Читать книгу Die Fälle des Kommissar Morry - 10 legendäre Krimi Leihbücher in einem Band - Cedric Balmore - Страница 35

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In der letzten Woche des November hielt der Polizeiverein London Ost wieder einen frohen Unterhaltungsabend im großen Saalbau am Mardon Place ab. Zum ersten Mal nahm auch Kommissar Morry vom Sonderdezernat Scotland Yards an dem bunten Treiben teil. Er hatte seinen Platz an der Seite Chefinspektor Grahams, dem Leiter des Sittendezernats. Immer wieder irrten die Blicke kleiner Konstabler und Revierpolizisten zu ihnen her. Die respektvolle Bewunderung galt dem berühmten Detektiv, der bisher nie die Zeit gefunden hatte, den Polizeiverein London Ost mit seiner Anwesenheit zu beehren.

„Wie weit seid ihr mit Mack Rupper?“, fragte Chefinspektor Graham interessiert. „Habt ihr ihn anständig in die Zange genommen? Ist er nun der gesuchte Mörder oder nicht?“

„No, er ist es nicht“, sagte Kommissar Morry achselzuckend.

„Er hat lediglich die drei Morde eingestanden, die vor seiner mißglückten Flucht lagen. Hartnäk- kig bestreitet er jede Mittäterschaft an den weiteren Verbrechen. Ich glaube ihm sogar. Er hat einen würdigen Nachfolger gefunden. Einen Schurken, der seinen Herrn und Meister noch bei weitem übertrifft.“

„Hm. Dann müßt ihr also wieder ganz von vorn beginnen“, sagte Chefinspektor Grahan gedehnt.

„Ja, so ziemlich“, gab Kommissar Morry bedrückt zu. „Ich habe allerdings die Hoffnung, daß der Mörder noch heute nacht in meine Falle geht.“

„Noch heute Nacht?“, fragte Chefinspektor Grahan erstaunt. „Sie machen mich neugierig, Morry. Was haben Sie vor?“

Der Kommissar stützte seinen Kopf auf die Fäuste und grübelte nachdenklich vor sich hin. „Ich gehe von der Tatsache aus“, murmelte er, „daß die meisten Morde hier am Mardon Place geschahen. Und zwar meist dann, wenn einer Ihrer Beamten vom Sittendezernat der berüchtigten Kellerbar eben zuvor einen Besuch abgestattet hatte. Das werden wir auch heute tun, Mr. Grahan. Ich bitte Sie, mich in Moncktons Kellerbar und nachher in die Wohnung Sandra Bourdons zu begleiten. Wollen mal sehen, ob sich der Mörder durch diesen Schritt herausfordern läßt. Vielleicht verliert er die Nerven. Darauf baut sich mein ganzer Plan auf.“

Über das runde Vollmondsgesicht Chefinspektor Grahans flog ein dunkler Schatten. „Sie lassen mich doch hoffentlich vorher in Ruhe essen“, meinte er besorgt. Es gibt Rahmschnitzel mit feinen Salaten. Ich freute mich schon den ganzen Tag darauf.“ Morry lächelte belustigt. „Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich warte so lange. Der Mörder läuft uns inzwischen nicht weg.“

Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis Chefinspektor Grahan mit genußvollem Behagen seine Teller geleert hatte. Und dann dauerte es noch einmal eine Stunde, bis sein Durst gestillt war. Um zehn Uhr konnten sie dann endlich aufbrechen. Sie gingen langsam durch die Tischreihen. Viele Blicke folgten ihnen. Fast alle Gesichter wandten sich ihnen ehrerbietig zu.

