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Zina klappte ihr Exemplar von Bloody Midnight zu und schauderte unter der Bettdecke. Jedes Mal, wenn sie zu einer dieser Schrecken erregenden Verfolgungsszenen kam, musste sie das Buch weglegen. Sie hatte vorgehabt, es für die Diskussion im Buchclub morgen Abend auszulesen, aber es war einfach zu nervenaufreibend. Zina hasste Gewalt. Sie bevorzugte unblutige Verbrechen der älteren Schriftsteller – die sauberen, unbeobachteten Morde bei Agatha Christie oder Doyles intellektuelle Puzzlespiele bei Sherlock Holmes. Die modernen Krimis waren ihr zu realistisch. Und insbesondere dieser erschien ihr zu lebensecht, zu nah an der Wirklichkeit. In Zinas Augen war der ganze Witz daran, einen Krimi zu lesen, die Möglichkeit, der Realität zu entfliehen.

Sie legte das Buch auf ihren Nachttisch und schaltete die Leselampe aus. Aber das Licht einer Straßenlaterne fiel zwischen den Vorhängen herein, deshalb stand sie auf, um diese zu schließen.

Sie spähte aus dem Fenster. Jemand fuhr mitten auf der Lipton Street Fahrrad.

Sie erkannte das Rad. Es war eines, das sie schon viele Male gesehen hatte, unverwechselbar mit seinem großen, plumpen Gepäckträger aus Metall, beladen mit alten Ledermappen und voll gestopften Plastiktüten. Der Radfahrer war Byron Hunt. Seine ausgefranste Moppfrisur hüpfte auf und ab, während er in die Pedale trat.

Zina grinste. Dieses Rad! Es musste mindestens schon zwanzig Jahre alt sein. Aber natürlich konnte Byron sich kein neues leisten. Soweit Zina wusste, hatte er nie länger als ein paar Monate in einem richtigen Job durchgehalten. Er verbrachte all seine Zeit mit der Durchsicht seiner unveröffentlichten Sammlung von Gedichten und Liedtexten. Wenn er nicht das Haus seiner Mutter gegenüber in der Ruby Street geerbt hätte, wäre er wahrscheinlich obdachlos.

Byron bog um die Ecke, und die Fahrradreifen holperten unter dem Gewicht der Taschen auf seinem Gepäckträger. Zina wusste ganz genau, was sich darin befand. Seine Berge von Notizbüchern und Unmengen von losen Blättern. Die lud er jeden Tag in Zinas Café ab, wo er stundenlang vor sich hin kritzelte, an seinem Bleistift kaute und riesige Becher kolumbianischen Kaffees trank, nach dem er offenbar süchtig war. Sie lachte. Kein Wunder, dass er mitten in der Nacht unterwegs war.

Zina schloss die Vorhänge und kroch wieder unter die Decke. Ihre Gedanken wanderten zum morgigen Tag. An Sonntagen öffnete sie das Café erst ab Mittag, so schaffte sie es, ein bisschen Papierkram zu erledigen, bevor sie mit dem Kochen begann. In Gedanken ging sie ihre Speisekarte durch: Kartoffelsuppe und die üblichen Platten mit Sandwiches für die Nachmittagsgäste. Am Abend hatte man die Wahl zwischen vegetarischem Chill oder Kichererbsen mit Curry und frischem Pitabrot. Das war einfach hinzukriegen. Diese Gerichte konnte Zina im Schlaf kochen. Aber natürlich war da auch noch wie jede Woche das sonntägliche Backen. Die Mitglieder des Mystery Book Clubs waren ausnahmslos Schokoholics. Zina wollte für morgen Abend etwas Besonderes vorbereiten. Cady Brown, die Reporterin, die an einer Geschichte über den Buchclub schrieb, würde auch da sein, und sie liebte Süßes. Vielleicht sollte Zina das neue Rezept für Kirsch-Brownies ausprobieren. Schließlich wollte sie einen guten Eindruck machen. Die Reportage wäre auch eine tolle Werbung für das Café – falls Cady sie je zu Ende schrieb.

