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Vielleicht lag es nur an dem Buch, das sie gerade las, aber Sarah Petursson fühlte sich unwohl. Sie blätterte eine Seite um und versuchte das Gefühl zu ignorieren, dass sie beobachtet wurde. Normalerweise ließ sie sich von ihrer Fantasie nicht so mitreißen, aber manchmal waren die knarrenden Dielenbretter und die klappernden Fensterläden dieses hundertjährigen Hauses einfach zu viel für ihre Nerven, besonders wenn sie wie gerade jetzt in einen guten Thriller vertieft war. Heute Abend schien jedes irritierende Knacken und Knarzen irgendwie verstärkt. Und da war ein seltsames leises Kratzen von oben zu hören. Oder kam es von draußen? Was war das? Sarah seufzte. Zum ungefähr zehnten Mal erhob sie sich aus ihrem gemütlichen Sessel und spähte aus dem Fenster in die Dunkelheit des Gartens hinter dem Haus. Was waren das für Geräusche?

Da draußen war nichts Ungewöhnliches. Nur eine kühle Mainacht mit leichtem Südwind. Die weißen Blüten des Holzapfelbaums bewegten sich in der Brise, und die Bettlaken auf der Wäscheleine schwangen vor und zurück. Ansonsten war alles ruhig. Die Bettlaken erinnerten Sarah an die Unmengen schmutziger Wäsche, die noch im Keller auf sie warteten, aber sie war definitiv nicht in der Stimmung, sie heute Abend noch in Angriff zu nehmen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine huschende Bewegung auf der schmalen Straße wahr und drehte schnell den Kopf, um zu sehen, was es war. Eine Katze. Es war nur eine Katze, die auf die Mülltonnen sprang, auf der Suche nach einem Mitternachtsimbiss. Sarah lächelte und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Die Anwesenheit der Katze beruhigte sie. Es war natürlich die Katze gewesen, die jene beunruhigenden scharrenden, kratzenden Geräusche da draußen gemacht hatte. Vielleicht auch mehrere. Sie dachte kurz und voller Bedauern an ihren eigenen Kater Max, der in diesem Winter gestorben war. Max, der sie getröstet hatte, nachdem ihre Ehe im letzten Sommer in die Brüche gegangen war. Max, der das einzige weitere Lebewesen in diesem großen alten Haus gewesen war. Jetzt wanderte sie ganz allein darin herum, und jedes Geräusch machte sie nervös.

Sie kuschelte sich in den Sessel und suchte nach einer bequemen Sitzposition. Der eigentliche Sinn eines Urlaubs, ermahnte sie sich selbst, besteht darin zu entspannen. Sie schlug das Buch erneut auf. Wo war sie stehen geblieben? Ach ja. Der Held verfolgte seinen Verdächtigen durch einen verwaisten Vergnügungspark. Aber Sarah wusste bereits, dass es der falsche Mann war. Der Vergnügungspark musste eine Sackgasse sein. Konnte gar nicht anders sein. Der Roman ging noch hundert Seiten weiter, da durfte der Held das Rätsel ja unmöglich schon lösen.

Es war eine gruselige Geschichte über einen Serienmörder, der seinen weiblichen Opfern wochenlang nachstellte, ihnen per Post teure Geschenke schickte – Halsketten mit Smaragden, juwelenbesetzte Haarspangen und schließlich einen Diamantring. Der Ring war der letzte Hinweis auf ihr Todesurteil. Danach schlich er sich in ihre Häuser, wenn sie allein waren, schnitt mit einer Zickzackschere die Telefonleitung durch und schaltete die Sicherungen ab. Das versetzte die unglücklichen Frauen in höchste Panik. Dann spielte er mit ihnen im dunklen Haus Katz und Maus – bevor er sie brutal ermordete. Schlag Mitternacht. Noch dazu mit einem silbernen Brieföffner.

