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»Wir können ihn nicht länger festhalten«, erklärte der Sergeant Daniel und Marnie. »Nicht aufgrund dessen, was ihr hier habt. Die Lady klingt wie eine Verrückte.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch. Die beiden jungen Beamten forderte er jedoch nicht auf, Platz zu nehmen.

»Sie hat Angst vor ihm«, argumentierte Marnie. »Sie hat Dan erzählt, er sei mit einem Brieföffner oder so was Ähnlichem auf sie losgegangen.«

»Er hatte nichts dergleichen bei sich, und es gab im ganzen Haus keine Waffe, auf die so eine Beschreibung passen würde«, sagte der Sergeant. »Seine Geschichte klingt seltsam, aber glaubwürdig. Sie ruft ihn mitten in der Nacht an, macht irgendwelche murmelnden Geräusche und legt auf. Er ruft sie zurück und sie nimmt ab, ihre Stimme klingt besorgt. Dann ist die Leitung tot –«

»Aber er ist in ihr Haus eingebrochen«, beharrte Marnie.

»Natürlich ist er eingebrochen. Für mich ergibt das einen Sinn. Er machte sich Sorgen um sie. Kann sie telefonisch nicht erreichen, also fährt er quer durch die Stadt. Hämmert an die Tür. Keine Reaktion, also bricht er ein. Schneidet sich die Hand auf – das habt ihr ja gesehen. Dann findet er sie im Keller, wie eine irische Todesfee schreiend, und versucht, die 911 anzurufen. Das Telefon ist tot, also stürzt er nach draußen, und Sie« – er zeigte mit dem Finger auf Daniel –, »Sie richten eine Waffe auf ihn.«

Daniel sagte nichts. Er war bereits streng dafür gerügt worden, dass er seine Waffe gezogen hatte.

»Der Bursche klingt anständig«, endete der Sergeant. »Während ihre Version der Geschichte vollkommen –« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hatte sie einen Alptraum. Aber wir können einen Typen nicht jedes Mal einsperren, wenn seine Ex einen Alptraum von ihm hat.« Er kicherte. »Dann käme ich selbst hinter Gitter.«

Sarah saß niedergeschlagen in einem Rollstuhl am Eingang des St. Boniface Hospital. Die gemieteten Krücken lagen auf ihrem Schoß, und sie wartete auf ihre Cousine. Die Verletzung ihrer Beine war nichts Ernstes, hatte der Arzt gemeint. Er hatte ihr einen Gehgips verordnet, sobald ihr Knöchel nicht mehr geschwollen war. Er hatte ihren Zustand als stabil genug eingeschätzt, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Aber sie fühlte sich kein bisschen stabil. Was sollte sie nur Morgan erzählen? Sie rief sich Daniel Bradleys skeptischen Gesichtsausdruck in Erinnerung, als sie versucht hatte, ihm zu erklären, was in dieser Samstagnacht passiert war. Er schien zu zweifeln – aber nicht an ihrer Aufrichtigkeit, sondern an ihrem Geisteszustand. Verlor sie vielleicht wirklich den Verstand? Sie versuchte, nicht an ihre Großmutter zu denken, die man mit fünfundzwanzig in eine psychiatrische Anstalt gesperrt hatte. Seit gestern, dessen war sie sich bewusst, war sie selbst fünfundzwanzig Jahre alt.

Sarah hätte Morgan nicht angerufen, wenn es vermeidbar gewesen wäre. Sie wusste, dass ihr Anblick in einem Rollstuhl Morgan in höchste Aufregung versetzen würde. Und Sarah fühlte sich Morgan und ihren Emotionen im Moment nicht gewachsen. Normalerweise war Sarah die Vernunft in Person, die Morgan riet, sich zu beruhigen und alles in Ruhe zu durchdenken. Aber heute schaffte Sarah es kaum, zwei Gedanken miteinander zu verknüpfen. Selbst ihr Blick war trüb, die Landschaft da draußen wirkte verzerrt. Sie beobachtete, wie Morgans zerbeulte braune Limousine in der Einfahrt hielt und ihre Cousine aus dem Wagen stürzte. Ihre roten Locken sahen in der Sonne aus wie flüssiges Kupfer, ihr Gesicht war darunter nur ein Klecks. Aber Sarah konnte sich den Ausdruck panischer Besorgnis schon jetzt lebhaft vorstellen. Sie würde den Sturm einfach über sich ergehen lassen. Morgan war ihre Familie. Sarah mochte sie wirklich und jetzt brauchte sie sie auch.