Sarah spazierte durch den Wald, einen gewundenen Pfad entlang, der zu beiden Seiten von Sträuchern voll mit reifen Waldhimbeeren gesäumt war. Sie war noch sehr klein und trug in ihrer Hand einen gelben Blecheimer, wie Kinder ihn zum Spielen im Sand benutzen. Hoch über ihrem Kopf schwankten die hohen Kiefern, und die Pappeln wisperten wie menschliche Stimmen. Die Luft war kühl. Obwohl die Sonne hoch über den Bäumen schien, drangen nur schmale, vereinzelte Lichtflecken auf den Weg vor ihr. Sie hüpften und tanzten auch über die Blätter der Beerensträucher. Vor sich konnte Sarah nur die Windungen und Kurven des Weges sehen. Aber sie hatte sich nicht verlaufen. Sie kannte den Weg. Ihre Füße in den kleinen Sandalen mit Schnallen rutschten in dem weichen Sand und auf der dicken Schicht Kiefernnadeln oft weg, während sie weiterstapfte.

Sie erreichte das Ende des Weges. Auf der Lichtung vor sich konnte sie die Umrisse einer Frau ausmachen, die im Gras saß, im Schatten vor zwei riesigen Ahornbäumen. Sarah trat näher. Die Frau blickte nicht auf. Sie bewegte sich überhaupt nicht. Sie war ungeheuer konzentriert auf etwas – sie las. Sarah stand vor der Frau und blickte in ihr absolut unbewegtes, konzentriertes Gesicht. Ohne eine Spur von Überraschung erkannte sie, dass sie sich selbst sah. Sie konnte sich deutlich erkennen. Ihr Kopf war nach vorne gebeugt, blondes Haar fiel in ihr sommersprossiges Gesicht, und sie war vollkommen vertieft in das große Buch, das aufgeschlagen in ihrem Schoß lag.

Das Splittern und Klirren von berstendem Glas irgendwo in der Ferne, weit über ihr, holte Sarah in die Realität zurück. Sie erinnerte sich verschwommen an ein Gefühl von Gefahr. Lebensgefahr. Sie musste aufwachen, in Bewegung kommen. Aber ihre Knie waren vor Schmerz wie aneinander geschmiedet. Ihre Beine zwei leblose Gewichte. Eine Frauenstimme flüsterte in ihr Ohr: »Schlaf jetzt. Schlaf wieder weiter.« Die Stimme klang beruhigend und seltsam vertraut, aber Sarah wehrte sich. Während sie gegen den Schlaf kämpfte, der sie wie eine schwere Decke niederdrückte, zuckte der Schmerz durch ihre Knöchel, in ihr linkes Knie hinauf und bohrte sich bis in ihre Hüfte. Obwohl sie wusste, dass sie sich nicht bewegte, fühlte sie ihren Körper in dem leeren Raum herumwirbeln. Ihr war schwindlig und übel, und sie wollte nichts weiter als in die Schwärze zurücksinken, nichts mehr spüren.

»Ruh dich jetzt aus.«

Sarah ließ sich von der Stimme überzeugen. Es könnte ihre eigene Stimme sein, dachte sie vage. Mehr als alles in der Welt wollte sie schlafen. Sie sank in die Tiefen des Traums zurück und verlor wieder das Bewusstsein.

Im Schlafzimmer im ersten Stock des Nachbarhauses setzte sich Adele Allard kerzengerade im Bett auf. Sie war plötzlich hellwach und alarmiert. Was hatte sie da gehört? War das wieder der Heizkessel, der verrückt spielte? Sie fluchte. Schließlich hatte sie erst diesen Winter ein Vermögen ausgegeben, um ihn reparieren zu lassen.