Sarah wusste, dass es eine psychologische Erklärung für all diese eigenartigen Details geben würde. Sie konnte es kaum erwarten, die Motive des Täters morgen Abend mit ihrer Cousine Morgan und den anderen Mitgliedern des Buchclubs zu analysieren. Aber bis jetzt hatte sie noch nicht herausbekommen, wer der Täter sein könnte. Sie wusste nur, dass es jemand Reiches sein musste; schließlich hatte er seinen Opfern Schmuck im Wert tausender Dollar geschickt. Aber in dem Roman gab es eine ganze Reihe wohlhabender Charaktere. Es konnte jeder von ihnen sein.

Sie begann ein neues Kapitel: Der Vollmond ging über dem verlassenen Park auf und beschien die Silhouette der Achterbahn, die wie das skelettierte Rückgrat irgendeines Monströsen leuchtete

Plötzlich wurde es dunkel im Raum. Sarah erstarrte in ihrem Sessel und umklammerte das Buch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit. Ihr Mund stand zwar offen, aber sie war zu überrascht, um zu schreien.

Der neue Polizeichef von Winnipeg hatte einige Neuerungen in der Stadt eingeführt. Eine der beliebtesten war, dass in jedem Stadtviertel wieder regelmäßig ein Polizist die Runde machte.

Morgan Wakeford hielt das für eine ausgezeichnete Idee, und ihre Bewunderung für die Initiative des neuen Chefs wuchs jedes Mal, wenn sie den gut aussehenden blonden Officer sah, der für ihr eigenes Viertel, Wolseley, zuständig war. Er ging gerade an ihr vorbei, während sie am Fenster von Zinas Mystery Au Lait Café saß. Morgan prüfte ihr Spiegelbild im getönten Glas. Sie zupfte am gestickten Ausschnitt ihrer Bauernbluse und schüttelte das dichte, kastanienbraune Haar von ihren nackten Schultern. Dann hob sie die Hand und pochte zart an die Scheibe.

Der Polizist wandte sich in ihre Richtung. Morgan winkte ihm zu, und seine ernste Miene hellte sich auf, als er sie entdeckte. Er winkte zurück und tippte an seine Mütze. Seine dunkelblauen Augen strahlten geradezu. Morgan lächelte herzlich und wandte sich dann wieder dem Buch zu, in dem sie gerade las. Es würde nichts bringen, ihm zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Hinter den Buchdeckeln grinste sie in sich hinein.

»Wem winkst du da?«, fragte Zina. Sie stand mit einem Handfeger in der einen und einer Kehrschaufel in der anderen Hand hinter Morgans Stuhl. In ihrem »Mystery Au Lait Café«, einer Mischung aus Buchhandlung und Restaurant, war es heute Abend ganz schön zugegangen, aber jetzt, um Viertel nach elf, waren die meisten Gäste längst gegangen. Bis auf ihre Freundin Morgan und natürlich den allgegenwärtigen Byron Hunt, der sein Notizbuch und Unmengen von Papieren auf dem Tisch hatte liegen lassen, um telefonieren zu gehen.

»Dem neuen Cop«, sagte Morgan.

»Wem?«

»Ach, wart einfach ab, bis du ihn siehst«, sagte Morgan. »Mein Freund und Helfer.«

Zina lachte. »Du bist einfach unverbesserlich.« Sie schüttelte den Kopf und warf ihre von silbernen Strähnen durchzogenen Zöpfe nach hinten, dass ihre langen Ohrringe klingelten. »Fast dreißig, aber in Herzensangelegenheiten immer noch ein Teenager.«

»Tja, wenigstens lebe ich noch. Schau dich an – zweiundvierzig und tut so, als sei schon alles vorbei.«

»Hey«, sagte Zina. »Was vorbei ist, ist vorbei.«

»Du solltest hin und wieder in den Spiegel schauen«, erwiderte Morgan. »Es ist noch längst nicht vorbei, meine Liebe.«

