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Daniel Bradley wendete scharf auf dem Broadway, als der Notruf ihn über Funk erreichte. Seine Schicht war zwar zu Ende, aber er befand sich nur zwei Blocks von der genannten Adresse entfernt.

Er verständigte Marnie über Funk, weil er wusste, dass sie auch noch in der Nähe war. Er hatte sich vor nicht einmal fünf Minuten bei Sals von ihr verabschiedet.

»Ich bin an der Ecke Broadway und Main«, antwortete Marnie. »Komme direkt dorthin. Over.«

Daniel hörte die Sirene ihres Wagens, bevor sie die Funkverbindung beendete. Marnie fuhr den schwarzweißen Streifenwagen. Daniel seinen Jetta. Aber er war noch in Uniform und bewaffnet. Er bog in die Home Street ein. Die nächste Straßenlaterne war dunkel, ausgebrannt. Aber er wusste aufgrund der Adresse, dass das Haus in der Nähe des Flusses stehen musste. Da! Ein Verandalicht leuchtete am Ende des Blocks. Daniel gab Gas. Er erblickte eine winzig kleine, etwa sechzigjährige Frau, die am Bordstein stand. Sie trug einen schäbigen Morgenmantel und Hausschuhe. Aufgeregt winkte sie ihn heran.

»Es ist bei meiner Nachbarin!«, platzte Dr. Allard heraus. Sie zeigte auf das Haus nebenan.

Daniel stieg aus dem Wagen. »Was ist passiert, Ma’am?«

»Ich habe Schreie gehört. Aus dem Haus da! Dort muss etwas Schreckliches passiert sein.«

Daniel lauschte. Er hörte nichts außer dem Wind, der an den Ästen der Ulmen rüttelte. Er zog die Taschenlampe aus seinem Gürtel und öffnete das Holster seiner Waffe. Dann hörte er die Schreie, schrill und hysterisch, als ob jemand ermordet würde. In mehreren Fenstern jenseits der Straße gingen Lichter an. Daniel eilte auf das Haus zu.

Als er näher kam, flog die Haustür auf, und ein Mann kam direkt auf ihn zugestürzt. Daniel zog seine Waffe.

»Keine Bewegung?«

Der Mann erstarrte.

»Nehmen Sie die Hände hoch. Zeigen Sie sie mir! Ich will Ihre Handflächen sehen. Jetzt!«

Der Mann gehorchte. Eine seiner Hände war dunkel von Blut. Daniel hielt seine Waffe weiter auf den Burschen gerichtet, ließ seine Augen aber kurz über die Umgebung schweifen.

»Meine Frau!«, schrie der Typ. »Sie braucht Hilfe.«

»Auf den Boden«, befahl Daniel. »Hände hinter den Kopf.« Der Mann ließ sich auf den Rasen fallen, und Daniel kam vorsichtig näher. Das Blut an seinen Händen stammte offensichtlich von ihm selbst. Seine rechte Handfläche war böse aufgeschnitten und er schrie auf, als Daniel sie berührte. Trotzdem legte Daniel ihm Handschellen an und befahl ihm, liegen zu bleiben.

Marnie fuhr vor und sprang aus dem Wagen, die Hand an der Waffe. Dr. Allard zog sich sicherheitshalber auf ihre Veranda zurück. Sie sah Mark im Bademantel an der offenen Haustür stehen. Streng bedeutete sie ihm, zurück ins Haus zu gehen.

»Du bewachst ihn«, sagte Daniel zu Marnie. »Ich gehe rein.«

»Im Keller«, sagte der gefesselte Mann. »Gehen Sie geradeaus durch die Küche und die Treppe runter. Sie ist schwer verletzt.«

Sarah versuchte, wieder zu schreien, als sie den riesigen Schatten von Daniel Bradley auf sich zukommen sah, aber sie war schon so heiser, dass sie kaum noch krächzen konnte. Seine Taschenlampe beleuchtete eine dünne Kette, die über ihm hing. Er zog daran. Im Schein einer nackten Glühbirne konnte er die Frau nun deutlich sehen. Sie lag auf einem riesigen Wäschehaufen an der nackten Mauer. Ihr Gesicht war zerkratzt und aufgeschlagen, die Augen hatte sie fest zusammengekniffen, entweder wegen des grellen Lichts oder aus Furcht, da war er sich nicht sicher.

