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IV.

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Am nächsten Morgen gingen sie wieder zusammen hin, denn diesmal sollte Amelia Modell stehen. »Wehe«, sagte Amelia, »wenn du mir noch einmal den Platz wegnimmst. Dieser Halunke weiß, dass du dich mit einem Eis abspeisen lässt, und nutzt es aus, dass du noch Jungfrau bist.« Ginia war nicht mehr so zufrieden wie vorher, und gleich nach dem Aufwachen hatte sie an ihre Porträts gedacht, die noch zwischen den Aktzeichnungen von Amelia lagen, und an das schreckliche Herzklopfen, das sie bekommen hatte. Sie hegte noch die winzige Hoffnung, sie könne sich ihre Gesichter schenken lassen, nicht, weil sie sie unbedingt wollte, sondern damit sie nicht der Neugier jedes x-beliebigen ausgesetzt blieben. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass ausgerechnet Barbetta, dieser fette alte Papi, Amelias Beine, Rücken, Bauch und Brustwarzen gezeichnet, daran radiert und herumgepfuscht hatte. Sie wagte ihr nicht ins Gesicht zu sehen. Diese grauen Augen und dieser Bleistift hatten sie fixiert, vermessen und erforscht, schamloser als ein Spiegel, und sie hatte stillgehalten oder womöglich herumgealbert und geplappert.

»Störe ich euch heute Morgen nicht?«, fragte Ginia sie, während sie in das Haustor einbogen.

»Hör zu«, antwortete Amelia, »wolltest du mich Modell stehen sehen, ja oder nein? Das nächste Mal werde ich aufpassen, mich nicht mehr mit höheren Töchtern einzulassen.«

Im Atelier waren alle Fenster aufgerissen und die Vorhänge geöffnet, und während sie auf Barbetta warteten, kam die alte Dienstmagd die Treppe herauf, um ein Auge auf sie zu haben. Ginia fragte sich, wo sich Amelia wohl zum Posieren hinstellen würde, doch Amelia stritt schon mit der Alten und ließ sie alle Fenster schließen, weil die Morgenluft den Raum auskühlte. Die Frau sprach nicht, sondern brummte und hatte ein so muffiges und behaartes Gesicht, dass Amelia sie ungeniert auslachte.

Schließlich kam Barbetta, zog sich den Kittel über und legte los, die Staffelei wurde nach hinten getragen, und die Palette kam zum Vorschein. Dort hinten im Atelier stand ein Bettsofa, und sie zogen alle Vorhänge zu bis auf den letzten, damit alles Licht auf diese Ecke fiel. Ginia fühlte sich in diesem Durcheinander überflüssig, und ihr schien, als sehe auch die Alte sie scheel an.

Als die Alte ging, zog sich Amelia neben dem Sofa aus, und Ginia beobachtete, wie Barbettas große Hand, einen Kohlestift zwischen den Fingern haltend, an der Staffelei ein weißliches Papier grundierte. Ohne sie anzusehen, sagte Barbetta zu ihr, sie solle sich setzen, und man hörte auch Amelias Stimme. Ginia blickte aus dem Fenster über die Dächer, als säße sie erneut Modell, und dachte, dass sie recht dumm war. Sie überwand sich und drehte sich um.

Ihr erster Gedanke war, Amelia müsse frieren und Barbetta sehe sie kaum an, und der wahre Störenfried sei allein sie selbst, weil sie nur aus Neugier da war. Amelia – braun, wie sie war – wirkte schmutzig, und es war peinlich, sie so zu sehen. Sie saß auf dem Sofa, die Arme auf einer Stuhllehne und das Gesicht verborgen, und zeigte deutlich das Bein von der Hüfte bis zur Ferse und die ganze Seite und die Achsel.

Nach kurzer Zeit langweilte Ginia sich. Sie beobachtete Barbetta, wie er wischte und wieder strichelte, betrachtete seine konzentrierte Miene, tauschte ein Lächeln mit Amelia, aber sie langweilte sich. Sie bekam wieder Herzklopfen, als Amelia zum ersten Mal aufstand, sich dehnte und das Höschen aufhob, das vom Sofa gefallen war, aber es war ein dummes Herzklopfen, das sie auch gespürt hätte, wenn sie allein gewesen wären, Herzklopfen, weil sie erkannte, wir Frauen sind alle gleich beschaffen, und wenn irgendwer Amelia nackt sah, war es, als sähe er auch sie, Ginia. Sie konnte nicht mehr stillsitzen.