Trotz des hektischen Abends sah Zina toll aus, dachte Morgan. Sie schrieb das vor allem sich selbst zu. Zina trug ausgesuchte Schätze aus Morgans exklusivem Secondhandladen. Ein hochsommerliches mintgrünes Kleid mit Blumenmuster von etwa 1967 und einen roten Zigeunerschal mit Fransen aus der gleichen Epoche – dem Summer of Love. Morgan hatte die Sachen ausgesucht, denn sie wusste, sie würden perfekt zu Zinas Rolle als Gastgeberin für die Hippies der zweiten Generation aus Wolseley, dem »Müsli-Viertel« von Winnipeg, passen.

Zina rollte mit den Augen und wendete sich wieder dem Fegen zu. Vor langer Zeit hatte sie den Dielenboden mitternachtsblau gestrichen und mit weißen und gelben Sternen verziert. Das Motiv wiederholte sich in den Vorhängen an den hohen Fenstern, in den tiefen Nischen der roten Ziegelwände sowie in den Tischdecken auf zwölf kleinen Tischen im vorderen Teil des Cafés, nahe am Fenster, wo Morgan saß. Bücherregale aus Kiefernholz, voll gesteckt mit minderten von Kriminalromanen, füllten den hinteren Teil des Cafés, wo es auch ein paar gemütliche Sessel zum Lesen und eine alte Telefonkabine aus Holz gab, aus der jetzt gerade Byron Hunt heraustrat. Er kehrte an seinen Tisch zurück und musterte seine Papiere mit ernster Miene. Unter seinem Lockenschopf glühte sein rundes, sommersprossiges Gesicht vor Anstrengung, und das, obwohl er den ganzen Tag nichts geleistet hatte, außer Kritzeln und Seufzen, dachte Morgan.

»Sperrstunde«, sagte Zina zu ihm.

»Ich weiß.« Byron notierte etwas mit Bleistift, runzelte dann die Stirn und strich es wieder durch.

Zina wandte ihre Aufmerksamkeit dem großen Regal an der vorderen Theke zu. Jeden Samstagabend erneuerte sie die Auslage und präsentierte einen neuen Thriller für das Treffen des Mystery Book Club am Sonntagabend. Sie nahm einen Filzstift zur Hand und schrieb in Druckschrift »INTERESSENTEN IMMER WILLKOMMEN« oben auf ein Schild, das für den Club warb. Der Sommer war die Jahreszeit schlechthin, um Krimis zu verkaufen, und Zina wollte vermeiden, dass irgendein neuer Kunde den Club für einen exklusiven Zirkel hielt. Er war von ihr als informelles Treffen gedacht, bei dem man keine Unterschiede zwischen gelegentlich vorbeischauenden Mitgliedern und eingefleischten Fans machte.

Morgan zählte wie ihre Cousine Sarah zu den echten Fans und wartete jeden Samstagabend schon begierig auf das neue Buch.

»Wo ist das neue Buch der Woche?«, fragte Morgan. »Stellst du es noch nicht aus?«

»Doch, aber ich habe es noch nicht«, sagte Zina. »Alfred sollte es heute Abend vorbeibringen.« Sie hielt die beiden letzten Exemplare von Bloody Midnight hoch, dem Buch, das morgen Gesprächsthema sein würde. »Das hier war unheimlich gefragt«, sagte sie.

»O ja.« Morgan hielt ihr eigenes Exemplar hoch. »Man kann es wirklich kaum aus der Hand legen. Ich lese es heute Abend noch aus.«

»Ich bin irgendwie nicht richtig reingekommen«, gab Zina zu. »Diese Woche hatte ich so viel zu tun, und das Buch war mir ein bisschen zu –«

»Zu blöd«, warf Byron ein, während er seinen leeren Kaffeebecher auf die Theke knallte. »Ich verstehe nicht, wie ihr solchen Mist lesen könnt.«