Morgan kam auf sie zugestürmt. »Sarah! Mein Gott! Was um Himmels willen ist denn passiert?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Sarah.

»Erzähl sie mir! Bist du in Ordnung? Ist das Bein gebrochen? Was ist geschehen?«

»Es ist kein komplizierter Bruch, nur ein Haarriss, sagt der Arzt. Aber mein Knöchel ist verstaucht. Jetzt möchte ich hier erst mal raus. Gibst du mir deine Hand, bitte?«

Morgan half ihrer Cousine beim Aufstehen und durch die Türen hinaus in die warme Sonne. Draußen war es ziemlich heiß. Ganz plötzlich, während Sarahs kurzem Krankenhausaufenthalt, war es Sommer geworden.

»Warte hier«, ordnete Morgan an, als ob Sarah irgendetwas anderes hätte tun können. »Ich hole den Wagen.« Sie ließ Sarah, die vorsichtig auf ihren neuen Krücken balancierte, auf dem Gehsteig stehen. Sarah seufzte. Sie wusste nicht genau, was mit ihr passiert war oder was als Nächstes passieren würde, aber sie wusste, dass sie froh war, nicht mehr im Krankenhaus zu sein. Ein kühler Windstoß fuhr durch ihr Haar und hob ihre Stimmung ein wenig. Ja – es war gut, hier draußen und frei zu sein.

Am anderen Ende der Stadt war Peter Petursson ebenfalls wieder frei. Er stand auf dem Broadway, wartete auf ein Taxi und untersuchte den Verband an seiner Hand. Er machte eine Faust, damit sich die Hand nicht versteifte. Der rege Verkehr zur Stoßzeit ärgerte ihn. Sogar die Sonne ärgerte ihn. Er war hungrig, müde und vor allem wütend. Den ganzen Sonntag und den Großteil des heutigen Tages hatte er in einer Zelle verbracht und darauf gewartet, dass seine Mutter vom See zurückkäme und sich um die Kaution kümmerte. Er hatte nicht gewagt, Cady anzurufen. Doch wie sich herausstellte, brauchte er keine Kaution. Nach all dem Wirbel hatten sie beschlossen, die Vorwürfe fallen zu lassen. Idioten!

Er würde sich eine gute Entschuldigung ausdenken müssen, um Cady zu erklären, warum er gestern nicht gekommen war. Er hatte ihr versprochen, sie mittags abzuholen, um eine Bootsfahrt auf dem Fluss zu machen. Welche Ausrede könnte er erfinden? – Obwohl, wahrscheinlich würde sie es sowieso erfahren. Es war unmöglich, in dieser Stadt irgendwas geheim zu halten. Vielleicht sollte er es ihr also besser selbst erzählen, bevor sie es von jemand anderem erfuhr.

Er versuchte, nicht daran zu denken, wie die Polizistin ihn angestarrt hatte. Voller Ekel. Als ob er nicht mal ein Mensch wäre. Und dann dieser Daniel Bradley! Was für ein Irrer! Man hätte glauben können, er sei persönlich involviert, so wie er sich benommen hatte. Wieder spürte Peter das innere Zittern, das ihn gepackt hatte, als er Bradleys Waffe auf sich gerichtet sah. Er könnte jetzt tot sein, dank dieses schießwütigen Verrückten. So sind die Bullen – erst abdrücken, dann fragen.