Sie lauschte eine Weile. Nichts, nur gelegentlicher Verkehrslärm von der fernen Westminster Avenue. Es war immer noch mitten in der Nacht. Dr. Allard legte sich wieder hin, aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Das abrupte Aufwachen hatte sie entnervt. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte sich zu entspannen, indem sie an ihr Bankkonto dachte. Nicht das Girokonto für die Rechnungen und tagtäglichen Ausgaben, sondern das Sparkonto. Das wuchs, seit sie ihre eigene Beratungspraxis eröffnet hatte. Jeder Extradollar wanderte schnurstracks darauf, und keine zehn Cent wurden abgehoben. Jetzt wuchs das Konto dank ihres neuen Mieters schneller denn je. Die zusätzlichen zweihundert pro Monat würden pro Jahr zweitausendvierhundert bringen … alles schwarz und vollkommen steuerfrei …

Ein plötzlicher Krach, wie berstendes Glas. Dr. Allard saß wieder kerzengerade. Was für eine Idiotin war sie doch gewesen, dass sie versucht hatte, sich wieder in den Schlaf zu bringen. Da war eindeutig etwas nicht in Ordnung. Sie schob sich an die Bettkante und zog ihren Morgenrock über. Ein schwaches Getrappel drang vom Wohnzimmer direkt unter ihr herauf. Ein Einbrecher! Der es auf ihre Porzellansammlung abgesehen hatte! Auf ihr Silber! Auf ihre wertvollen seltenen Bücher! Zornig verknotete sie den Gürtel ihres Morgenrocks und griff nach ihrer Brille.

Dr. Allard verwahrte einen Baseballschläger in ihrem Schlafzimmer, genau für solche Eventualitäten. Bei Bay hatte sie dafür 48,50 ausgegeben, aber er wäre jeden Penny wert, wenn sie damit ihren Besitz verteidigen konnte. Sie schlich die Treppe hinunter, den Schläger fest im Griff. Hin und wieder blieb sie stehen, um zu lauschen. Sie war von kleiner Statur, aber furchtlos.

Sie erreichte das Erdgeschoss, ohne noch irgendetwas zu hören, aber sie konnte Licht im Wohnzimmer sehen. Sie wartete, mit erhobenem Schläger und bereit zuzuhauen, zwischen der Standuhr ihres Großvaters und dem hohen Glasschrank, in dem sie ihre Büchersammlung aufbewahrte. Alles war ruhig. Dann plötzlich ein lautes Geräusch. Eindeutig das Geklapper einer mechanischen Schreibmaschine. Sie ließ den Schläger sinken und trat ins Wohnzimmer. Ja, es war nur ihr neuer Mieter, Mark Curtis, der an einer eiligen Arbeit schrieb.

»Sie haben mich geweckt«, sagte sie.

Er drehte sich zu ihr und grinste reumütig. »Tut mir Leid«, sagte er. Als er ihre Blässe bemerkte, fügte er noch hinzu: »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Bitte, setzen Sie sich doch.« Er stand auf und schob einen weiteren Stuhl vom Tisch zurück. »Ich habe eine Kanne Tee gekocht. Ich bring Ihnen eine Tasse.«

Dr. Allard sank dankbar auf den Stuhl. Sie lehnte den Baseballschläger neben sich an den Tisch und hoffte, dass er ihn nicht gesehen hatte. »Tee wäre schön«, sagte sie. Jetzt wo ihr Zorn verraucht war, begannen ihre Hände zu zittern. Sie verbarg sie in ihrem Schoß.

Mark ging langsam in die Küche. Er sah den Schläger, verkniff sich aber jeden Kommentar. Trotzdem fühlte er sich ein bisschen unwohl, während er den Tee eingoss. Seine neue Vermieterin war ganz schön exzentrisch. Er war froh, dass sie ihm nicht den Schädel eingeschlagen hatte.

»Ich sollte mir einen Computer anschaffen«, bemerkte er, als er die Tasse vor sie hinstellte. »Ist leiser.«

»Oh, es war nicht die Schreibmaschine, die mich geweckt hat«, sagte Dr. Allard, schon wieder ganz gefasst. »Es war – haben Sie es gehört? – eine Art Scheppern. Und splitterndes Glas.«

Mark schüttelte den Kopf.

»Ich dachte, es wäre – na gut. Vielleicht Jugendliche, die sich auf der Straße betrinken oder so und Mülltonnen umschmeißen, Bierflaschen zerschlagen.« Sie lächelte grimmig und nippte an ihrem Tee. »Diese Gegend ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.«

»Ich habe nichts gehört. Ich war irgendwie völlig vertieft in dieses Papier.«

Dr. Allard nahm sich eine Seite und überflog sie.