»Das ist ein guter Krimi«, erwiderte Morgan. »Er ist eher – ich weiß nicht, wie ich sagen soll –, er ist besser als die üblichen. Geht mehr ins Detail. Und er ist kanadisch. Die Geschichte spielt hier in Manitoba. Im Whiteshell Park.«

»Das ist kanadisch?« Byron nahm das Buch zur Hand und betrachtete es prüfend. »Walter White? Nie von ihm gehört.«

»Wenn dir das Buch gefällt, wirst du auch das nächste mögen«, meinte Zina zu Morgan. »Es ist von demselben Typ. Alfred hat mich überredet, die ganze Reihe zu nehmen.«

Die Reihe bestand aus fünf Titeln. Fünf Wochen mit Walter White. Zina wusste, dass sie damit ein Risiko einging, aber Alfred hatte ihr einen so immensen Rabatt angeboten, dass sie nicht hatte widerstehen können.

»Kanadisch, was?«, murmelte Byron, schlug das Buch auf und begann zu lesen.

Die plötzliche Dunkelheit in Sarahs Haus war nicht total, sondern nur partiell. Nach ein paar Sekunden bemerkte sie, dass sie den Schein der Deckenlampe in ihrem Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flurs noch sehen konnte. Also war es kein Stromausfall. Für einen Moment sackte sie in ihrem Sessel vor Erleichterung zusammen. Dann drückte sie den Schalter der Lampe neben dem Sessel. Einmal. Zweimal. Dreimal. Kein Licht. Es musste schlicht die Glühbirne durchgebrannt sein.

Sie stand auf und schraubte sie heraus. In ihrem Schreibtisch hatte sie neue Birnen, also machte sie sich auf den Weg, eine zu holen. »Was für eine Idiotin du doch bist«, sagte sie zu sich selbst und lachte laut. Aber der Versuch war schwach und klang hohl.

Warum um alles in der Welt vertiefte sich eine intelligente Frau wie Sarah bis an den Rand der Hysterie in Kriminalromane?, pflegte ihr Ehemann Peter zu fragen. Als er und Sarah sich auf dem College kennen gelernt hatten, hatte Peter sie für eine hochgeistige Person mit künstlerischen Neigungen gehalten. Schließlich war Sarahs Großvater ein bekannter Bildhauer und ihre Mutter eine Dichterin mit einer kleinen, aber treuen Leserschaft gewesen. Das machte Sarah in Peters Augen schon zu einer kleinen Berühmtheit. Er stellte sie seinen Freunden immer als die Tochter von Carolyn Yeats vor. Sarah war überrascht, dass diese Tatsache so viele von ihnen beeindruckte, insbesondere Peters besten Freund Byron Hunt, der selbst ein aufstrebender Poet war. Für Kunst oder Lyrik interessierte sich Sarah jedoch nicht. Aus ihrer Sicht hatte die Lyrik das Leben ihrer Mutter zerstört. Peter und Byron dachten, Carolyns Dasein müsse schrecklich romantisch gewesen sein. Sarah sah das anders. Carolyn hatte nie geheiratet. Sie hatte allein mit Sarah draußen auf Persephone Island gelebt und versucht, mit den kargen Einnahmen aus ihrer Lyrik über die Runden zu kommen. Als Sarah noch ein kleines Mädchen war, starb Carolyn sozusagen aus Unachtsamkeit, was Sarah ihr nie verzieh. Nein, an Carolyns Leben war gar nichts romantisch gewesen. Es war ein leichtsinniges, tollkühnes Leben gewesen, und als Sarah aufs College kam, war es ihr bereits gelungen, einen Großteil davon zu vergessen. Sie studierte Rechnungswesen und wurde Mitglied im Laufteam, um sich in Form zu halten. Nach dem College machte sie eine eigene Steuerberaterkanzlei auf und vergrub sich in ihre Arbeit. Sie hielt ihre Fantasie streng im Zaum und war stolz auf ihre praktischen Talente. Ihre einzige Ablenkung vom Alltag war die Krimilektüre, ein Hobby, das sie sich von Morgan abgeschaut hatte und das sie bis zu ihrer Hochzeit irgendwie vor Peter geheim halten konnte.

