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»Wo ist Alfred überhaupt?«, fragte Morgan.

Zina blickte zur Uhr. »Er hat schon zwei Stunden Verspätung. Eigentlich sollte er vor zehn Uhr hier sein. Viel länger kann ich jetzt auch nicht mehr warten.«

Byron war am Tresen stehen geblieben und blätterte in Bloody Midnight.

»Willst du’s kaufen?«, fragte Zina.

»Was? Oh nein. Ich lese solches Zeug nicht.« Er blätterte eine weitere Seite um.

»Na gut, dann stellst du es jetzt besser wieder zurück«, sagte Zina. »Und zahl mal deine Rechnung, weil ich in einer Minute die Abrechnung mache.«

»Okay, okay. Kannst du mir einen Vierteldollar rausgeben? Ich muss noch einen Anruf erledigen.«

»Mach’s kurz«, sagte Zina. »Ich schließe gleich.«

»Fünf Minuten«, versprach er und sprang noch mal in die Telefonkabine.

»Ich räume meine Sachen selber weg«, bot Morgan an. Sie drückte die Schwingtür zur Küche auf und steuerte auf eine der blinkenden Doppelspülen zu, um ihren Becher und ihren Löffel abzuwaschen. Die Küche war pieksauber, und zwar dank Javier, Zinas neuem Tellerwäscher, einem Musiker aus Guatemala. Er redete zwar nur wenig, sang aber den ganzen Tag lang spanische Lieder in der Küche. Sie hatte sich schon früher am Abend über seinen Gesang gefreut, als er die Stühle im Patio gestapelt und für die Nacht hereingetragen hatte. Bevor er nach Hause gegangen war, hatte er jeden einzelnen sorgfältig abgewischt. Morgan zögerte auf dem Weg nach draußen kurz und legte die Hand auf das Telefon, das an der Wand hing. Sollte sie? Es wurde langsam spät. Sie hatte für heute Abend eine vage Verabredung und wollte wissen, ob die noch galt. Sie hob den Hörer ab. Niemand beobachtete sie, und das Geräusch der Rechenmaschine beim Addieren der Tageseinnahmen würde ihre Stimme bestimmt übertönen.

Als das Telefon in der Küche klingelte, sprang Sarah aus dem Sessel, und ihr Buch fiel zu Boden. Sie hob es auf und strich die umgeknickten Seiten glatt. Nur ein Mensch konnte um diese Zeit anrufen. Peter. Betrunken und reumütig und mit lauter Versprechen, sich zu ändern. Aber sie würde sich von ihm nie wieder einwickeln lassen. Sie hatte ihn diesen Winter noch zweimal in ihr Bett gelassen, als er mitten in der Nacht vor ihrer Tür gestanden hatte, und beide Male hatte sie es hinterher bereut.

»Hallo?«

Niemand antwortete.

»Peter, lass das. Spiel keine Spielchen mit mir.«

Aber die Leitung blieb seltsam stumm, kein Atmen, kein Knacken. Sarah drückte auf die Gabel, um die Verbindung zu trennen, und lauschte wieder. Kein Freizeichen. Nichts. Die Leitung war tot.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Jemand hatte die Leitung gekappt! Draußen – mit einer Zickzackschere, genau wie in dem Buch!

Sie keuchte und fuhr herum, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Raum wahrnahm. Ihr Herz machte einen Satz, aber es war nur ihr eigenes Spiegelbild gewesen, das sie im Spiegel über der Anrichte gesehen hatte. Sie starrte sich selbst an. Ihre blauen Augen blickten verstört, und ihr schmales Gesicht war so blass, dass die hellen Sommersprossen auf ihrer Nase hervorstachen. Sie sah aus wie das durchgedrehte Opfer in einem Horrorfilm.

Du benimmst dich einfach lächerlich, tadelte sie sich selbst. Dann legte sie den Hörer wieder auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Du liest zu viele Krimis. Kein Mann, keine Kinder. Morgen wirst du fünfundzwanzig Jahre alt, und du hast noch nicht einmal einen Geliebten. Nicht einmal eine Katze, um dich zu wärmen. Holst dir deine Kicks aus Taschenbuchromanen. Du bist zu bemitleiden. Und was noch schlimmer ist, du beginnst zu glauben, was du liest. Sie drehte das Buch um und betrachtete das Hochglanzcover. Die Silhouette einer ängstlichen Frau war darauf abgebildet. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, und ein Schatten stand drohend über ihr. Rote Tinte tropfte wie Blut aus den Buchstaben des Titels und befleckte das Kleid der Frau. Das war Trash. Zweifellos.