Was für ein Märchen musste Sarah ihnen um alles in der Welt aufgetischt haben? Er stellte sich vor, wie sie es mit allen erdenklichen gemeinen Details ausgeschmückt hatte. Dass sie all seine Fehler aufgezählt hatte. Wahrscheinlich war sie völlig aus dem Häuschen gewesen, elektrisiert, weil sie mit Bullen reden konnte – wie das Opfer aus einem ihrer geliebten Kriminalromane! Es tat Peter Leid, dass Sarah so unausgeglichen wirkte, aber er musste zugeben, dass ihr Nervenzusammenbruch – oder was immer es gewesen war – ihm diesmal wahrscheinlich aus der Patsche geholfen hatte. Offensichtlich hatte ihr seltsames Verhalten die Bullen zu seinen Gunsten beeinflusst, weil sie ihm schließlich seine ganze Geschichte abgekauft hatten – sogar seine Lügen.

Ihr Haus kam Sarah verändert vor, und das lag nicht nur an den Sperrholzplatten, die vor das zerbrochene Wohnzimmerfenster genagelt waren. Das Walmdach stand drohend über den Giebeln und warf verzerrte Schatten auf die leeren Fenster, die blind auf sie herunterstarrten. Die gewaltigen Grundmauern des Hauses wirkten kalt und abweisend und die Holzstufen zur vorderen Veranda unüberwindlich. Sie stützte sich auf Morgan, als sie sich die Stufen hochzog und über die hölzerne Veranda auf die Vordertür zuging. Sogar das bekannte Geräusch ihres Schlüssels beim Aufschließen der Tür klang unheilvoll, fremd. Sie humpelte ängstlich über den polierten Holzboden des Flurs und warf einen argwöhnischen Blick ins vordere Treppenhaus, wo sie den Eindringling das erste Mal gehört hatte. Morgan, immer noch besorgt, folgte ihr. Sie bemühte sich, für heitere Stimmung zu sorgen und plapperte etwas von Abendessen und einem netten kühlen Drink.

Sarah blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen und studierte jedes Detail, als ob sie Inventur machte. Der Geruch der kalten Asche im gemauerten Kamin stand im Raum. Und der Überzug des Ohrensessels, in dem sie gelesen hatte, war verrutscht, die Kissen mit dem Rosenmuster lagen auf dem Boden verstreut. Ansonsten war alles in Ordnung. Das Zimmer hatte sich seit Samstag kaum verändert. Ehrlich gesagt, hatte sich das ganze Haus seit den Lebzeiten ihrer Großeltern kaum verändert. Jahrelang war es möbliert vermietet gewesen, sodass die Sachen ihrer Großeltern praktisch unberührt geblieben waren. Als Sarah und Peter hier einzogen, strich sie die Wände waldgrün, um die satten, warmen Farbtöne der Eichenholzleisten und der Walnussmöbel besser zur Geltung zu bringen. Sie hängte weiße Vorhänge auf und ersetzte die abgetretenen Teppiche durch einen dunkelroten Teppichboden. Alles andere hatte sie jedoch so gelassen. Nach wie vor standen die Bücher ihres Großvaters in den Regalen, und seine steinernen Tierskulpturen zierten noch immer den Kaminsims; der schwarze Rabe beäugte sein Revier mit der gewohnten Gemessenheit. Aber irgendetwas war anders als sonst. Sarah legte den Kopf schräg und versuchte, den Unterschied zu erkennen. Es war – irgendwie kalt hier drinnen. Ungemütlich.

»Ich werde ein Fenster aufmachen«, schlug Morgan vor. »Wir betten dich aufs Sofa und später mache ich den Kamin sauber.«

»Du musst nicht –«

»Doch, das tue ich. Du setzt dich hin. Ich hole uns was zu trinken.«

Morgan übernahm das Kommando. Sie versorgte Sarah mit Kissen, einem Sandwich und einem Glas Eistee. Sie öffnete den Umschlag, der zwei Schmerztabletten enthielt, die der Arzt Sarah für zu Hause mitgegeben hatte, und drückte sie ihr in die Hand. Über ihr Handy rief sie bei der Telefonfirma an, um die Reparatur von Sarahs Apparat in die Wege zu leiten. Im Kühlschrank fand sie eine Flasche Weißwein, von dem sie sich ein randvolles Glas einschenkte, anschließend zündete sie sich eine Zigarette an. Dann bestand sie darauf, die ganze Geschichte zu erfahren.

