen, wenn sie Sex haben oder sich nur umarmen. Bei psychologischen Untersuchungen hat man den Teilnehmern Oxytocin in die Nase gesprüht und dann Aufnahmen ihrer Gehirne gemacht. Die Studien haben ergeben, dass Oxytocin die Empathie steigert, die Introversion reduziert und sogar bei Autismus helfen könnte. Die wissenschaftlichen Grundlagen der meisten derartigen Behauptungen sind bestenfalls »unbewiesen«. Frühere Studien hatten nicht genug Teilnehmer, um verlässliche Aussagen zu machen, oder wurden nicht wiederholt. Es ist noch nicht einmal klar, ob in die Nase gesprühtes Oxytocin überhaupt ins Gehirn gelangt.
Der mütterliche Oxytocinspiegel steigt in der späten Phase einer Schwangerschaft allmählich an und steigert das Gefühl der Zufriedenheit, Ruhe und Sicherheit neben dem Partner. Bei den Wehen wird Oxytocin in noch größeren Mengen freigesetzt und verstärkt die Kontraktionen. Und noch mehr Oxytocin wird produziert, wenn das Baby auf dem Weg durch den Geburtskanal den Muttermund und die Vagina stimuliert, wodurch eine positive Feedbackschleife entsteht. Wenn die Geburt nicht recht vorangeht, kann es sein, dass die Mutter an einen Oxytocintropf gehängt wird.
Oxytocin ist nicht der einzige chemische Stoff, der bei einer natürlichen Geburt ins Spiel kommt. Wenn die Wehen sich ihrem Höhepunkt nähern, arbeitet ein komplexer Cocktail von Hormonen und chemischen Stoffen bei Mutter und Baby zusammen. Relaxin entspannt die Bänder der Mutter, und ein Protein namens Noggin sorgt dafür, dass der kindliche Kopf weich und verformbar wird, damit er besser ausgetrieben werden kann. In einem frühen Stadium können die schnell wirkenden Stresshormone Epinephrin und Norepine phrin bei Gefahr die Wehentätigkeit verlangsamen oder zum Stillstand bringen. Und ganz am Ende der Wehen sorgt eine Flut dieser Stoffe dafür, dass Mutter und Baby nach der Geburt wach und aufmerksam sind.
Auch bei dem langsamer reagierenden Stresshormon Cortisol baut sich während der Geburt ein zehnfach höherer Spiegel als üblich auf. Allem Anschein nach fördert das die Bildung von Rezeptoren für das Stillhormon Prolaktin. Endorphine werden freigesetzt, die es der Mutter erleichtern, Stress und Schmerzen auszuhalten, und eine leichte Bewusstseinsveränderung bewirken. Das führt zu einer Art von Euphorie während der Geburt. Endorphine spielen daneben wohl auch noch die Rolle, die Belohnungszentren im Gehirn von Mutter und Baby vorzubereiten, damit sie beide für Prägung und Bindung gerüstet sind und dafür, zu lernen, wie das Stillen geht. Bei der Mutter stimulieren die Endorphine direkt die Freisetzung von Prolaktin. Prolaktin führt zur Milchproduktion, hat aber noch rund 300 andere Wirkungen im Körper, unter anderem stimuliert es die Synthese von Oxytocin.
Dieses komplexe Gewebe von Einzelwirkungen und sich selbst regulierenden Kreisläufen wird häufig durch medizinische Interventionen bei der Geburt durchbrochen. Zum Beispiel ist ein Problem bei der Epiduralanästhesie, dass ohne Schmerzen der Anstieg von Epinephrin und Norepinephrin ausbleibt. Im Blut der Mutter gibt es weniger von diesen Hormonen, und weniger gehen auf das Baby über, das deshalb nicht gut für die Entbindung vorbereitet ist. Ähnliche Effekte hat man bei Kaiserschnitten festgestellt: Durch Kaiserschnitt geborene Babys haben weniger Stress bei der Geburt, aber sehr viel mehr eine Stunde später. Ein Kaiserschnitt verlangsamt anscheinend den Prozess der Bindung, doch das hängt auch damit zusammen, dass die Mutter sich erst erholen muss. Eine Geburt ist auf jeden Fall ein sehr kompliziertes System, und die meisten Mechanismen hat man bis heute nicht ganz verstanden. In diesen letzten Abschnitten habe ich versucht, Sarah Buckleys 248-Seiten-Werk zu dem Thema zusammenzufassen, in dem sie selbst die Ergebnisse von 1141 Forschungsarbeiten referiert (Buckley 2015).