Ja, sie benahm sich lächerlich. Morgen würde sie die Telefongesellschaft anrufen und einen Mechaniker bestellen, so viel dazu.

Und sie würde etwas anderes lesen. Eine Zeitschrift vielleicht. Dann wäre sie nicht mehr so nervös. Doch sie zögerte. So unheimlich die Geschichte auch war, sie konnte sie nicht aus der Hand legen.

Also kehrte sie zu ihrem Sessel zurück, nahm ihren Platz wieder ein und begann ein neues Kapitel. Während der Held mutig durch das verlassene Kuriositätenkabinett schritt, öffnete seine Freundin zu Hause gerade ihre Post. Oh nein. Sarah wusste, was als Nächstes käme. Natürlich enthielt das erste Päckchen, das die Freundin öffnete, eine Halskette – einen einzigen Smaragd an einer goldenen Kette. Es war keine Karte beigelegt, aber die Freundin zuckte nur mit den Schultern. Ein kleines Versehen eben. Sie wusste, dass der Held momentan sehr beschäftigt mit einem wichtigen Fall und oft geistesabwesend war. Da wollte sie ihn nicht wegen einer Lappalie stören. Der Held hatte seiner Freundin nichts über den Fall, an dem er gerade arbeitete, erzählt. Er dachte, die Details würden ihr nur Alpträume bescheren. Also hatte sie ihm keine Fragen gestellt. Sarah knirschte aus lauter Frust mit den Zähnen. Warum hatte der Held sie nicht gewarnt? Typisch Mann. Mit dem Versuch, sie zu schützen, hatte er ihr Schicksal besiegelt.

Sobald sie zu Hause war, unternahm Betty Carriere einen raschen Rundgang durch ihr Haus: Sie schaltete alle Lichter ein und blickte in jedes Zimmer; dabei nahm sie sich nicht einmal die Zeit, an das klingelnde Telefon zu gehen. Dann kontrollierte sie Türen und Fenster. Alles sicher verschlossen. Alles in Ordnung. Das Haus war leer, was gut war, sie aber nicht erwartet hatte. Wo war Alfred? War der Anruf eben von ihm gekommen? Sie kontrollierte den Anrufbeantworter, aber wer auch immer vorhin angerufen hatte, er oder sie hatte aufgelegt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Wo war Alfred? Er sollte zu dieser späten Stunde zu Hause sein. Ein kurzes Gefühl von Sorge um ihren Ehemann flackerte in ihr auf, aber in Wahrheit verspürte sie Erleichterung darüber, dass er nicht zu Hause war. Sie hatte andere Sorgen.

Geld zum Beispiel.

Sie ging über den makellos sauberen Küchenboden und öffnete eine der Glastüren ihres brandneuen Schranks. Ordentlich zwischen ihren Kochbüchern eingereiht stand ihr Haushaltsbuch, das sie jetzt herausnahm. Sie goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich mit einem Bleistift an den Küchentisch. Sie versuchte auszurechnen, wie viel Bargeld sie diesmal für Anna abzweigen könnte.

Der Mai hatte noch zwölf Tage, und es war gerade noch genug Geld auf dem Konto, um die Ausgaben für die laufenden Kosten abzudecken. Dann war da die Dinnerparty am zweiten Juni. Sie wusste, dass Alfred ihr dafür ein bisschen Extrageld geben würde, aber das würde sie auch für das Abendessen ausgeben müssen. Wenn sie daran sparte, würde er es sofort merken. Aber vielleicht wenn sie bis dahin besonders sparsam wirtschaftete …

Sie stand auf und inspizierte Schränke und Speisekammer gründlich. Sie brauchten Lebensmittel, das war offensichtlich. Alfreds Assistent, Gregory Restall, war den Tag über hier gewesen und hatte Alfred bei den Pressemitteilungen geholfen. Nebenbei hatte er Bettys Kühlschrank leer gefuttert. Im Besenschrank fehlten Bohnerwachs – das von der teuren Sorte – woran man nicht sparen sollte – und Staubsaugerbeutel. Ebenfalls zur Neige gingen Silberputzmittel, Glühbirnen, Bleiche und ein Dutzend anderer Notwendigkeiten – dabei hatte sie sich noch nicht einmal in den Badezimmern umgesehen. Schuld daran war allein ihre Schwester. Warum kriegte Anna ihr Leben nicht auf die Reihe? Betty hatte ihr erst vor zwei Wochen zweihundert Dollar gegeben. Und jetzt wollte Anna noch mehr.