Sarah schaffte es nicht, über die seltsamen Details zu sprechen – die Leiter, den Wäscheschacht, den Brieföffner –, selbst wenn sie sich zusammenhängend daran hätte erinnern können. Sie fühlte sich noch benommener als vorher. Benommen und schrecklich schläfrig.

»Ich bin gestürzt«, sagte sie. »Die Treppe runter.«

»Aber wie? Im Haus?«

»Ja. Morgan? Ich glaube, ich kann mich nicht mehr wach halten.«

»Gut, dann leg dich schlafen. Wir unterhalten uns morgen. Ich bleibe heute Nacht hier«, sagte Morgan. »Ich werde ein paar Tage bleiben. Keine Widerrede. Ich lasse dich nicht allein.«

Sarah protestierte nicht. »Es sähe Peter ähnlich, mich so zu erschrecken«, sagte sie verschlafen.

»Schschsch«, machte Morgan. Sie stopfte Sarah ein Kissen unter den Kopf und deckte sie mit einer Steppdecke zu. »Peter ist nicht hier.«

»Ich weiß nicht, warum er die Telefonleitung durchgeschnitten hat«, murmelte Sarah. »Das geht einfach zu weit, selbst für seine Verhältnisse.«

»Niemand hat die Telefonleitung durchgeschnitten, Süße. Es ist einfach ein kaputtes Kabel oder so was.«

»Vielleicht«, sagte Sarah.

»Ich schlafe im Gästezimmer im ersten Stock.« Morgan schaltete das Licht aus. »Ruf mich einfach, wenn du was brauchst.«

»Gute Nacht«, sagte Sarah. Sie war wirklich erschöpft. Ihre Augen fielen zu und sie war kurz davor wegzudämmern. Aber als sie Morgan die Treppe hinaufgehen hörte, überlief sie ein kalter Schauer und plötzlich hatte sie Angst.

»Morgan!«

Morgan kam zurückgelaufen. »Was ist denn?«

»Könntest du ein Licht anlassen? Im Flur?«

»Natürlich.« Morgan schaltete das Licht ein.

»Und vielleicht diese Lampe hier drinnen?«

»Wird gemacht.« Morgan knipste sie an. Dann sah sie auf Sarah hinunter und lächelte. »Keine Sorge. Du kommst schon wieder auf die Beine.« Sie gab ihrer Cousine einen Kuss und ging wieder nach oben, wo sie A Chill at Midnight las, bis sie in einen tiefen Schlaf fiel. Von den knackenden Fußböden und klappernden Fensterläden, die Sarah die ganze Nacht lang in ihren Träumen verfolgten, merkte sie nichts.

Nebenan hatte Mark Curtis Schwierigkeiten, sich auf seine Hausarbeit in Psychologie zu konzentrieren. Kurz vor Mitternacht hörte er ein Auto vorfahren und sah das Scheinwerferlicht über die Wand seines Zimmers huschen. Dann verstummte der Motor und die Lichter gingen aus. Er wartete auf das Geräusch der zuschlagenden Autotür, hörte aber nichts. Nach ein paar Minuten Stille wurde Mark neugierig. Er schaltete die Schreibtischlampe aus, ging ans Fenster und spähte hinter der Gardine nach draußen. Nach den Ereignissen von Samstagabend war er vorsichtig. Er wollte in keine weiteren Tragödien verwickelt werden.

Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er einen Mann ausmachen, der in einem schwarzen Jetta mit getönten Scheiben saß. Er erkannte den Wagen und das Profil des Mannes. Es war der Cop, der am Samstag seine Waffe gezogen hatte. Offensichtlich beobachtete er Sarahs Haus. Aber warum? Mark hatte gesehen, wie sie den Ehemann verhaftet hatten. Er war in Handschellen abgeführt worden. Also warum sollte man dann noch das Haus bewachen?

Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, schaltete die Lampe wieder ein und versuchte sich noch mal an der Zusammenfassung seiner Hausarbeit. Aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Alle paar Minuten trat er wieder ans Fenster. Dieser Cop war ganz schön beharrlich. Er saß auch um drei Uhr noch da, als Mark schließlich aufgab und ins Bett ging.