»Probleme bei der Erstellung psychologischer Profile? Ich dachte, Sie studieren Familientherapie?«

»Das ist eine Pflichtveranstaltung«, sagte er. »Psychologische Testmethoden. Und glauben Sie mir, Schreiben ist nicht gerade meine Stärke.« Er stöhnte. »Diese Arbeit ist schon seit sechs Wochen überfällig!«

»Sechs Wochen?« Dr. Allard runzelte die Stirn. »Was ist denn das Problem?«

»Die ganze Arbeit ist ein einziges großes Problem.« Mark riss das Blatt aus der Schreibmaschine und knüllte es zusammen. »Ich bin total blockiert.«

»Sie sind nur frustriert«, sagte Dr. Allard ruhig. »Und Sie sind zweifellos erschöpft. Warum schlafen Sie nicht ein bisschen?«

Mark seufzte. »Vielleicht haben Sie Recht.« Er erhob sich vom Tisch.

Sie begann, seine Notizen zu einem ordentlichen Stapel aufzuschichten. »Ich werde lesen, was Sie schon haben, und Ihnen ein paar Vorschläge machen. Morgen früh, wenn Sie ausgeruht sind, arbeiten wir es zusammen durch. Wie wäre das?«

Marks Gesicht hellte sich auf. »Das wäre toll. So hat es mein Vater mit mir und meinem Bruder immer gemacht, als wir noch auf der Highschool waren. Er sah jeden Abend unsere Hausaufgaben durch.«

Dr. Allard lächelte, während sie zusah, wie er nach oben in sein Zimmer ging. Für zweihundert im Monat machte es ihr nichts aus, ein paar Hausaufgaben zu machen.

Sarah spürte sanfte Arme um ihre Schultern, eine zärtliche Hand, die über ihre Schläfen strich. »Jetzt ist alles gut. Du kannst aufwachen. Du kannst die Augen aufmachen, Sarah.«

»Mum?« Der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie hochfahren. Schmerz durchflutete wieder ihre Unterschenkel und ließ sie aufstöhnen.

»Sarah? Sarah?« Eine Männerstimme. Sie öffnete die Augen. Auf der anderen Seite des dämmrigen Raums konnte sie die Silhouette von ihrem Mann Peter erkennen, der sich auf sie zubewegte. Szenen des gerade erlebten Schreckens blitzten in ihrem Gedächtnis auf. Die durchgeschnittene Telefonleitung, die Leiter. Der Brieföffner – nein, war das nicht in dem Buch gewesen? Der Schmerz verwirrte sie. Sie erinnerte sich daran, sich in der Kammer versteckt zu haben. Die Schritte, diese schreckliche, hoffnungslose Angst, als sie sich in den Schacht hatte fallen lassen.

»Peter? Hilf mir, ich –« Sie schnappte nach Luft. Sie konnte sehen, wie er auf sie zustürzte, mit einer langen, glitzernden Klinge in der Hand. Nein!

Sie nahm all ihre verbliebene Kraft zusammen und schrie, so laut sie konnte.

Peter sprang zurück. »Sarah, was ist denn los? Was ist passiert?« Er blickte hinunter auf den Gegenstand in seiner Hand und warf ihn, selbst geschockt, weg. Er rutschte klirrend über den Kellerboden. »Um Gottes willen, ich will dir doch nichts tun!«, rief er. »Ich war nur –«

Aber Sarah schrie weiter.

Dr. Allard war noch wach. Sie saß über Marks Notizen am Esszimmertisch, fasziniert von den forensischen Anwendungsmöglichkeiten psychologischer Profile. Sie hörte den Schrei ganz deutlich – ein lang gezogener Schrei vor Schmerz und panischer Angst, der ihr das Blut in den Adern stocken ließ. Dr. Allard brauchte ihren hart verdienten akademischen Titel in Psychologie nicht, um zu wissen, dass hier jemand ein gravierendes Trauma erlitt. Diesmal dachte sie nicht einmal an ihren Baseballschläger, sondern griff gleich zum Telefon und wählte die 911.

Tod um Mitternacht

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