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Annas Behauptungen hinsichtlich Alfreds Untreue waren Bettys kleinste Sorge. Anna verstand nichts von normalen Beziehungen, dachte Betty. Ihr Vater hatte ihre Mutter fortwährend betrogen, und auch wenn Betty diesen Teufelskreis im Laufe ihres Lebens durchbrochen hatte, befand sich Anna immer noch darin. Betty drückte den Wischmopp fester auf den Parkettboden des Flures. Quietsch, quietsch. Dabei stellte sie sich ihre Schwester vor, die als kleiner Hamster in einem Laufrad rannte. Jeder Mann und jede Frau, mit denen Anna jemals enger verbunden gewesen war, hatten sie in irgendeiner Weise betrogen. Und dieses Muster würde sich immer weiter fortsetzen, dachte Betty, solange Anna sich den Verstand mit ihrer Sauferei benebelte.

Aber Betty war anders. Sie hatte zu trinken aufgehört. Na ja, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und sie und Alfred waren glücklich verheiratet. Zumindest waren sie einander treu. Zugegeben, Alfred war, als Betty ihn das erste Mal oben beim See getroffen hatte, noch mit seiner zweiten Frau verheiratet gewesen – mit Daniel Bradleys Mutter. Aber das zählte in Bettys Augen nicht. Schließlich war das über zehn Jahre her.

Sie wrang den Mopp aus und trug den Eimer nach draußen, um das Wasser auf den Hof zu kippen. Obwohl der Tag überraschend kühl war, parkte am Bordstein ein rotes Sunbeam-Cabrio mit offenem Verdeck. Der Wagen wirkte abfahrbereit für eine sommerliche Spritztour. Betty bewunderte das Auto eine Minute lang und fragte sich, wem es wohl gehöre. Dann ging sie um die Rückseite des Hauses herum, damit sie nicht über den frisch gewischten Boden laufen musste, und kam durch die Küche wieder herein.

Sie schlängelte sich durch die Stapel aus Bücherkisten zum Besenschrank und verstaute ihre Putzsachen. Alfred war auf irgendeinem Verlegertreffen in Toronto und würde nicht vor Sonntag zurück sein. Gregory arbeitete oben am Manuskript eines neuen Kochbuchs, und Betty hatte das restliche Haus für sich. Sie zog den Staubsauger ins Wohnzimmer und wollte ihn gerade einschalten, als das Telefon klingelte. So schnell es ging, bewegte sie sich durch das Labyrinth in ihrer Küche, aber bis sie den Hörer endlich in der Hand hielt, hatte Gregory das Gespräch schon auf dem oberen Apparat angenommen. Betty wollte gerade wieder auflegen, als sie den Namen »Cady Brown« hörte. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und lauschte.

»Wie zur Hölle ist sie an Quinns Telefonnummer gekommen?«, erkannte Betty die Stimme ihres Mannes. Wovon redete er? Warum rief Cady Brown Alfred in Toronto an?

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Gregory. »Ich habe ihr jedenfalls nicht gesagt, dass Sie bei Quinn sind.«

»Sag ihr bitte überhaupt nichts«, erwiderte Alfred.

Bettys Furcht legte sich ein wenig, während sie den Rest der Unterhaltung verfolgte. Es ging nur ums Geschäft. Cady versuchte, Walter White zu kontaktieren, und Alfred trug Gregory auf, sie hinzuhalten, bis er zurück wäre.

»Wer ist denn da? Ist da noch jemand bei dir im Büro?«, fragte Alfred.

»Nein. Ich bin allein.«

»Ich höre da doch jemand.«

Betty hielt den Hörer von ihrem Mund weg.

»Wie auch immer, Alfred«, sagte Gregory. »Ich habe nach Walter Whites Adresse gesucht. Es sind ein paar Briefe für ihn gekommen. Fanpost, schätze ich. Ich sollte sie an ihn weiterleiten. Wo wohnt er denn?«

»Sein Agent steht in meinem Adressbuch«, sagte Alfred. »Ich werde mich darum kümmern, wenn ich wieder da bin.«

»Wenn Sie mir sagen, wo das Buch ist –«

»Das kann warten«, sagte Alfred.

Betty wusste, wo das Adressbuch war, aber sie konnte jetzt schlecht dazwischengehen und zugeben, dass sie gelauscht hatte. Sie legte so vorsichtig wie möglich auf und kehrte zu ihrem Staubsauger zurück.

Als der Telefontechniker kam, brauchte er lediglich zehn Minuten, um den Verteilerkasten vor Sarahs Haus zu überprüfen, den Apparat im Haus zu testen und zu verkünden, dass der Anschluss wieder funktioniere.

»Woran lag es denn?«, fragte Morgan.