Betty trank ihr Glas leer, trug es zur Spüle, wusch es aus und stellte es zum Trocknen auf die Geschirrablage aus Edelstahl. Dann machte sie sich auf den Weg nach oben, um die Schubladen und Hosentaschen ihres Mannes zu durchsuchen. Sie hasste das, aber wenn Anna ihre Miete nicht bezahlte, würde sie wieder rausgeworfen, und Betty wollte sie keinesfalls auf ihrer eigenen Türschwelle vorfinden. Nicht auszudenken, was Anna in Gegenwart von Alfred vielleicht sagen würde.

Zina war erleichtert, als Alfred Carriere endlich eintraf. Er trug eine schwere Schachtel und verkündete mit kräftiger Stimme: »Neue Bücher.«

»Das wurde aber auch Zeit!«, sagte Morgan, während sie aus der Küche trat. »Zina schläft schon fast. Heute Abend ist sie tatsächlich schon länger hier als Byron.«

»Sehr witzig«, sagte Byron. Er hatte sein Telefonat beendet und seine Sachen zusammengepackt. Machte aber trotzdem keine Anstalten aufzubrechen.

»Tut mir Leid, Zina«, sagte Alfred. Er stellte die Schachtel auf die Theke. »Ich wurde aufgehalten. Kein guter Tag heute.«

Obwohl er inzwischen schon über fünfzig war, arbeitete Alfred noch aufreibend viel, um sein Geschäft am Laufen zu halten. Seitdem sein Bruder Quinn vor einiger Zeit weggezogen war, machte Alfred fast alles selbst. Es schien ihm aber zu gefallen, wie Zina zugeben musste. Auch wenn sein Sechziger-Jahre-Pferdeschwanz und sein Schnurrbart längst grau waren, hielt er sich besser als die meisten Männer, die nur halb so alt waren wie er.

»Gibst du mir bitte mal ein Messer?«, fragte er.

Zina gab ihm ein scharfes Allzweckmesser, und er schlitzte die Schachtel auf. »Der zweite Band der Reihe«, sagte er stolz. Er hielt ein Exemplar hoch, damit sie es sehen konnten. »A Chill at Midnight.«

Zina war sich nicht sicher, ob ihr das Cover gefiel. Es war fast noch melodramatischer als das erste. Eine schlanke Blondine in einem filmreifen Morgenrock kauerte in einer verschneiten Landschaft, am Ufer eines zugefrorenen Flusses. Eine behandschuhte Hand, die nach ihrer Kehle griff, ragte von außerhalb ins Bild. An den weißen Buchstaben des Titels hingen lange Eiszapfen.

»Brr«, machte Morgan.

Byron rollte nur mit den Augen. Er verabschiedete sich mit einem Wink und verließ das Café.

Zina war sehr wohl bewusst, dass Byron nichts von Alfred Carriere hielt. Er gab sich auch keine große Mühe, das zu verbergen. Für Alfreds Geschäft empfand er kaum Respekt; er nannte es »gewinnsüchtig«. Seiner Meinung nach leistete Alfred den niedersten Instinkten Vorschub. Er publizierte nichts anderes als Kochbücher, Biografien irgendwelcher Berühmtheiten und populäre Krimis. In seinem ganzen Katalog nirgends eine Spur von echter Literatur. Byron hatte einige seiner Gedichte an Carriere Press geschickt, diese waren jedoch immer abgelehnt worden. Doch das hatte nichts mit seiner Abneigung gegen diesen Mann zu tun, wie Byron Zina oft versicherte. Es wäre nichts Persönliches, sondern eine Frage des Prinzips.