„Nur langsam“, murmelte Kommissar Morry. „Wir haben Zeit! Jeder soll uns sehen.“ Chefinspektor Grahan stutzte. Sein rundes Gesicht wurde um einen Schein bleicher. „Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ausgerechnet hier im Polizeiverein London Ost . . .?“

„Ich muß mit jeder Möglichkeit rechnen“, warf Kommissar Morry ein. „Der Schauplatz der meisten Verbrechen liegt nur wenige Schritte von diesem Saalbau entfernt. Aber lassen wir das, Grahan. Wollen uns keine unnötigen Gedanken machen.“

Sie gingen auf Moncktons Kellerbar zu und schritten dann nebeneinander die steinernen Stufen hinunter. Auch ihnen erging es nicht anders als allen Kollegen zuvor: Sie spürten mit geheimem Widerwillen das aufdringliche Fluidum des Lasters, das ihnen aus den Gewölben entgegenschlug. Sie blickten geringschätzig auf die mit Flitter verkleideten Wände und auf die farbigen Luftballons. Ebenso verächtlich musterten sie die lackierten Gesichter der käuflichen Mädchen. Die Bude war wieder einmal gerammelt voll. In allen Nischen lümmelten neben den dürftig gekleideten Flittchen zahlungskräftige Kavaliere herum. Man sah verstohlene Zärtlichkeiten und fade Küsse. Man sah Umarmungen und verliebtes Getuschel. Die Sünde hatte tausend lockende Arme.

„Wohin jetzt?“, fragte Chefinspektor Grahan verlegen. „Wollen wir ewig hier herumstehen?“

„Moment!“, sagte Kommissar Morry rasch. „Ich glaube, ich habe ein freies Plätzchen entdeckt. Kommen Sie mit!“

Sie gingen auf die letzte Polsternische zu. Dort saß Sandra Bourdon, die ehemalige Zirkusreiterin. Sie war auch an diesem Abend allein. Ihr Gesicht wirkte kalt und abweisend. Anscheinend ging ihr der laute Betrieb ziemlich auf die Nerven.

„Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“, fragte Kommissär Morry höflich. „Oder haben Sie etwas gegen die Polizei?“

„Nicht im geringsten“, sagte Sandra Bourdon mit spöttischem Augenaufschlag. „Setzen Sie sich ruhig an meine Seite. Ich bin im Augenblick nicht gefährlich.“

Morry beobachtete sie heimlich, wie sie elegant ihre lange Zigarettenspitze zum Munde führte. Sie wirkte fast wie eine Dame. Alles an ihr war selbstbewußt und hoheitsvoll.

„Daß Sie nicht Artistin geblieben sind?“, meinte Morry bedauernd. „Sie wurden früher von vielen Menschen bewundert. Ich selbst habe Sie zwei- oder dreimal im Tivoli gesehen.“

„Davon verstehen Sie nichts, Kommissar“, sagte Sandra Bourdon mit heiserer Stimme. „Abwärts geht es sehr schnell. Ehe man sichcs versieht, steckt man schon bis zum Hals im Morast. Und im Sumpf kann man leider nicht schwimmen. Da geht man unter.“

Chefinspektor Grahan bestellte sich ein halbes Hähnchen und gab sich ganz seinen Genüssen hin. Mit keinem Wort beteiligte er sich an der Unterhaltung. Andächtig nagte er die zarten Knochen ab. „Sie haben damals Wachtmeister Swan eine Schatulle übergeben, nicht wahr?“, nahm Morry das Gespräch wieder auf. „Wenn ich recht im Bilde bin, enthielt das Kästchen Briefe und Photos von Lissy Black. Stimmt das?“

„Hm. So war es.“

„Diese Schatulle ist seither verschwunden“, murmelte der Kommissar nachdenklich. „Wenn ich nur wüßte, wer sie in Händen hat. Dann könnte ich heute Nacht ruhig schlafen.“

„Ich weiß nichts davon“, sagte Sandra Bourdon kühl. „Ich habe getan, was ich konnte.“

„Sie müssen noch mehr tun“, sagte Morry eindringlich. „Wir werden Sie nachher in Ihre Wohnung begleiten. Keine Sorge, wir bleiben nicht lang.“

Sandra Bourdon lächelte spöttisch vor sich hin.

„Meine Gäste werden immer vornehmer“, sagte sie ironisch.