»Defekt.«

»Defekt?«, fragte Sarah. »Oder durchgeschnitten?«

Er zuckte mit den Schultern. Eifrig packte er Werkzeug und Kabel in eine alte Werkzeugkiste aus Metall.

»Sah es aus, als wäre es durchgeschnitten worden?«, fragte Morgan.

»Schon möglich.«

»Haben Sie sich die Enden nicht angesehen?«, fragte Sarah. »War die Leitung mit etwas Scharfem durchgeschnitten? Mit einer Klinge vielleicht?«

Der Monteur stand auf und begann, etwas in ein Auftragsformular zu kritzeln.

»Oder mit einer Schere?«, beharrte Sarah. »Einer Zickzackschere?«

Gelassen steckte er Stift und Block in die Tasche seines Overalls. Dann hob er den zerbeulten Werkzeugkoffer hoch, sodass sie ihn gut sehen konnte. »Wonach sieht das hier für Sie aus?«, fragte er. »Nach einem tragbaren FBI-Labor?«

Dann ging er.

Das einzige nicht hübsch eingerichtete Zimmer in Cady Browns kleinem Apartment war ihr Arbeitszimmer. Die Wände waren noch genauso langweilig weiß wie vor fünf Jahren, als sie hier eingezogen war. Nur waren sie jetzt einen Ton schmuddeliger. Keine Pflanzen oder irgendwelches Dekor zierte die staubigen Flächen. Die grauen Jalousien dienten nur dazu, das Sonnenlicht abzuhalten, und schlichte, funktionale Bücherregale säumten die Wände. Ein gefährliches Gewirr aus Kabeln lief kreuz und quer über den Fußboden und verband zwei Fernseher, zwei Videorekorder, zwei Telefone sowie zwei Computer miteinander. Cady saß an einem der beiden Computer und suchte Informationen im Internet.

Die allgemeine Suche nach den Midnight-Büchern hatte nur erbracht, was sie bereits wusste. Die ersten beiden Bücher der Reihe hatten ein großes Medienecho erzeugt und Bombenkritiken bekommen. Aber bis dato war nirgends ein Wort über Walter White, den Autor, geschrieben worden. Sie hatte auch bereits die Kataloge der großen nordamerikanischen Bibliotheken durchsucht und war auf siebzehn verschiedene Autoren mit Namen Walter White gestoßen. Keiner davon klang jedoch besonders viel versprechend.

Aber schließlich hatte Cady Gregory dazu gebracht, in Alfreds Akten zu schnüffeln, und er hatte ihr einen bedeutenden Hinweis gegeben: den Namen von Walter Whites Agenten. Damit war sie wieder auf einer heißen Spur. Laut Gregory wurde White von einem gewissen Bill Wesley der literarischen Agentur Pen and Ink vertreten. Doch Cady fand schnell heraus, dass Pen and Ink nicht mehr existierte. Und es gab keinen Bill Wesley unter den Mitarbeitern irgendeiner anderen kanadischen Agentur, die sie überprüft hatte. Vielleicht arbeitete er bei einer amerikanischen Agentur, aber es wäre verrückt, die endlose Liste amerikanischer Agenturen durchzugehen. Außerdem gab es da ja noch einen weitaus viel versprechenderen Hinweis, dem sie nachgehen konnte. Sie besaß nämlich noch eine weitere Information über Bill Wesley, abgesehen von seinem ärgerlicherweise sehr verbreiteten Namen. Er lehrte an der University of Manitoba, direkt hier vor Ort. Das war alles, was Gregory bisher rausgefunden hatte, aber mit ein wenig Glück könnte es ausreichen.

Sie ging auf die Website der Universität und klickte auf den Link »Fakultätsmitglieder«. Kein Bill Wesley. Einer plötzlichen Eingebung folgend tippte sie »Walter White« ein. Ohne Erfolg. Sie konnte sich nicht entscheiden, in welchem Fachbereich Wesley wohl zu suchen wäre. Vermutlich Englisch, schließlich war er Literaturagent. Aber wenn es wirklich Englisch war, müsste Gregory ihn dann nicht kennen? Andererseits, es war eine große Uni und Gregory war nicht gerade der hellste Bursche, den sie je getroffen hatte. Sie suchte die Nummer des Lehrstuhlleiters heraus und wählte.

Professor Dawson war beschäftigt und klang abwesend, aber er sagte, er könne sich vage an Wesley erinnern, der jedoch schon längst in Pension sei. Wesley lebe nicht mehr in Winnipeg, soweit er wisse. Er gab ihr Wesleys letzte bekannte Postanschrift und wünschte ihr viel Glück. Cady sah auf die Adresse und dann aus dem Fenster. Es war zu spät, um heute noch dort hinauszufahren. Aber sie konnte morgen früh aufbrechen. Und wenn es endlich wärmer würde, könnte sie mit ihrem Sunbeam-Cabrio die ganze Zeit bei geöffnetem Verdeck fahren.

