Читать книгу Die Fälle des Kommissar Morry - 10 legendäre Krimi Leihbücher in einem Band - Cedric Balmore - Страница 28
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Ralph Condray konnte sich über seine Stellung bei Ruth Bonfield in der Blauen Taverne nicht beklagen. Erstens einmal machte ihm seine Arbeit Spaß, und zum zweiten ließ man ihn immer wieder wissen, wie sehr man mit ihm zufrieden war.
„Voraussichtlich werde ich zu Weihnachten heiraten“, sagte Ruth Bonfield an diesem Abend zu ihm. „Mein Verlobter will nicht, daß ich weiterhin in der Küche dieses Lokals stehe. Da wird es sich dann als nötig erweisen, einen Geschäftsführer an meine Stelle zu setzen. Ich denke dabei an Sie, Mr. Condray! Dieser Posten dürfte Ihren Fähigkeiten am besten entsprechen.“
„Ich danke Ihnen, Madam“, sagte Ralph Condray schlicht. „Ich würde sicher nie wieder eine bessere Chefin finden.“
Als er sich ein wenig zur Seite wandte, sah er plötzlich Gray Jaspers vor sich stehen.
„Ich hätte auch noch ein paar Worte mit Ihnen zu reden“, murmelte der Detektiv hastig und rückte nervös seine Brille auf und ab. „Sie wissen doch, welchen Auftrag ich Ihnen seinerzeit erteilte. Konnten Sie die Freunde Mack Ruppers inzwischen schon bei ihren Gesprächen belauschen? Sind Sie dahintergekommen, welches Geheimnis sie verbindet? Haben Sie herausgebracht, wovon sie leben?“
„No, Sir“, sagte Ralph Condray kühl. „Ich konnte bisher nichts in Erfahrung bringen.“
Er ließ den anderen reden und polierte inzwischen seine Gläser. Es war ein ruhiger Abend. Es gab nicht viel zu tun. Die meisten Gäste waren nur zum Essen gekommen und dann wieder weggegangen. Ralph Condray freute sich bereits auf einen frühen Feierabend, da sah er plötzlich Maud Ruby durch die Tür treten und an dem einsamen Tisch in der Fensterecke Platz nehmen. Er merkte sofort, daß irgendetwas nicht stimmte. So bleich und verfallen hatte er Maud Ruby noch niemals gesehen. Sie wirkte völlig entmutigt. Ihre Augen waren erloschen und ohne Glanz.
Bereits eine halbe Minute später stand Ralph Condray an ihrem Tisch. „Was ist denn?“, fragte er unruhig. „Ich wäre doch ohnehin nach der Sperrstunde zu dir gekommen. Ist etwas passiert?“
Maud Ruby nickte. Dann blickte sie sich unruhig im Lokal um. Beklommen äugte sie zu den Freunden Mack Ruppers hin.
„Es ist alles aus“, flüsterte sie gepreßt. „Ich weiß mir keinen Rat mehr. Niemals wieder wage ich mich in das Haus am Lofting Oval.“
„Willst du mir nicht endlich erklären, was geschehen ist?“, fragte Ralph Condray ungeduldig. „Wie soll ich dir helfen, wenn ich noch immer nicht weiß . . .“
Jetzt endlich offenbarte Maud Ruby ihr Geheimnis. Sie kramte einen Zettel aus ihrer Handtasche und legte ihn auf den Tisch. „Lies!“, sagte sie tonlos.
Ralph Condray nahm den schmutzigen Wisch nur widerstrebend in die Hand. Mißtrauisch las er die flüchtig hingeworfenen Zeilen. „Es war Essig mit meiner Flucht“, stand da zu lesen. „Kam nicht über die Grenze. Mußte wieder nach London zurück. Komme heute nacht um elf Uhr in den Wartesaal III. Klasse der Waterloo Station. Bring auch James Green mit. Ihr müßt mir helfen. M. R.“
„M. R. — das bedeutet Mack Rupper, wie?“, fragte Ralph Condray hastig. „Stimmt das?“
„Ja.“
„Ist es wirklich seine Schrift?“
„Ja. Ganz bestimmt.“
Ralph Condray legte den Zettel angewidert auf den Tisch zurück. „Was willst du nun tun?“, fragte er stirnrunzelnd. „Willst du ihm helfen?“
Maud Ruby schüttelte den Kopf. Gequält schloß sie die Augen. Ein leises Zittern ging durch ihren Körper. „Aber du wirst zur Waterloo Station gehen, nicht wahr?“
„Ich muß wohl“, sagte Maud Ruby müde. „Er würde sonst in meine Wohnung kommen. Eigentlich hatte ich gehofft . . . daß du mich begleiten würdest.“
„Jawohl“, sagte Ralph Condray in energischem Entschluß. „Du hast richtig getippt. Ich werde dich auf alle Fälle begleiten.“
Er sah, daß Maud Ruby erleichtert aufatmete. In ihr bleiches Gesicht kehrte etwas Farbe zurück. „Wir müssen bald gehen“, sagte sie scheu. „Wir dürfen ihn nicht warten lassen. Du weißt doch, wie er ist.“
Es fiel Ralph Condray nicht schwer, für den Rest der Nacht Urlaub zu bekommen. Man konnte ihn leicht entbehren. Es gab nicht viel Arbeit. Schon kurz nach zehn Uhr zog er seine Kellnerjacke aus und rechnete mit Ruth Bonfield ab. Um halb elf war er fertig. In Hut und Mantel verließ er neben Maud Ruby die Blaue Taverne. Sie traten auf die Straße hinaus. Ein häßlicher Novemberwind peitschte ihnen wäßrigen Schnee in die Gesichter. Die Straßen waren so gut wie ausgestorben. Niemand hatte Lust, sich bei einem solchen Hundewetter nasse Füße zu holen.