Zina wusste, dass Carriere Press früher einmal ein angesehenes Unternehmen gewesen war, ein kleiner literarischer Verlag mit großem künstlerischem Engagement. In den Siebzigern hatten Alfred und Quinn Carriere den Ruf als Kanadas innovativste Verleger genossen, die für viel versprechende junge Talente bereitwillig Risiken eingingen. Doch in den Achtzigerjahren geriet der Verlag in finanzielle Schwierigkeiten. Quinn, der eine junge Familie zu ernähren hatte, nahm einen sichereren Job bei einem größeren Verlag in Toronto an. Alfred sah sich gezwungen, sein Programm zu ändern, um bei Kasse zu bleiben. In der Backlist von Carriere Press wimmelte es von Erstlingsromanen und frühen Gedichtbänden vieler der besten Autoren des Landes. Aber Alfred schaffte es nicht, diese Autoren zu halten. Sobald sie sich einen Namen gemacht hatten, engagierten sie sich einen Agenten, der für Alfred unbezahlbare Vorschüsse verlangte. So begann Alfred, weniger Literatur und mehr Unterhaltung zu verkaufen. Doch in Kanada brachten selbst solche Titel kaum die Kosten für Produktion und Werbung herein. Alfreds neuestes Projekt war genau genommen gar kein Publizieren mehr, sondern Werbung und Vertrieb. Die Walter-White-Krimis waren allesamt Taschenbücher für den Massenmarkt. Sie waren vor Jahren in den USA erschienen, wurden schon lange nicht mehr neu aufgelegt, und Alfred hatte die Rechte daran für ein Butterbrot erworben.

In Byrons Augen war Alfred der personifizierte Ausverkauf. Zina hatte jedoch Verständnis für Alfred. Sie bewunderte, wie er sich an die geänderten Zeiten angepasst und seine Firma am Laufen gehalten hatte. Sie wusste, was es bedeutete, selbstständig zu sein. Ständig mussten schwierige Entscheidungen gefällt werden, und manchmal musste man von seinen Prinzipien auch ein Stück weit abrücken.

Alfred übergab Zina die Rechnung. »Ich seh dich dann morgen«, sagte er auf dem Weg zur Tür.

Morgan folgte ihm nach draußen. »Ich dich auch!«, rief sie. »Gute Nacht, Zina!«

»Möchtest du nicht, dass ich dich begleite –«, setzte Zina an, aber da fiel die Tür schon zu. Sie waren weg.

Zina nahm die letzten beiden Exemplare von Bloody Midnight aus dem Regal und begann, A Chill at Midnight aufzustellen. Obwohl sich die Bilder auf den Covers unterschieden, war das Design der Umschläge ähnlich genug, um die Bücher als Teil ein und derselben Reihe kenntlich zu machen. Ein kluger Marketingschachzug, dachte Zina. In der linken oberen Ecke zierte beide Bücher das gleiche Logo: eine kleine goldene Uhr, deren Zeiger beide genau auf der Zwölf standen, und die Wörter »A Midnight Mystery«.

Zina trödelte beim Auslegen der Bücher. Sie fürchtete sich davor, allein durch die zu dieser späten Stunde verwaiste Westminster Avenue nach Hause zu gehen. Warum hatte Morgan nicht auf sie gewartet?

Die Zweige des Holzapfelbaums kratzten jetzt heftiger an Sarahs Badezimmerfenster. Es klang fast, als ob es aufgeschoben würde. Sarah ließ ihr Buch sinken und lauschte.

Hin und wieder war ein schwaches, aber eindeutig quietschendes Geräusch zu hören, als ob jemand so langsam wie möglich versuchte, das Fenster im ersten Stock zu öffnen. Unmöglich. Sarah hielt den Atem an und lauschte angestrengten. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Wenn sie Max noch hätte, könnte sie sich sagen, es ist nur der Kater, und es vergessen. Aber jetzt gab es keinen Kater. Keinen kleinen Max, den man für das Knarzen und Quietschen in diesem verschachtelten, zugigen alten Haus verantwortlich machen konnte. Vielleicht spukte es hier ja wirklich.

Oder vielleicht war tatsächlich jemand dort oben. Jemand mit einem silbernen Brieföffner. Und es war fast Mitternacht.