Jetzt, wo ihr Telefon wieder funktionierte, wählte Sarah ihren Geheimcode, um die Nachrichten auf ihrer Mailbox abzurufen. Viele Geburtstagsglückwünsche. Ein aufgelöster Kunde mit einem verspäteten Steuerbescheid, der um Hilfe bat. Und drei immer besorgter klingende Nachrichten von Mr. Knight.

»Oh, nein«, sagte sie laut. »Ich habe Mr. Knight vergessen!«

»Wer ist Mr. Knight?«, fragte Morgan.

»Mein Anwalt. In Kenora. Ich hätte am Montag einen Termin bei ihm gehabt. Das habe ich total vergessen.«

»Mr. Knight? Der Typ, der die Immobilien deiner Mutter verwaltet hat? Er ist immer noch dein Anwalt?«

»Ich habe ihn seitdem nicht mehr getroffen, aber er kümmert sich immer noch um das Treuhandvermögen.« Sarahs Mutter hatte ihr eine kleine monatliche Rente hinterlassen, die kaum ausreichte, um die Gasrechnung davon zu bezahlen.

»Ach ja«, sagte Morgan. »Der Treuhand-Bursche. Ich erinnere mich an ihn – an seinen kleinen Schnurrbart! Er muss inzwischen hundert Jahre alt sein!«

Sarah lachte. »Nicht ganz. Aber er ist –«

»Warte mal! Er wollte dich am Montag treffen? Dann rufst du ihn besser gleich an.«

»Morgan, er hat diesen Termin vor Monaten ausgemacht. Ich glaube nicht, dass es da auf ein paar Tage ankommt.«

»Aber Montag, Sarah! Montag war der erste Werktag nach deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag!«

»Und?«

»Das kann kein Zufall sein. Da muss irgendwas im Testament stehen. Tante Carolyn muss etwas zurückgehalten haben, bis du fünfundzwanzig bist. Wie Grandpa es mit dem Haus und der Insel gemacht hat, da wurde ebenfalls gewartet, bis du achtzehn warst.«

»Daran habe ich nie gedacht«, sagte Sarah bedächtig.

»Lass uns ihn anrufen und einen neuen Termin vereinbaren. Du musst da so schnell wie möglich hin.«

»Wie denn?« Sarah zeigte auf ihr Gipsbein. »So kann ich doch nicht Auto fahren. Und die Fahrt dauert mindestens drei Stunden.«

»Zwei Stunden. Und ich werde dich hinfahren. Wo ist Knights Nummer?« Morgan blätterte in Sarahs Telefonverzeichnis und hatte vor Aufregung eine ganz hohe Stimme. »Vielleicht hat Tante Carolyn dir ein Vermögen hinterlassen!«

»Du lebst in einer Fantasiewelt, Morgan«, merkte Sarah an. Aber sie rief dennoch an und sprach mit der Sekretärin ihres Anwalts. Überraschenderweise wollte Mr. Knight sie so schnell wie möglich sehen. Sie vereinbarten einen Termin für vier Uhr am nächsten Tag.

Nachdem Morgan zur Arbeit gegangen war, verbrachte Sarah den Rest des Nachmittags im Arbeitszimmer ihres Hauses und versuchte, nicht an Bloody Midnight zu denken. Sie rief den Kunden mit dem verspäteten Steuerbescheid an und bat ihn, die Unterlagen mit einem Kurier vorbeizuschicken. Es war ein Routinefall und sie schickte innerhalb einer Stunde alles per Kurier zurück. Dann verbrachte sie noch eine Stunde damit, ihren Schreibtisch aufzuräumen und ihre Akten neu zu sortieren, bis sie sich eingestehen musste, dass es nicht mehr zu tun gab. Sie hatte ihren Terminkalender absichtlich freigehalten, um Zeit für sich zu haben, und jetzt war Zeit für sich genau das, was sie am wenigsten wollte.

Morgan rief im Verlauf des Abends dreimal an, um sich nach Sarah zu erkundigen und sich dafür zu entschuldigen, dass sie so lange arbeite. Jedes Mal versicherte Sarah ihr, dass alles in Ordnung sei. Sie würde sich zum Abendessen ein paar Rühreier und Toast machen, sagte sie, und den Abend mit der Lektüre des neuen Krimis verbringen. Nein, sie brauche keine Schmerzmittel. Nein, sie habe keine Angst. Ihr ginge es absolut gut.