„Wir werden eine Taxe nehmen“, sagte Maud Ruby rasch. „Sonst schaffen wir die weite Strecke nicht mehr bis elf Uhr. Komm! Gleich drüben an der Ecke ist der nächste Taxistand.“
„Einen Moment!“, warf Ralph Condray ein. „Ich habe erst noch einen anderen Gang. Es wird nicht lange dauern.“
Er zog sie zur nächsten Telephonzelle hin und studierte im Lichtschein der erleuchteten Kabine ihr bekümmertes Gesicht.
„Ich werde die Polizei anrufen“, sagte er kurz. „Ich werde diesem Kommissar Morry sagen, daß er pünktlich um elf Uhr im Wartesaal der Waterloo Station sein soll. Hast du etwas dagegen? Tut es dir leid um deinen Freund?“
„Mack Rupper ist nicht mehr mein Freund“, sagte Maud Ruby bedrückt. „Wie oft muß ich das noch wiederholen?“
„Nun gut! Dann wird es dir auch nichts ausmachen, wenn er in die Falle geht. Er hat es nicht anders verdient.“
Nun war die Reihe an Maud Ruby, erstaunt und ungläubig aufzuhorchen. „Früher hättest du das nicht getan“, sagte sie kopfschüttelnd. „Wie sehr hast du dich verändert. Du bist wirklich nicht mehr zu erkennen.“
„Wir wollen nicht länger herumreden“, sagte Ralph Condray ungeduldig. „Ist es dir recht, wenn ich den Kommissar um Hilfe bitte?“
„Ja“, sagte Maud Ruby rasch atmend. „Ich verlasse mich auf dich. Du wirst es schon recht machen.“
Der Anruf dauerte nur knapp zwei Minuten. Dann war Ralph Condray wieder neben ihr. Rasch ging er an ihrer Seite auf den Taxistand zu. Sie erreichten die Waterloo Station zur rechten Zeit. Die große Bahnhofsuhr zeigte drei Minuten vor der elften Nachtstunde. Durch die Eingangstüren strömten Reisende mit großen Koffern. Sie boten einen friedlichen Anblick. Es war nirgends etwas Besonderes zu sehen. Und doch hatte Maud Ruby das Gefühl, als hinge ein drohendes Gewitter in der Luft. Je näher sie dem Wartesaal kamen, desto langsamer und schleppender wurden ihre Schritte. Sie kam kaum noch von der Stelle. Ihre Füße waren schwer wie Blei. Ihr Gesicht war nun wieder starr wie eine Maske.
„Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Ich würde zehn Jahre meines Lebens verschenken, wenn ich jetzt nicht in diesen Wartesaal müßte.“
„Es läßt sich leider nicht anders machen“, murmelte Ralph Condray unsicher. „Mir ist im Moment auch nicht ganz wohl in meiner Haut. Aber die Stunde wird vorübergehen. Ich vertraue auf diesen Kommissar.“
Beklommen traten sie in den großen Saal ein. Überhitzte, rauchige Luft schlug ihnen entgegen. Kellner eilten geschäftig an ihnen vorbei. Es roch nach Hühnerbrühe und Fischgerichten. Langsam gingen sie durch die Tischreihen. Aufmerksam spähten sie in die Gesichter der Wartegäste. Dann stockte Maud Ruby plötzlich mitten im Schritt.
Sie hatte Mack Rupper entdeckt. „Dort sitzt er“, flüsterte sie entgeistert. „Er ist also wirklich hier. Ich habe es bis jetzt nicht glauben wollen.“
Zaubernd und unschlüssig gingen sie auf den Tisch zu. Jeder Schritt wurde ihnen zur Qual. Sie hörten beide ihr Herz laut gegen die Rippen pochen.