Von oben war ein leiser Schlag aus dem Bad zu hören. Sarah sprang aus dem Sessel. Das war doch verrückt. Sie ging auf und ab und rieb sich die Schultern. Vielleicht sollte sie sich ein Feuer machen. Jawohl. Sie legte ein dickes Scheit in den Kamin und schob Anmachholz darunter. Das Haus war nicht wirklich ausgekühlt, dachte sie, während sie ein Streichholz anriss. Sie sehnte sich eher nach seelischer Wärme. Um diese kleinen Geräusche zu übertönen, sollte sie vielleicht auch irgendwelche Musik anmachen. Eigentlich waren es doch nur ganz leise Geräusche, sagte sie zu sich selbst. Aber die Größe des Hauses und Sarahs Einsamkeit verstärkten deren Klang völlig unverhältnismäßig.

Als sie zur Stereoanlage hinüberging, warf sie einen Blick aus dem Fenster und sah, dass die frisch gewaschenen Bettlaken auf der Wäscheleine jetzt heftig flatterten. Der Wind frischte auf. Na siehst du, sagte sie zu sich selbst. Es war nur der Wind, der die Läden zugeschlagen hat. Sie suchte ein Konzert von Mozart aus und legte die CD ein. Süße Violinklänge erfüllten den Raum. Sie drehte die Lautstärke höher. Wenn das Haus schon Geräusche machte, wollte sie die zumindest nicht hören.

Nachdem sich Sarah wieder in ihrem Sessel niedergelassen hatte, war sie rasch wieder ganz in den Roman vertieft. Sie hörte nichts außer Mozart. Nicht einmal das Knistern der Flammen im Kamin kam gegen die Musik an.

Im Restaurant Sals am Broadway trafen sich Officer Daniel Bradley und seine Partnerin Marnie auf eine letzte Tasse Kaffee, um ihre Berichte abzugleichen, bevor die Schicht zu Ende war.

Sie plauderten über die neue Software, die Marnie ihrem Stiefsohn zum Geburtstag kaufen wollte, und über die ungewöhnliche Begabung des Jungen im Umgang mit Computern. Dann wechselte Daniel das Thema und kam auf sein neues Auto zu sprechen, ein Jetta 2001, den er sich zwar nicht leisten konnte, dem er zugleich aber auch nicht hatte widerstehen können. Er hatte den Wagen während der Nachtschicht auf dem Parkplatz des Sals geparkt und einem Kellner zehn Dollar gegeben, damit dieser den Wagen im Auge behielt. Und alles nur wegen des Vergnügens, durch die leeren Straßen zu jagen, wenn sein Dienst in den frühen Morgenstunden zu Ende war.

»Kann ich ihn mir mal für eine Spritztour leihen?«, fragte Marnie.

»Irgendwann«, versprach Daniel. »Aber jetzt nicht.«

Marnie lachte. »Gut, lass es mich wissen, wenn du mit der Kennenlernphase durch bist.« Sie nahm Daniels leere Tasse. »Noch einen für auf den Weg?« Er nickte, und sie ging zum Nachschenken an die Theke.

Daniel sah noch mal seine Notizen durch. Es war eine ereignislose Nacht gewesen. Wie immer waren sie Streife gegangen, die Hauptstraßen hinauf und die hinteren Gassen hinunter, manchmal zusammen, manchmal getrennt, um ein größeres Gebiet abzudecken. Wenn sie allein gingen, hielten sie über Funk Kontakt, nur für den Notfall. Allerdings war es in den zwei Monaten, seit denen Daniel jetzt in Wolseley Dienst tat, noch zu keinerlei Notfällen gekommen.

Der heutige Abend war typisch: ein Drogerieverkäufer, der Aerosol-Reiniger an Abhängige verscherbelt hatte, eine versuchte Brandstiftung, eine Reihe von Fahrraddiebstählen und ein verloren gegangenes Kind, das rasch in der hiesigen Einkaufspassage gefunden worden war. Dann war da noch ein Vorfall, der Daniel gravierend erschien, den man aber auf der Wache wie gewöhnlich zu einer einfachen Tätlichkeit heruntergespielt hatte. Daniel und Marnie hatten auf dem Parkplatz der Big Sky Tavern einen Betrunkenen vorgefunden, der am Boden lag, und von einem anderen Betrunkenen mit eisenbeschlagenen Cowboystiefeln gegen den Kopf getreten wurde. Eine Menge von zwanzig Schaulustigen stand um die beiden herum, als würden sie einem Ballspiel zusehen.