Am nächsten Morgen wachte Sarah von den Geräuschen auf, die Morgan beim Kaffeekochen und Pfannkuchenbacken in der Küche machte. Sie humpelte ins Bad und schaffte es, zu duschen, wobei sie ihren Gips mit einem Müllsack schützte, wie die Krankenschwester ihr geraten hatte. Die Prozedur war umständlich und ermüdend, aber nach der Dusche fühlte sie sich erfrischt. Lächelnd setzte sie sich an den Frühstückstisch.

»Guten Morgen«, sagte Morgan. »Du siehst schon besser aus.«

»Ich fühle mich auch besser«, stimmte Sarah ihr zu. »Ich glaube, diese Schmerzmittel haben mir den Verstand ein bisschen benebelt.«

»Ich löse das Rezept heute Nachmittag für dich ein«, sagte Morgan. »Heute muss ich unbedingt in den Laden. Es passt mir gar nicht, dich allein zu lassen, aber ich muss die Frühjahrssachen endlich wegräumen. Wirst du alleine klarkommen?«

»Natürlich. Mir geht’s wirklich viel besser – und mach dir keinen Stress wegen dem Rezept, okay? Diese Tabletten haben mir das Gefühl gegeben, mein Kopf sei mit Watte voll gestopft. Ehrlich gesagt, halte ich da lieber die Schmerzen aus.«

Nachdem Morgan sie ermahnt hatte anzurufen, falls sie etwas brauche, war sie gegangen. Sarah legte sich auf die Couch, schlüpfte unter die Decke und schlief noch mal zwei Stunden. Als sie aufwachte, fühlte sie sich sogar noch besser. Das Zimmer um sie herum und ihre Gedanken hatten endlich wieder Konturen angenommen. Sie fühlte sich wieder wie sie selbst. Ihr Körper war zwar etwas steif und zerschlagen, aber ihr Geist hellwach. Sie schwor sich, es fortan bei Aspirin zu belassen. Davon nahm sie gleich zwei in einem Glas Limonade und humpelte dann auf die Veranda hinaus, um sich die Tageszeitung zu holen.

Die Sonne schien strahlend und Sarah verspürte plötzlich wenig Lust, den ganzen Tag allein im Haus zu verbringen und vor sich hin zu brüten. Sie musterte die drei breiten Stufen, die hinunter auf den Bürgersteig führten. Gestern hatte sie es mit Morgans Hilfe hier herauf geschafft, aber runter sah es schwieriger aus, beängstigender. Sie drehte sich zur Seite und umfasste das Geländer mit der Rechten. Im selben Moment rutschte die rechte Krücke unter ihrem Arm weg und landete unten im Blumenbeet. Verdammt. Sarah manövrierte die linke Krücke auf die zweite Stufe. Langsam senkte sie das rechte Bein hinunter und schwang dann das linke, eingegipste hinterher. Eine Sekunde lang schwankte sie, dann kam sie wieder ins Gleichgewicht. Na bitte. Sie hatte es geschafft. Jetzt noch zwei Stufen.

»Hallo!«

Sie sah auf und erblickte ein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht unter dunklen Locken über der Hecke des Nachbargartens. Dr. Allards neuer Mieter. Ein junger Mann in Sarahs Alter.

»Sie sehen aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen.« Er lief rasch um die Ecke herum und über den Rasen. Bevor sie protestieren konnte, stand er schon neben ihr und hielt ihr einen muskulösen Arm zum Anlehnen hin.

»Ich will es allein versuchen«, sagte Sarah.

»Na gut. Aber ich bleibe bei Ihnen. Ich werde Sie auffangen.«

Vorsichtig hangelte sie sich hinunter und bestand darauf, die Krücke ohne seine Hilfe selbst aufzuheben. Nachdem sie wieder sicher stand, lächelte sie und streckte ihm ihre Hand entgegen.

»Sie müssen mein neuer Nachbar sein.«

»Mark Curtis«, sagte er. Er schüttelte erfreut ihre Hand. »Und Sie sind Sarah, oder?«

»Sarah Petursson.«

Sie standen da, hielten einander an der Hand und lächelten sich ein bisschen albern an. Sarah fühlte sich sofort zu Mark hingezogen, als sie in seine dunkelbraunen Augen schaute. In ihnen stand Sorge, dachte sie, und noch etwas anderes. Neugier.