Zunächst hatte Peter Sarahs Liebe zu Krimis als liebenswerte Eigenart toleriert. Wenn seine ansonsten so ruhige junge Frau sich von einem spannenden Thriller aus der Fassung bringen ließ, pflegte er nur in liebevollem Staunen den Kopf zu schütteln. Aber gegen Ende ihrer Ehe, als es mit seiner Musikkarriere bergab ging, kam seine niederträchtige Seite allmählich zum Vorschein. Er begann sie zu quälen, wann immer sie einen unheimlichen Roman las. Er nutzte die Gegebenheiten des riesigen Hauses und die Tatsache, dass sie nicht immer ahnen konnte, wo genau er sich versteckte. Manchmal lauerte er gleich um die Ecke, am liebsten in der Küche, und wartete, bis sie ganz in ihre Lektüre vertieft war. Dann sprang er auf sie zu und schrie »Huu-aah!«, einfach nur, um sie loskreischen zu hören.

Aber es war seine erfundene Geistergeschichte, die bei Sarah das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Eines Tages, als sie gerade in einen Roman über ein Geisterhaus vertieft war, hatte sie Peter stocksteif im Flur des zweiten Stocks vorgefunden, mit kalkweißem Gesicht. Er sagte ihr, er habe eine Frau gesehen, die die Treppe zum Dachboden hinaufgeschwebt sei, eine Frau in einem weißen, altmodischen Kleid mit einem großen Buch unterm Arm. Sie sei schnurstracks durch die geschlossene Dachbodentür geschwebt. Sarah wusste, dass Peter sich über sie lustig machte. Sie an der Nase herumführte. Sich kindisch über ihre Furcht freute. Er war ein Tyrann, wie sie inzwischen wusste, einer mit einem Hang zum Sadismus.

Doch sein Gesicht war überzeugend weiß gewesen und als sie seinen Arm berührte, hatte der sich eiskalt angefühlt. Sarah schauderte noch immer bei dem Gedanken daran. Lass dich von ihm nicht drankriegen, ermahnte sie sich. Er ist inzwischen aus deinem Leben verschwunden, und das ist auch gut so.

Sie betrat ihr Büro und fand die Glühbirnen sofort. Das Zimmer war im Moment extrem ordentlich. Sarah hatte nämlich die Steuerberaterkanzlei, die sie von zu Hause aus führte, den Sommer über geschlossen und sich den ersten Urlaub seit drei Jahren gegönnt. Die Steuersaison war auch in diesem April nicht hektischer gewesen als in anderen Jahren, aber sie hatte sich danach ausgelaugt und erschöpft gefühlt. Deshalb hatte sie beschlossen, keine neuen Aufträge mehr anzunehmen, bis es ihr besser ginge. Sie hatte sich vorgenommen zu lesen, zu entspannen und vor allem zu laufen. Bis zum Manitoba-Marathon dauerte es nur noch einen Monat, und Sarah trainierte ernsthaft: Sie lief zehn Meilen täglich und hatte sich zum Ziel gesetzt, dieses Jahr ihren persönlichen Rekord zu brechen.

Sie warf die ausgebrannte Glühbirne in den Papierkorb und nahm die neue mit. Im Flur blieb sie am Fuß der Treppe stehen und lauschte. Was war das für ein kratzendes Geräusch? Es klang, als sei dort oben jemand. Ganz oben. Wahrscheinlich war es Wasser in den rostigen Leitungen. Oder der Wind, der an den lockeren Dachschindeln rüttelte. Oder eines von hundert anderen Problemen. Die Farbe, die von den Wänden blätterte, vielleicht.