Corinne sagt mir immer, dass Kinder in einer Art von Starre geboren werden. Sie wachen erst auf, wenn die Nabelschnur durchtrennt ist und ihre Lungen sich mit Sauerstoff füllen. »Bevor das passiert, sind sie anders. Ihre Farbe ist anders. Sie schauen nicht nach außen.« Wenn möglich lassen Hebammen die Nabelschnur drei Minuten pulsieren, damit alles Blut aus der Plazenta herausgezogen wird und in das Baby gelangt. Der erste Atemzug verschließt Löcher im Herzen und verändert den Kreislauf so, dass das Blut nicht mehr durch die Plazenta, sondern durch die Lungen strömt.
Corinne zerstört einen Mythos, bei dem ich mir nie ganz sicher war. Ärzte heben neugeborene Babys nicht an den Füßen hoch, damit ihren Lungen frei werden. Und sie klopfen ihnen auch nicht aufs Gesäß, damit sie zu atmen beginnen.
Nein! Das wäre grausam. Der Vorgang, aus einer Frau herausgepresst zu werden, reicht üblicherweise aus. Wenn nicht, reiben sie das Baby mit einem Krankenhaushandtuch ab oder kitzeln es an den Füßen, um die Atmung in Gang zu bringen. So wie bei anderen Säugetieren die Mutter ihr Neugeborenes ableckt, um es zu stimulieren, dass es die ersten Atemzüge tut.
Von Menschenmüttern wird nicht erwartet, dass sie ihre Babys ab lecken, aber seit 2014 befürworten die meisten Geburtshilfeorganisationen, so auch die American Academy of Pediatrics (AAP) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), explizit frühen Hautkontakt. Früher wurden Babys gleich nach der Geburt weggebracht, um sie zu messen und zu wiegen. Neugeborene blieben auf der Säuglingsstation, und die Mütter bekamen sie nur zum Stillen. Angeblich wollte man damit den Müttern die Erholung von der Geburt erleichtern. Aber inzwischen hat man wiederentdeckt, wie wichtig die Übergangszeit ist. Laut WHO ist »der Prozess der Geburt erst abgeschlossen, wenn das Baby sicher von der Ernährung durch die Plazenta auf die Ernährung durch die Brust umgeschaltet hat«.
Corinne beschreibt das anschaulich: »Nun, wann immer es möglich ist, werden die Babys aus der Mutter heraus auf die Mutter geboren.« Die mütterliche Körpertemperatur steigt um ein bis zwei Grad an, damit das Baby es warm hat, und die Babys bewegen sich instinktiv zur Brust hin und suchen nach der Brustwarze. Sie orientieren sich durch Berührung und Geruch, und manchmal dauert es ein bisschen, bis sie sich auf die Suche machen – sie müssen erst aufwachen. Das ist auch die Gelegenheit, wo das Baby durch die Bakterien der Mutter besiedelt wird, und es hilft der Mutter, sich an die Situation anzupassen. Nach Natalies Erfahrung ist niemand darauf vorbereitet, zum ersten Mal das eigene Baby zu sehen. Es dauert ein bisschen, bis der Eindruck einsinkt, das ist der Beginn der Bindung.
Geburtserfahrungen sind höchst unterschiedlich. Manche Frauen haben ein wunderbares Geburtserlebnis, für andere ist die Geburt ein Albtraum. Ich habe noch niemanden getroffen, der von »Vergnügen« sprach. »Die Freude kommt, wenn man das Baby im Arm hält, das taucht alles in Freude. Aber ich habe noch keine Frau erlebt, die den Vorgang selbst genossen hat«, erzählt Corinne. Wie beim Marathonlaufen kommt auch bei der Geburt die Freude erst, wenn es vorbei ist.
Für Väter oder Partner passieren die größten Veränderungen in der Zeit unmittelbar nach der Geburt. Während der Schwangerschaft war das Baby irgendwie abstrakt, aber jetzt können sie es halten und mit ihm in Kontakt treten. Die Oxytocin- und Prolaktinspiegel der Partner steigen sprunghaft an. Am Ende der ersten Woche kann der Oxytocinspiegel des Vaters genauso hoch sein wie der der Mutter.