In so einer Situation würde Daniel normalerweise losblaffen: »Polizei Winnipeg!« Doch stattdessen hörte er sich sanft sagen: »Es ist in Ordnung. Ich bin Polizist. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sehen Sie? Machen Sie die Augen auf.«

Sarah blinzelte, und als sie die Uniform sah, seufzte sie und verlor das Bewusstsein.

Morgan wachte vom weit entfernten scheppernden Klingeln des Telefons auf. Das musste Sam sein!

Sie sprang aus dem Bett und lief zum Telefon in der Küche, damit sie sich einen Kaffee kochen konnte, während sie mit ihrem Bruder plauderte.

»Hey Sam«, sagte sie, als sie den Hörer abnahm.

»Hey Morgie. Bist du schon auf?«

»Jetzt schon. Was gibt’s Neues in Vancouver? Wie geht’s Mum?«

»Gut. Ihr geht’s gut. Wir haben mit ihr am Samstag einen Ausflug auf den Damm gemacht.«

»Irgendwelche Wale gesehen?« Morgan löffelte großzügig Kaffee der Sorte French Dark Roast in die Kaffeemaschine.

»Keine Wale, nur Segelboote. Mum liebt es, ihnen zuzusehen, weißt du. Ich glaube, es erinnert sie ans Segeln auf dem Lake of the Woods.«

»Ja, das waren noch Zeiten«, sagte Morgan wehmütig.

»Du weißt ja, dass wir ein Segelboot haben. Wann immer du kommen magst, machen wir mit dir eine Fahrt aufs Meer.«

»Ich habe hier ein Geschäft, das ich am Laufen halten muss, wie du zu vergessen scheinst.«

»Dann lass es sausen.« Sam lachte. »Mach einen Schnorchelladen auf Galiano Island auf.«

»Haha«, sagte Morgan. Ihre Neigung, Sachen »sausen« zu lassen, war ein Running Gag von Sam. Auf dem College war sie von Kunst zu Hauswirtschaft und weiter zu Modedesign geflattert, ohne je in einem der Fächer einen Abschluss gemacht zu haben. Dann hatte sie eine Reihe kurzlebiger Geschäfte eröffnet: einen Schmuckkiosk, eine zum Scheitern verurteilte Kunstgalerie und jetzt den Klamottenladen. »Ich hänge an Vintage«, sagte sie zu ihm.

»Ich vergaß«, sagte er. »Wie laufen denn eigentlich die Geschäfte?«

Sie plauderten eine Weile, und Morgan wurde auf den neuesten Stand der Familienereignisse gebracht. Ihrer Mutter Darlene ginge es »praktisch unverändert«, sagte Sam. Kurz nach dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren hatte sie einen Schlaganfall erlitten, der sie das Gedächtnis gekostet und sie leicht verwirrt hatte. Deshalb war Sam nach Vancouver gezogen, um sich um sie zu kümmern. Doch Darlenes körperlicher Gesundheitszustand war gut. Sams Frau Didi sah täglich nach ihr, um sicherzustellen, dass sie genügend aß und regelmäßig spazieren ging. Morgan unterdrückte einen Anflug von Schuld, als sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter sie kaum noch von Didi unterscheiden konnte.

»Wie geht’s Sarah?«, fragte Sam. »Ich habe es gerade bei ihr probiert, aber sie geht nicht ran.«

»Bestimmt schläft sie aus. Warum wolltest du sie anrufen? Ach ja, heute ist ja der Zwanzigste.«

»Hast du irgendwas vorbereitet?«

»Nein«, gab Morgan zu. »Ich hab es ganz vergessen.« Sie wusste, dass Sam das nicht gefallen würde. Er hatte Sarah schon immer beschützt. Seit sie im Alter von sechs Jahren zu ihnen gekommen war und Morgans Platz des verwöhnten Nesthäkchens der Familie eingenommen hatte.

»Vergiss nicht, sie heute anzurufen«, sagte Sam. »Denk dran, dass du die ganze Familie bist, die sie noch hat.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie leichthin. »Wir sind mehr als Cousinen. Wir sind Schwestern, um Mum zu zitieren.«

»Dann sei ein bisschen schwesterlich zu ihr. Zeig ihr, dass sie gemocht wird.«

»Ich mag sie, Sammy. Du weißt, dass ich das tue. Aber seien wir ehrlich, man hat nicht besonders viel Spaß mit ihr!«

Um weiteren Ermahnungen ihres Bruders zu entgehen, fragte sie nach ihren beiden Neffen und freute sich, als Sam mit ihren Fortschritten beim Segeln, ihren Musikstunden und ihrer Teilnahme an einem Wohltätigkeits-Marathon angab.