„Erst waren es nur Sergeanten und Wachtmeister. Jetzt kommen schon Kommissare und Chefinspektoren auf meine Bude. Eine bessere Reklame könnte ich mir gar nicht wünschen.“

„Lassen Sie den Spott“, sagte Morry ernst. „Vielleicht bringt diese Nacht eine entscheidende Wende.“

Sie mußten sich noch gedulden, bis Chefinspektor Grahan zum zweitenmal seinen Durst gestillt hatte. Dann erst konnten sie aufbrechen. Sie gingen langsam und mit lautem Geplauder auf das letzte Haus am Mardon Place zu. Kommissar Morry spähte verstohlen in alle Häusernischen und Torbögen. Er tastete jeden dunklen Winkel ab. Er drehte sich mehrmals um. Sein untrüglicher Instinkt verriet ihm, daß sie verfolgt wurden. Irgendjemand schlich hinter ihnen her.

Na also, dachte Morry in stillem Triumph. Die Falle steht offen. Nun wollen wir sehen, wen sie uns fängt. Sie gingen hinter Sandra Bourdon die steile Stiege hinauf. Ihre Schritte verursachten ziemlichen Lärm. Irgendwo wurde eine Wohnungstür auf gestoßen.

„Jagt doch endlich dieses Frauenzimmer aus dem Haus“, keifte eine gehässige Stimme. „Nun bringt sie schon zwei Kavaliere mit. Wenn das so weitergeht, werden sie hier auf der Treppe Schlange stehen.“

„Beruhigen Sie sich, liebe Frau“, sagte Morry freundlich und hielt der alten Dame seinen Polizeiausweis unter die Nase.

„Wir sind rein dienstlich hier. Um unser Seelenheil brauchen Sie nicht besorgt zu sein.“

Eine Minute später traten sie in das Zimmer Sandra Bourdons ein. Sie blickten scheu zu dem Sofa hin, auf dem Lissy Black ermordet worden war. Nichts erinnerte mehr an ihren jähen Tod. Alle Spuren waren sorgfältig getilgt worden.

„Setzen Sie sich doch, meine Herren“, sagte Sandra Bourdon einladend. „Was kann ich sonst noch für Sie tun? Wollen Sie einen indischen Schleiertanz sehen? Das ist mein Spezialfach. Sieben Schleier sind es zuerst, dann werden es immer weniger, bis ich zuletzt überhaupt nichts mehr . . .“

„Ersparen Sie sich die Mühe“, sagte Kommissar Morry schmunzelnd. „Wir halten uns nicht mehr lange auf.“

Er blickte unablässig auf seine Uhr. Als genau fünf Minuten vergangen waren, tippte er Chefinspektor Grahan auf die Schulter. „Es ist so weit“, murmelte er. „Wir wollen gehen.“

Sie verließen das Zimmer und stiegen langsam die Treppe hinunter. Im Hausflur hielten sie an.

„Einen Augenblick“, raunte Morry gedämpft. „Jetzt gehen Sie allein weiter, Mr. Grahan. Ich warte hier. Keine Sorge. Sie brauchen nichts zu befürchten.“

„Das sagen Sie so“, murmelte Chefinspektor Grahan zaudernd.

„Wahrscheinlich dachten Wachtmeister Swan und Sergeant Waldram das gleiche. Aber der Mörder war schneller als sie. Gegen seine abgefeilten Patronen gibt es noch immer kein wirksames Mittel.“

„Los!“, zischte Morry energisch. „Verderben Sie mir nicht den ganzen Plan. Gehen Sie schon!“

„Auf Ihre Verantwortung“, raunte Grahan und stieß die Tür auf. Unsicher und mit schleppenden Schritten trat er auf den Mardon Place hinaus. Er machte einen vorsichtigen Bogen um die nächste Laterne. Langsam ging er in Richtung der Kellerbar. Dann blieb er plötzlich stehen. Ruckartig verhielt er den Schritt. Irgendjemand hatte seinen Namen gerufen.