Dem emotionalen und hormonellen Hoch, das der Partner erlebt, steht oft ein entsprechender Absturz bei der Mutter gegenüber. Die erste Woche kann sehr schwierig sein. Nach der Geburt gibt es einen hormonellen Einbruch. Die Plazenta signalisiert nicht mehr, dass Schwangerschaftshormone produziert werden sollen, und der Körper versucht, die neunmonatige Schwangerschaft hinter sich zu lassen. In der ersten Woche zu Hause möchte sich der Körper erholen, aber die Mutter bekommt nicht viel Ruhe und Entspannung mit einem Neugeborenen, das sie versorgen und um das sie sich kümmern muss.
Erschöpft und nach einer neunmonatigen Odyssee kann die Rückkehr nach Hause für die Mutter auch enttäuschend sein. Vor allem nach einer schweren Entbindung fühlen sich die Mütter oftmals isoliert. Alles konzentriert sich auf das Baby, und von der Mutter erwartet man, dass sie für alles dankbar ist, während ihre eigene Identität dahinschwindet und sie nicht viel Zeit hat, sich um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Es ist vollkommen normal, sich direkt nach der Geburt überwältigt und sogar deprimiert zu fühlen. Einer aktuellen Studie zufolge haben 81 Prozent der Frauen während oder nach der Schwangerschaft ein seelisches Problem (Royal College of Obstetricians and Gynaecologists 2017). Die tiefe Liebe zu dem Baby stellt sich nicht schlagartig ein, aber darüber können die Mütter nicht so einfach sprechen.
Hinzu kommt, dass eine frischgebackene Mutter oft alleine 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche für das Baby verantwortlich ist. Wenn etwas passiert, wird sie sich immer Vorwürfe machen. Auf meine entsprechende Frage hat Corinne über diese Zeit erzählt: »In meiner zehnjährigen Berufstätigkeit als Hebamme habe ich bei Hausgeburten in der ersten Woche nie Eltern erlebt, die nicht zutiefst erschüttert wirkten.« Alle Eltern werden beim ersten Kind durch irgendeinen Aspekt überwältigt werden, aber es wird leichter, und es ist völlig in Ordnung, um Hilfe zu bitten.
Allein die Tatsache, dass es das neugeborene Baby gibt, ist äußerst seltsam. Auf einmal ist eine neue Person der Mittelpunkt im Leben der Eltern. Als mein Neffe Tycho geboren wurde, hatte meine Schwester Schwierigkeiten, das Zimmer zu verlassen, in dem er lag. Es war schwer für sie, zu begreifen, dass er eine unabhängige Existenz führte, und sie musste immer wieder nach ihm schauen. Die Geburt ist das Gegenteil des Todes, aber manche Gefühle, die sie auslöst, sind gar nicht so anders als Trauer. Sich auf die Anwesenheit oder Abwesenheit einer wichtigen anderen Person einzustellen ist ein Prozess. Bei Müttern kann ein zweites Kind sogar noch zwiespältigere Gefühle auslösen. Es verändert die Beziehung zum ersten Kind, Mutter und Baby Nummer eins sind nicht länger das unzertrennliche Paar. Mütter können Ärger verspüren über das Verlorene. Wieder gilt: Das ist vollkommen normal, aber es kann schwer sein, darüber zu sprechen.
Babys erholen sich schnell von der Geburt. »Babys sind robust«, sagt Corinne. »Ich habe Babys erlebt, die eine wirklich traumatische Geburt hinter sich hatten und sich ziemlich schnell erholten. Ein zusammengequetschter Kopf kann sehr schlimm aussehen. Als ich so etwas zum ersten Mal in meiner Hebammenausbildung gesehen habe, bin ich rausgerannt und habe zwanzig Minuten in der Toilette geweint.«
Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg, dass das Trauma der Geburt einen Menschen durch das ganze Leben begleiten kann. Außer in den seltenen Fällen, dass eindeutige medizinische Komplikationen auftreten, ist eine traumatische Geburt nur ein kleiner Rückschlag. Die Wehen und die Geburt sind nur ein Ereignis in der Entwicklung des Babys. Und nicht ein einzelner Augenblick definiert diese Zeit, alle sind wichtig. Obwohl es sich wie eine Achterbahnfahrt anfühlt, geht die Reise insgesamt nach oben.