Als er nun seine Notizen zu dem Vorfall erneut las, sah er immer noch, wie das Blut aus dem Mund des Opfers gespritzt war und eine dunkle Pfütze auf dem Parkplatz gebildet hatte. Erneut drehte sich ihm der Magen um. Gewalt machte Daniel physisch krank, und er gab sich redlich Mühe, das zu verbergen. Er wollte nie wieder eine solche Erniedrigung erleben wie bei seinem ersten Fall, als er noch ein blutiger Anfänger gewesen war. Er hatte sich damals lächerlich gemacht, weil er beim Anblick von Blut in Ohnmacht gefallen war. Er kippte einfach nach vorne und schlug sich die Stirn an einem Kanalgitter auf, nachdem er und sein Kollege eine Leiche in einem Müllcontainer entdeckt hatten. Die Jungs hatten danach begonnen, ihn Waffelkopf zu nennen, wegen der verschorften Wunde auf seiner Stirn. Daniel hatte Jahre gebraucht, um das zu verwinden. Aber jetzt fiel er nicht mehr in Ohnmacht. Von Gewalt wurde ihm immer noch schlecht, aber er verlor nicht mehr das Bewusstsein. Er wurde wütend.

Marnie brachte zwei nachgefüllte Tassen von dem starken Sals-Kaffee an den Tisch und schaufelte die üblichen drei Löffel Zucker in ihre Tasse. Daniel klappte sein Notizbuch zu. »Ruhige Nacht«, bemerkte er.

»Ja«, sagte Marnie. »Nicht viel los heute.«

Das Mozartkonzert kulminierte in einem brillanten Crescendo, einem großen Finale, und dann war es still im Haus. Sarah schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie war trotz der Spannung über ihrem Buch eingenickt. Sie sah auf und bemerkte, dass das Feuer nur noch aus glimmender Asche bestand.

In einer Minute, sobald sie dieses Kapitel beendet hätte, würde sie sich bettfertig machen, in ihren Flanellpyjama und unter die Steppdecke ihres Bettes schlüpfen, um weiterzulesen. Sie wusste, dass sie diesen Thriller heute Nacht noch auslesen würde, egal wie müde sie war. Sie war gefesselt von diesem Buch. Sie musste wissen, wer der Bösewicht war.

Der Held hatte schon längst erkannt, dass er in dem Vergnügungspark einer falschen Fährte gefolgt war. Der Gefahr, in der seine Freundin schwebte, war er sich jedoch nach wie vor nicht bewusst. Inzwischen hatte sie einige Schmuckstücke als Geschenke zugesandt bekommen und sie für schwache Versuche des Helden gehalten, sie dafür zu entschädigen, dass er sie in letzter Zeit so vernachlässigte. Sie war nicht sehr beeindruckt gewesen, doch als der Diamantring eintraf, verzieh sie ihm alles. Natürlich hielt sie das für einen romantischen Versuch, um ihre Hand anzuhalten. In diesem Moment deckte sie den Tisch für ein Candlelight-Dinner und übte die kleine Rede, mit der sie seinen Antrag annehmen würde. Sie wusste nicht, dass der Bösewicht – wer konnte das nur sein? – dem Helden eine gefälschte Nachricht hatte zukommen lassen, in der ihre Verabredung abgesagt wurde. In genau diesem Moment befand er sich vor ihrem Haus, bewaffnet mit seinem Brieföffner, und beobachtete sie durchs Fenster dabei, wie sie die frischen Blumen in einer Vase arrangierte. Hier endete das Kapitel. Noch dreißig Seiten.

Also, jetzt musste der Autor aber zur finalen Verfolgungsjagd kommen. Sarah gähnte. Sie sollte besser nach oben gehen, bevor sie wieder in ihrem Sessel wegdämmerte. Sie würde den Rest der Geschichte im Bett genießen. Sie stocherte im Feuer, um sicher zu sein, dass es ausging, und schaltete das Licht aus. Um die Vorhänge zuzuziehen, trat sie ans Fenster. Die weißen Laken auf der Leine tanzten wie feiernde Gespenster im Nachtwind. Während Sarah noch hinsah, hob sich eines mit einer plötzlichen Böe hoch in die Luft und gab die Sicht auf das frei, was sich dahinter befand.

Sie stieß einen Schrei aus.

Sarah konnte deutlich die Sprossen einer hohen Holzleiter sehen, die am Stamm des Apfelbaums lehnte.

Tod um Mitternacht

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