Manchmal hasste Sarah dieses alte Haus. Nicht dass sie an Peters Geistergeschichte glaubte. Der Kasten war nur einfach zu groß. Wozu brauchte sie drei Stockwerke, sechs Schlafzimmer, drei Bäder sowie ein vorderes und ein hinteres Treppenhaus? Sie hatte das Haus schon verkaufen wollen, seit sie im Alter von achtzehn Jahren erfahren hatte, dass ihr Großvater es ihr vererbt hatte. Doch ihre Cousine Morgan und ihr Cousin Sam hatten ihr das Versprechen abgenommen, es im Familienbesitz zu behalten. Obwohl sie drei Enkelkinder gewesen waren, hatte Sarah alles geerbt. Keine erheblichen Geldbeträge, aber eine Menge Grundbesitz: dieses Haus und die Insel im Lake of the Woods, wo sie aufgewachsen war. Ihr gehörte jetzt ganz Persephone Island und alles, was sich darauf befand – oder besser: was davon noch übrig war. Und das, obwohl sie nie wieder dahin zurückkehren würde.

Es war Peter gewesen, der sie überredet hatte, in diesem Haus zu wohnen. Manchmal fragte Sarah sich, ob er ihr nicht vor allem wegen des Hauses einen Heiratsantrag gemacht hatte. Nachdem sie es geerbt hatte, hatte sie es Peter und Byron gezeigt, die überwältigt gewesen waren. Byron war ehrfürchtig durch die Zimmer gewandert und hatte die Skulpturen ihres Großvaters und die Bücher ihrer Mutter mit einer Ehrerbietung berührt, die ihr lächerlich erschienen war. Peter hatte von der Architektur geschwärmt, den Giebeln und den kuriosen Fenstern mit ihren Läden, den geräumigen Zimmern voller Familienerbstücke. Sarah hatte argumentiert, es sei zu groß, zu zugig und zu reparaturbedürftig. Doch Peter hatte sie beiseite genommen und ihr ins Ohr geflüstert, wenn sie ihn nur heiratete, würde er sich um die Reparaturen kümmern. Das Haus wäre auch nicht zu groß. Eines Tages würden sie es mit Kindern füllen, und abgesehen davon brauchte er ohnehin viel Platz für sich, wenn er komponiere. Er war ein hoffnungsloser Träumer, wie Sarah aus heutiger Sicht erkannte. Sie hätte es besser wissen müssen und keinen Musiker heiraten dürfen. Aber Peter hatte sie überredet. Sie hatte ihn glücklich machen wollen.

Jetzt wollte Peter natürlich, dass sie das Haus verkaufte. Jetzt, wo es um eine Scheidungsvereinbarung ging, die ihren Besitz gerecht aufteilte, hatte er plötzlich die Tonart geändert und riet ihr zum Verkauf. Er zitierte all ihre Klagen über die Instandhaltungskosten und verwendete ihre früheren Argumente gegen sie.

Sarah schraubte die neue Glühbirne ein, knipste die Lampe an und ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder, wobei sie sich die Kissen so bequem wie möglich zurechtrückte. Es gab keinen Grund, sich heute Abend mit ihren Sorgen als Immobilienbesitzerin herumzuschlagen – nicht, wenn sie einen guten Krimi hatte, in den sie sich vertiefen konnte. Sie fand die Stelle, an der sie die Lektüre unterbrochen hatte, und begann weiterzulesen.

Im Garten hinter dem Haus klopften und kratzten die obersten Zweige des Holzapfelbaums an der Scheibe des Badezimmers im ersten Stock. Sarah ignorierte das Geräusch bewusst. Sie war entschlossen, sich erneut in ihrer Geschichte zu verlieren.

Was würde als Nächstes passieren? Der Held folgte dem Verdächtigen in den dunklen Tunnel eines Kuriositätenkabinetts. Sarah kuschelte sich ein und war bereit, all die Schrecken zu genießen, die dort auf ihn lauern mochten.

Tod um Mitternacht

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