Oh.

Sarah wurde rot, weil ihr einfiel, dass Mark der Nachbar sein musste, der sich um das zerbrochene Fenster gekümmert hatte. Er musste den Tumult am Samstag mitbekommen haben. Ja. Das konnte man ihm ansehen. Sonst hätte er ihre Verletzung angesprochen, Fragen gestellt. Sie fühlte sich zu einer Entschuldigung genötigt. Widerwillig entzog sie ihm ihre Hand.

»Sie haben die Bretter vor das kaputte Fenster genagelt, nicht wahr?«

Er nickte.

»Es tut mir Leid, was an jenem Abend vorgefallen ist. Es war –«

Er hob eine Hand, um sie zu beschwichtigen. »Hey – das geht mich gar nichts an.« Er lächelte. »Ich bin nur froh, dass Sie in Ordnung sind.«

»Naja. Mehr oder weniger.« Sie lachte. »Ich denke, ich werde versuchen, ein bisschen spazieren zu gehen.« Sie deutete mit dem Kopf den Bürgersteig hinunter. »Danke für Ihre Hilfe.«

»Keine Ursache. Soll ich Sie vielleicht begleiten?«

»Nein, danke. Ich werde nur um den Block gehen.« Sie ließ ihn in ihrem Garten stehen und humpelte los. Sie wollte sich ein bisschen Bewegung verschaffen, gelenkig bleiben und auf keinen Fall zurück ins Haus.

Sarah hielt den Blick gesenkt und achtete auf Unebenheiten. Irgendwann am Wochenende mussten die Nachbarskinder den Bürgersteig mit bunter Kreide verziert haben. Vor die Einfahrten waren lauter Botschaften gekritzelt; Chelsea liebt Jason. Alanna ist die Beste!!!!! Himmel-und-Hölle-Spiele in Rosa und Gelb zogen sich den halben Block entlang. Die großen, krakeligen Zahlen hatten kaum Platz in ihren Kästchen. Die kleinen Vorgärten waren sorgfältig gepflegt und meist mit Tränenden Herzen und Azaleen bepflanzt. Hier in Wolesley waren die hohen Häuser so eng gebaut, dass ihre Dachsimse einander überlappten, und die riesigen Ulmen auf beiden Straßenseiten hatten ihre Äste so weit ausgestreckt, dass sie sich hoch über der Straßenmitte berührten. Sonnenlicht drang selten durch, und so war jedes sonnige Fleckchen Erde dicht bepflanzt. Leidenschaftliche Gärtner lebten sich, frustriert von ihren schattigen Gärten, aus, wo sie nur konnten. Sie gruben den Grünstreifen zwischen Gehsteig und Straße auf und säten dort Ringelblumen, Oregano und manchmal sogar Tomaten, obwohl das riskant war – eine zu große Versuchung für so manchen Passanten. Um die Bushaltestelle herum blühten Tulpen und Narzissen, und wilder Wein hatte begonnen, das Haltestellenschild hinaufzuklettern. Neben dem Bordstein sah Sarah die grünen Knospen von Pfingstrosen, Gänseblümchen und Taglilien. Zweifellos, der Sommer hielt Einzug in Winnipeg. Mit ihm kam der Manitoba-Marathon, an dem Sarah in diesem Jahr nicht teilnehmen würde. Ihre Arme schmerzten, aber sie kämpfte sich weiter, entschlossen, bis zur Westminster Avenue zu kommen.

Sie war selbst überrascht, es den ganzen Weg bis zu Zinas Café geschafft zu haben. Dort ertrug sie ein paar Minuten lang das Mitleid von Zina und ihren Gästen. Dank Morgan hatten alle schon von ihrem »Treppensturz« gehört, und Sarah war dankbar, keine Erklärungen abgeben zu müssen. Sie blieb nur so lange, wie sie brauchte, um ein Exemplar von A Chill at Midnight zu erstehen. In den langen, leeren Tagen, die vor ihr lagen, würde sie etwas zum Lesen brauchen.

Tod um Mitternacht

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