Mit auf die Arme gelegtem Kopf sagte Amelia zu ihr: »Ciao, Ginia.« Das genügte, um sie zu erfreuen und zu beruhigen. Einen Augenblick davor hatte sie bemerkt, dass Amelias Fesseln gerötet waren, und sie überlegte, ob auch sie, hätte sie sich ausziehen müssen, solche Striemen gehabt hätte. »Meine Haut ist noch jünger«, sagte sie sich. Dann fragte sie laut: »Hat er dich je in Farbe gemalt?«

Barbetta antwortete ihr: »Mit Farben macht man keine Skizzen. Sie kommen mit der Sonne zum Fenster herein. Hier drin gibt es keine Farben.« – »Na klar«, sagte Amelia, »er ist zu geizig. Farben sind teuer.« – »Du hast ja keine Ahnung«, schrie der Alte, »die Farbe muss man achten, das ist es, und du weißt gar nicht, was das bedeutet, denn abgesehen von deinem Make-up bist du völlig farblos. Da ist an dieser kleinen Blonden schon mehr dran.« Amelia zuckte die Schultern und hob nicht einmal den Kopf.

Dann hörte man von irgendwo jenseits der Dächer eine Sirene, und Ginia begann, hin und her zu gehen, und fand auf dem Fensterbrett die Skizzen ihres Gesichts, wagte aber nicht, darum zu bitten. Als sie sie durchblätterte, sah sie auch die Zeichnungen von Amelia wieder und verglich sie im Stillen und fragte sich, ob Amelia tatsächlich diese Posen eingenommen hatte, die teilweise gymnastischen Übungen glichen. War es denn möglich, dass es einem alten Mann wie Barbetta noch Spaß machte, Mädchen abzuzeichnen und zu studieren, wie sie gebaut waren? Er war doch recht sonderbar, dachte sie.

Sie verließen das Atelier nach zwölf, und sie genossen es, wieder unter Leuten zu sein und völlig angezogen umherzugehen und die schönen Farben auf der Straße zu sehen, die, man begriff zwar nicht, wie, aber es stimmte, von der Sonne kamen, da es sie nachts nicht gab. Auch Amelias Unmut war verflogen, und sie bezahlte ihr einen Aperitif und redete nicht mehr von Malern.

Allein auf ihrem Sofa, dachte Ginia an diesem und mehreren anderen Nachmittagen noch lange darüber nach. Im Dunkeln sah sie Amelias schwarzen Bauch wieder vor sich und ihr gleichgültiges Gesicht und die hängenden Brüste. Gab es an einer bekleideten Frau nicht doch mehr zu malen? Wenn die Maler sie nackt malen wollten, mussten sie andere Ziele verfolgen. Warum malten sie keine Männer? Sogar Amelia wurde eine andere, wenn sie sich so bloßstellte. Ginia weinte beinahe.

Doch zu Amelia sagte sie nichts, es freute sie nur, dass diese jetzt etwas verdiente und lieber mit ins Kino ging, wenn sie sich trafen. Dann kaufte Amelia sich Strümpfe und frisierte sich besser, und Ginia ging wieder richtig gern mit ihr aus, weil Amelia gut ankam und sich viele nach ihnen umdrehten. So ging der Sommer zu Ende, und eines Abends sagte Amelia: »Dein Barbetta geht aufs Land, um seine Farben zu suchen und zur Weinlese. Er fing an, mich zu nerven.«

Gerade an diesem Abend hatte Amelia eine neue Handtasche, und Ginia fragte: »Hat er dir ein Abschiedsgeschenk gemacht?«

»Der?«, sagte Amelia. »Dass ich nicht lache! Der wollte, dass du wiederkommst, dir hätte er nichts bezahlen müssen.«

Dann stritten sie sich, weil Amelia es ihr nie gesagt hatte, und gingen beleidigt auseinander. »Sie hat einen Liebhaber gefunden«, dachte Ginia, allein auf dem Heimweg, »sie hat einen Liebhaber gefunden, der ihr Geschenke macht.« Sie beschloss, sich erst dann mit ihr zu versöhnen, wenn Amelia kommen und sie darum bitten würde.

Lustlos, um sich nicht zu langweilen, versuchte Ginia, die alten Freundschaften wieder aufzuwärmen. Schließlich würde sie im nächsten Sommer siebzehn Jahre alt sein, und ihr schien, sie sei nun längst so schlau wie Amelia. Umso mehr, als sie sie nicht mehr sah. An diesen schon kühlen Abenden versuchte sie, Rosa gegenüber die Amelia zu spielen. Sie lachte ihr oft ins Gesicht und ging plaudernd mit ihr spazieren. Sie redete noch einmal mit ihr über Pino. Aber sie zum Tanzen auf den Hügel zu führen, wagte sie nicht.