Was nun? Welchen Plan verfolgte der Kommissar? Wollte er warten, bis er, Chefinspektor Grahan, ein gezacktes Loch in der Brust hatte? Wie sollte es weitergehen? Wie konnte er sich gegen einen Unsichtbaren wehren? Er wußte nicht einmal die Richtung anzugeben, aus welcher der Ruf gekommen war. Ebenso ratlos war Kommissar Morry in diesen dramatischen Sekunden. Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt. Er hatte geglaubt, der Mörder würde sich frei und offen aus dem Hinterhalt wagen. Statt dessen hatte man nur eine dünne Stimme gehört, die leise im Wind verwehte.

Jetzt kam der Ruf wieder. „Hallo, Mr. Grahan!“ klang es von der gegenüberliegenden Häuserreihe her. „Warten Sie doch einen Moment!“

Höchste Gefahr! Jeden Moment konnte der mörderische Schuß fallen. Vielleicht lag der Zeigefinger dieses Satans schon am Abzug. Es galt rasch zu handeln.

Kommissar Morry stieß hart die Tür auf und richtete den Strahlenkegel seiner Handlampe genau auf den Torbogen, woher der Ruf gekommen war. Das dünne Lichtbündel erfaßte eine dunkle Gestalt, die vorgebeugt im Torbogen lehnte. In der erhobenen Rechten blitzte ein metallischer Gegenstand. Es war die Pistole Mack Ruppers.

„Werfen Sie die Waffe weg!“, rief Kommissar Morry in schneidendem Tonfall. „Ich schieße ohne weitere Warnung. Ich habe Sie genau im Visier.“

Er war fest entschlossen, seine Drohung wahrzumachen. Er riß die Dienstpistole aus der Tasche und warf den Sicherungsflügel zurück. Als er den Torbogen anvisierte, mußte er zu seiner grenzenlosen Enttäuschung feststellen, daß der dunkle Schatten verschwunden war. Die Nische war leer. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, jagte Morry auf die gegenüberliegende Häuserreihe zu. Hastig näherte er sich dem Hauseingang. Der Torbogen lag nun unmittelbar vor ihm. Nackt grinsten ihn die grauen Steine an. Er entdeckte eine Tür, die geradenwegs in den Hinterhof führte. Sie stand noch halb offen. Sie bezeichnete deutlich den Fluchtweg, den der Mörder genommen hatte.

Morry machte sich die Mühe, die Tür zu öffnen und den Hinterhof abzuleuchten. Es war ein vergebliches Beginnen. Der Hof hatte mindestens zwei Ausgänge. Der Vorsprung des ändern war nicht mehr einzuholen.

„Raffinierter hätte er seinen Standort gar nicht wählen können“, brummte Morry verbittert vor sich hin. „Er weiß, daß er nicht anzugreifen ist. Er kommt und geht wie der Schatten des Todes.“

Er drehte sich um, als er ein lautes Schnaufen in seinem Rücken hörte. Es war Chefinspektor Grahan, der aus dem Dunkel tauchte. Sein rundes Gesicht war mit unzähligen Schweißtropfen bedeckt. Die Augen waren klein und verkniffen.

„Hören Sie“, keuchte er, „das war das erste und letzte Mal, daß ich mich für Ihre Experimente zur Verfügung stellte. In Zukunft suchen Sie sich ein anderes Versuchstier. Ich bin für Ihre gefährlichen Pläne schon zu alt. Mein Herz macht da einfach nicht mehr mit.“

„Was wollen Sie denn?“, brummte Morry lächelnd. „Es ist doch gar nichts passiert. Sie sind mit heiler Haut davongekommen.“

„So? Meinen Sie?“, schnaubte Chefinspektor Grahan. „Und wer bezahlt mir die Angst, die ich a.us- gestanden habe? Wenn mein Opfer wenigstens etwas genützt hätte, dann würde ich gar nichts sagen.“

„Es hat etwas genützt“, sagte Morry trocken. „Wieso denn? Haben Sie den Mörder erkannt?“ „Nicht direkt erkannt“, lächelte Morry. „Aber der Kreis der Verdächtigen hat sich genau um die Hälfte verringert.“


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