Noch lange nachdem sie aufgelegt hatte, nippte Morgan an ihrem Kaffee und dachte über Sams Familie nach. Sie konnte kaum glauben, dass die Jungs segeln lernten. Als sie ihre Neffen das letzte Mal gesehen hatte, konnte der Jüngste gerade erst seine Schuhe selbst zubinden. Sie verlor sich in einem Tagtraum, in dem sie Sams Angebot annahm, zum Segeln mitzukommen. Als Kinder waren sie oft gesegelt. Besonders Sam war geradezu süchtig nach Wasser gewesen. Als Junge hatte er von Sommer zu Sommer gelebt und sich ständig danach gesehnt, raus aufs Boot zu kommen.

Ja, das waren noch Zeiten. Als Tante Carolyn, Sarahs Mutter, noch lebte, besuchten sie sie und Sarah jeden Sommer in ihrem Haus am Lake of the Woods. Sam, Sarah und Morgan spielten stundenlang am Sandstrand von Persephone Island. Sie schwammen und erkundeten die kleine Insel, nahmen mittags Picknicks mit, die sie in den Wäldern verzehrten, und abends blieben sie lange auf, in der kleinen grünen Hütte, die ihr Großvater am Waldrand gebaut hatte. Außer Hörweite der Erwachsenen kicherten sie und spielten Quiz 21, bis ihnen die Augen zufielen. Es kam aber auch vor, dass Sam seiner kleinen Schwester und seiner Cousine so lange Geistergeschichten erzählte, bis sie sich fürchteten, die Augen überhaupt zuzumachen.

Morgan schauderte. Aber schuld daran war nicht die Erinnerung an die Geistergeschichten. Es war die Erinnerung an die Nacht, in der diese glücklichen Sommer ein für alle Mal zu Ende waren. Diese hohen, flackernden Schatten, das Husten, der Rauch, der einem Tränen in die Augen trieb. Morgan fing unwillkürlich an zu schwitzen und sie spürte, wie ihre Haut am Rücken zu kribbeln begann, als ob sich auch ihr Körper an die enorme Hitze erinnern würde. Und an Sarahs Schreie. Diese schrecklichen Schreie.

Die im Laufe einer Woche angesammelte Schmutzwäsche am Fuß des Schachts hatte Sarah wahrscheinlich das Leben gerettet. Aber ihr linker Unterschenkel war gebrochen und der linke Knöchel böse verstaucht. Ihr Gesicht und ihre Arme waren zerkratzt. Ihr Kopf brummte trotz der Schmerzmittel. Die Medikamente machten sie so benommen, dass es ihr schwer fiel, bei Bewusstsein zu bleiben. Ihr Hals war vom Schreien ganz rau.

Sie lag in einem Bett des St. Boniface Hospital, mit dem eingegipsten Unterschenkel auf einem Kissen. Sie starrte auf die Uhr an der Wand. Vier Uhr nachmittags. Der Krankenpfleger kam mit einer neuen Tablette in einem Pappbecher.

»Da ist Besuch für Sie«, sagte er. »Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«

»Wer ist es?«, fragte Sarah. Sie zuckte zusammen. Dann sah sie den Polizisten in der Tür. Derjenige, der heute Morgen in ihr Haus gekommen war, als sie geschrien hatte. Der sie beruhigt und ihre Hand gehalten hatte, als sie auf einer Liege zum Krankenwagen getragen wurde. »Ja«, sagte sie schwach. »Lassen Sie ihn rein.«

»Sie gehört Ihnen«, sagte der Pfleger zu Daniel und verließ das Krankenzimmer.

Daniel durchquerte den Raum und trat neben ihr Bett. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich … ich bin okay. Danke. Ich danke Ihnen sehr. Sie haben mich gerettet.«

»Das ist mein Job«, sagte er und zog sich einen Stuhl heran. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich setze?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er Platz und öffnete sein Notizbuch. »Ich bin Daniel Bradley, Officer beim für Sie zuständigen Polizeirevier. Können Sie mir sagen, was letzte Nacht passiert ist?«

»Ich weiß es nicht genau«, sagte Sarah. Sie konnte sich kaum an die seltsamen Ereignisse des letzten Abends erinnern. Surreale Bilder flackerten und waberten durch ihr Gedächtnis, verschwommen ineinander – eine Leiter, ein Eimerchen mit Himbeeren, eine lange Klinge, die im Dunkeln glitzerte. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, ragte drohend die Silhouette der Frau auf dem Buchumschlag über ihr auf, Blut tropfte, und immer wieder durchlebte sie das Gefühl, wie sie durch den schmalen, metallenen Wäscheschacht gesaust war und das weiche Geräusch der vibrierenden Metallplatten vernommen hatte.