„Na, so kommt schon endlich“, zischte ihnen Mack Rupper heiser entgegen. „Setzt euch hierher! Habe einiges mit euch zu besprechen!“
Jetzt, zum ersten Mal, hatte Ralph Condray Gelegenheit, den steckbrieflich gesuchten Mörder und einen wahren Teufel in Menschengestalt genau zu betrachten. Wie dumm die Menschen sind, dachte er betreten. Sie glauben immer, ein Mörder müsse ein brutales Gesicht, stechende Augen und ein verwahrlostes Äußere haben. Dieser Mann entspricht in keiner Weise solch kindischen Vorstellungen. Er sieht männlich und sympathisch aus. Er wirkt sogar anziehend. Kein Wunder, daß ein unerfahrenes Mädchen leicht auf ihn hereinfallen konnte.
„Ich werde wieder verschwinden“, hörte er Mack Rupper in diesem Moment sagen. „Ich habe euch hier auf einen Zettel geschrieben, was ich brauche. Könnt ihr mir das bis morgen beschaffen?“
Er brach hastig ab. Er merkte mit dem Instinkt eines gehetzten Raubtieres, daß sich in seiner Umgebung eine Veränderung vollzog. Er sah, daß sich drei, vier Herren an den Nachbartischen wie auf ein geheimes Kommando erhoben. Sie begannen seinen Tisch einzukreisen. Sie kamen unauffällig näher.
„Habt ihr mich etwa verzinkt?“ Mit argwöhnischen Blicken streifte er Maud Ruby und Ralph Condray. „He, wollt ihr mir die Polizei auf den Hals hetzen?“
Er wartete die Antwort nicht mehr ab. Er sprang auf, stieß polternd seinen Stuhl zur Seite und jagte wie ein Irrer auf die großen Fenster zu, die zu den Bahnsteigen hinausführten. Er kümmerte sich nicht um die gellenden Rufe in seinem Rücken. Er hielt auch nicht an, als ein Warnschuß peitschend neben ihm in die zersplitternde Scheibe schlug. Er riß in panischer Hast einen Fensterflügel auf, schwang sich über den Sims und stürmte keuchend auf die abgestellten Züge zu. Aalglatt und geschmeidig zwängte er sich unter den Achsen durch; unaufhaltsam hetzte er weiter.
Maud Ruby hatte die verzweifelte Flucht mit schreckgeweiteten Augen beobachtet. Sie hatte unwillkürlich ihre Hand in den Mantel Ralph Condrays verkrallt. Starr blickte sie durch das offene Fenster auf die Bahnsteige hinaus. Sie hörte die lauten Rufe der Polizisten und peitschende Schüsse. Der Lärm entfernte sich allmählich. Nur die Gäste im Wartesaal schnatterten noch aufgeregt durcheinander.
„Was soll nun aus uns werden?“, fragte Maud Ruby mit zuckenden Lippen. „Wenn er entkommt, dürfte unser Schicksal besiegelt sein. Er wird uns noch in dieser Nacht die Rechnung präsentieren.“
„Wir wollen abwarten“, sagte Ralph Condray achselzuckend. „Vielleicht fassen sie ihn doch noch. Dieser Kommissar hat eigentlich nur selten danebengegriffen.“
Sie warteten in verzehrender Ungeduld. Sie rührten weder ein Getränk noch eine Speise an. Sie rauchten nicht einmal eine Zigarette. Ihre Blicke hingen wie gebannt an der großen Uhr an der Stirnseite des Wartesaals. Sie schraken jedes Mal zusammen, wenn der Zeiger mit einem winzigen Sprung vorschnellte. Zwanzig Minuten vergingen. Vierzig Minuten. Eine Stunde. Dann trat plötzlich ein Detektiv in Zivil an ihre Seite. „Peinliche Geschichte“, murmelte er verlegen. „Dieser Kerl ging uns zum zweiten Mal durch die Lappen. Man könnte glauben, er sei mit dem Teufel verbündet. Kein anderer hätte ihm das nachgemacht. Er kam anscheinend völlig unversehrt durch den Kugelregen.“
„Hm“, sagte Ralph Condray bitter. „Wenn ich selbst gehandelt hätte, wäre diese Pleite nicht eingetreten. Aber leider darf man auch einen Mörder nicht einfach niederschießen. Unsere Gesetze wollen es so.“
„Komm!“, sagte er nach einer Weile zu Maud Ruby. „Wir wollen gehen. In Zukunft werden wir uns wieder allein helfen müssen.“
Am Bahnhofsausgang nahmen sie sich eine Taxe und ließen sich nach Islington zum Lofting Oval bringen. Vor dem roten Badesteinhaus stiegen sie aus. Maud Ruby blickte bekümmert an der dunklen Fassade empor. Ihr Mut war auf den Nullpunkt gesunken. Ängstlich tastete sie die schwarzen Fenster ihrer Wohnung ab.
„Ich habe schreckliche Angst vor dieser kommenden Nacht“, preßte sie gepeinigt über die Lippen. „Er wird kommen. Ich fühle es.“
Auch Ralph Condray spürte einen seltsam schweren Druck auf der Brust. Das beklemmende Gefühl steigerte sich noch, als er den Hausschlüssel ins Schloß führte. Auch diesmal hatte er die düstere Ahnung, als führe dieser Schlüssel geradewegs in das Reich des Todes.