Sie hatte sich selbst eingeredet, dass es keinerlei Grund zur Sorge gäbe. Sie wusste, dass sie die Sache mit dem Eindringling nicht geträumt oder herbeifantasiert hatte. Aber sie glaubte nicht, dass es ein Fremder gewesen war. Irgendein Verrückter, der Frauen von Buchhandlungen und Bibliotheken nach Hause folgte, sich die Titel ihrer Krimis notierte, recherchierte und dann Verbrechen imitierte? Das war eine absurde Idee. Nein. Es musste Peter gewesen sein, und wenn er es gewesen war, dann konnte ihr nichts passieren.

Es war gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass Peter das Buch gelesen und sich das ganze Szenario absichtlich ausgedacht hatte. Das passte zu seinem bisherigen Verhalten, nur, dass es jetzt noch extremer geworden war. Viel zu extrem. Aber warum? Zweifellos, um sie derart zu ängstigen, dass sie das Haus verkaufte. Dabei hatte er sicher nicht vorgehabt, sie so zu erschrecken, dass sie in Panik in den Wäscheschacht sprang und sich das Bein brach. Und im Nachhinein, da sie sich so schwer verletzt hatte, konnte er seinen irren Plan ja wohl kaum zugeben.

Nein, er würde nichts zugeben. Aber sie war sich auch ziemlich sicher, dass er es nicht noch mal versuchen würde.

Trotz der Logik ihrer Theorie konnte Sarah sich nicht dazu überwinden, nach dem Essen wie üblich in ihrem Sessel am Feuer zu lesen. Sie nahm den Kassettenrekorder und das Buch mit in ihr Büro, wo es zwei große Fensterfronten gab. Hier drin war es viel heller, viel offener, und sie fühlte sich gleich sicherer. Das Büro lag auf der Nordseite ihres Hauses, in Rufweite zu Dr. Allard. Tatsächlich glaubte Sarah, sie könne wahrscheinlich von einem ihrer Fenster aus an der Klingel des Seiteneingangs von Dr. Allard läuten, wenn es sein müsste.

Die Straßenlaterne vor dem Haus war immer noch kaputt. Aber heute Nacht war es wolkenlos und frisch, und die schmale Sichel des zunehmenden Mondes schien hell durch die Fenster. Sarah starrte hinaus in den Nachbargarten. Die Blätter der alten Geißblatthecke zwischen den Häusern schienen wie versilbert, und der Rasen strahlte in blassem Licht. Dr. Allard hatte ihre Pflanzen zugedeckt, um sie vor dem Nachtfrost zu schützen, und ihren Gemüsegarten in eine Geisterlandschaft verwandelt. Die seltsam asymmetrischen, mit weißem Stoff umhüllten Tomatenstauden leuchteten im Mondlicht so unheimlich wie kleine schneebedeckte Grabsteine. Sarah zog die Vorhänge zu.

Sie schaltete den Rekorder ein und schlug das Buch auf. »A Chill at Midnight von Walter White, Kapitel eins«, sagte sie. Ihre Stimme klang blechern. Sie schien von den Wänden widerzuhallen und ein seltsames Echo von der hohen Decke zurückzuwerfen. Sie nahm sich vor, sich zu entspannen. Der Trick einer guten Aufnahme, das wusste sie, bestand darin, die eigene Stimme völlig zu vergessen und sich ganz von der Geschichte fesseln zu lassen. Wenn es klappte, würde die Aufnahme sehr natürlich klingen. Sie holte tief Luft und begann mit der ersten Seite.

»Als die ersten unschuldigen Schneeflocken am Weihnachtsmorgen vom Himmel segelten, hätte niemand vermutet, dass sie nur die Vorboten des schlimmsten Schneesturms sein würden, der die Stadt in den letzten hundert Jahren heimgesucht hatte. Die Erwachsenen lächelten still, als begeisterte Kinder mit ihren Schlitten auf die Straße rannten. Die Leute drehten ihre Thermostate höher und machten sich keine Gedanken übers Energiesparen. Sie ahnten nicht, dass der eskalierende Blizzard bis zum Einbruch der Nacht einen Stromausfall verursachen und dass alle Straßen in die Stadt – wie auch alle aus ihr hinaus – vollkommen unpassierbar sein würden.« Sarah machte eine Pause und spulte den Rekorder zurück. Sie spielte das Band ab, um sicherzugehen, dass das Gerät richtig aufnahm. Ihre Stimme war deutlich genug. Sie stoppte nach den Worten »unpassierbar sein würden« und drückte wieder auf Record. Sie fuhr fort: »Sie ahnten nicht, dass jemand auf den winterlichen Straßen umherschlich …«

Draußen war die Temperatur an diesem Frühsommerabend in Wolseley plötzlich auf null Grad gefallen.

Tod um Mitternacht

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