»Ihr Mann sagte –«

»Mein Exmann.«

»Sie sind geschieden?«

»Getrennt.«

»Gut, also dann Ihr getrennt lebender Mann. Peter Petursson. Er sagte, er habe Sie auf dem Fußboden im Keller gefunden.«

»Ich bin gestürzt – ich bin durch den Wäscheschacht entkommen«, sagte sie. »Jemand ist ins Haus eingebrochen. Jemand hat mich durchs Haus gejagt.«

»Petursson ist eingebrochen«, sagte der Officer. »Das hat er zugegeben.«

»Das war Peter!« Sarah verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Was hat er nur gemacht? Er muss verrückt geworden sein!«

»Sie brauchen keine Angst vor ihm haben«, sagte Daniel. »Wir halten ihn in der Stadt fest, bis wir Ihre Aussage haben.«

»Er ist im Gefängnis? O mein Gott!« Was passierte da mit Peter? Und mit ihrem Leben?

»Er hat das Wohnzimmerfenster eingeschlagen und ist hineingeklettert. Hat er Sie überfallen?«

»Nein – ich meine, ja, aber – er hat nichts eingeschlagen – er ist nicht durchs Wohnzimmerfenster gekommen. Da war eine Leiter.«

»Eine Leiter?« Daniel hatte keine Leiter gesehen.

»An den Holzapfelbaum hinterm Haus gelehnt. Er muss über den ersten Stock hineingeklettert sein. Durchs Badezimmerfenster.«

Der Officer blätterte in seinem Notizbuch. »Verstehe. Eine Leiter.«

»Ich habe sie gesehen«, sagte Sarah. »Ich habe sie da draußen gesehen.«

»Peter sagte, er sei durchs Wohnzimmerfenster reingekommen. Er habe das Haus durchsucht und Sie bewusstlos im Keller gefunden.«

»Nein – nein, er war oben. Er ist in den ersten Stock hinaufgestiegen.«

»Die Scheiben des Wohnzimmerfensters sind aber zerbrochen«, sagte Daniel. »Ich war erst vor einer Stunde bei Ihrem Haus. Ihr Nachbar von nebenan war gerade dabei, das Fenster mit Brettern zu vernageln.«

»Das ist – gut. Was?« Sarah wusste, dass sie im Wohnzimmer gesessen hatte, als sie die Schritte oben gehört hatte. Wenn das Wohnzimmerfenster eingeschlagen worden wäre, hätte sie es gesehen und gehört. »Ich verstehe nicht«, murmelte sie.

Daniel fuhr mit ihrer Befragung fort, aber ihre Geschichte ergab nicht viel Sinn. Wenn sie freiwillig den Wäscheschacht hinuntergesprungen war, dachte er, war das kaum eine Begründung für den Vorwurf eines Überfalls. Besonders wenn sie Peter Petursson nicht einmal gesehen hatte, bevor sie sprang. Und das Gerede von einem Brieföffner klang offen gesagt einfach verrückt. Sie war nicht geschnitten worden.

Nach zwanzig Minuten gab er auf. Er würde Peter Petursson auf dem Revier noch mal befragen müssen. Er dankte ihr für die Zeit, die sie sich genommen hatte und wünschte rasche Besserung. Dann stand er auf und ging zur Tür.

»Ich werde morgen oder so noch mal nach Ihnen sehen«, versprach er. Er war schon auf den Flur hinausgetreten, als er ihre leise Stimme wieder hörte. Er drehte sich um. »Was haben Sie gemeint?«

»Es ist mein Geburtstag«, sagte Sarah. »Mir ist gerade eingefallen, dass heute mein Geburtstag ist.«

»Okay«, sagte Daniel. Er blickte zurück auf die schmale Gestalt auf dem Bett mit ihrem verschrammten Gesicht und den Augen, in denen Tränen standen. »Also dann, alles Gute zum Geburtstag.«

Er schüttelte den Kopf, als er das Krankenhaus verließ. Diese Frau war ganz schön durcheinander. Sie schien ihn nicht einmal erkannt zu haben.

Tod um Mitternacht

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