Amelia hatte bestimmt jemanden, denn niemand bekam sie mehr zu Gesicht. »Solange eine Frau was zum Anziehen hat«, dachte Ginia, »macht sie eine gute Figur. Man muss aufpassen, sich nicht nackt sehen zu lassen.« Doch über solche Dinge konnte man weder mit Rosa oder Clara noch mit deren Brüdern sprechen, die sofort schlecht von ihr gedacht oder versucht hätten, sie anzufassen, und das wollte Ginia nicht, weil sie begriffen hatte, dass es etwas Besseres auf der Welt gab als einen Ferruccio oder einen Pino. An den Abenden, die sie mit ihnen verbrachte, tanzten und scherzten sie – unterhielten sich auch –, aber Ginia wusste, dass es die gleiche Fröhlichkeit war wie an den Sonntagen, an denen sie Boot gefahren waren: Kindereien, ohne Folgen, eine Auswirkung der Sonne und des Singens, kaum sah man einen mit dem Handtuch um die Hüften, der eine Frau nachmachte, schon lachte man los. Jetzt dagegen bestanden die Sonntage und Abende aus Langeweile, da sich Ginia allein zu nichts mehr entschließen konnte und sich von den anderen Mädchen mitziehen ließ. Nur in der Schneiderei hatte sie manchmal Spaß, wenn die Signora sie rief, um einer Kundin mit Stecknadeln das Kleid abzustecken. Es war zum Lachen, wenn man bestimmte Geschichten hörte, die manche dummen Kundinnen erzählten, aber noch lustiger war es, wenn die Signora so tat, als glaube sie daran, und ganz ernst blieb, während die Spiegel ihr schelmisches Gesicht zeigten. Einmal kam eine Blonde, die behauptete, sie hätte ihr Auto unten vor der Tür, doch wenn das wahr gewesen wäre, dachte Ginia, hätte sie eine luxuriösere Schneiderei aufgesucht. Sie war jung und groß und trug keinen Ehering. Aber schön, fand Ginia, schön und schlank, auch als sie in Höschen und Büstenhalter und sonst nichts dastand. Wenn die Modell gestanden hätte, das wäre wirklich ein schönes Bild geworden, und vielleicht war sie tatsächlich ein Modell, denn sie spazierte in der gleichen Haltung wie Amelia vor den Spiegeln auf und ab. Tage später sah Ginia ihre Rechnung, aber es stand nur der Nachname darauf, und mehr erfuhr sie nicht. Für sie blieb die Blonde ein Modell.

Eines Abends ließ Ginia sich von einem Freund von Severino einladen, der zu ihnen nach Hause kam, um ihr eine Lampe zu bringen, und ging am nächsten Tag in seinem Geschäft vorbei. Er war ein junger Mann wie Severino und flößte ihr keine Scheu ein, denn er trug immer einen Arbeitsanzug, und ein paar Jahre zuvor hatte er sie noch an den Handgelenken gepackt und gefragt, ob sie einen elektrischen Schlag bekommen wolle. Jetzt betrachtete er sie mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen. Ginia ging hin, weil man von dem Geschäft aus Amelias Haustor sehen konnte, aber dieser Massimo hatte bestimmt keine Ahnung, warum sie eine ganze Weile mit ihm plauderte und lachte und gleich am nächsten Tag wiederkam.

Sie betrachteten die rosafarbenen und himmelblauen Lampen, und Ginia alberte herum. Durch das Schaufenster sah man Leute vorbeigehen, und sie fragte, ob es stimme, dass Amelia weiß gekleidet herumlief. »Wer weiß«, sagte Massimo, »ihr seid so viele, ihr Mädchen. Severino wird es wissen.« – »Oh, warum Severino?« – »Severino«, antwortete Massimo, »mag kräftige Frauen. Es ist doch die, die ohne Strümpfe geht?« – »Hat er dir das gesagt?«, fragte Ginia. »Du bist seine Schwester und weißt es nicht?«, erwiderte Massimo lachend. »Lass es dir von Amelia erzählen. Kam sie nicht immer zu dir nach Hause?«

Daran hatte Ginia nie gedacht. Der Gedanke, dass Amelia Severino gefallen hatte und dass sie es sich gesagt hatten und sich womöglich trafen, verdarb ihr den Tag. Wenn das stimmte, war Amelias ganze Freundschaft nur eine Finte gewesen. »Ich bin wirklich ein Kindskopf«, dachte Ginia, und um ihre Wut zu dämpfen, erinnerte sie sich daran, dass es sie abgestoßen hatte, Amelia nackt zu sehen. »Aber stimmt es überhaupt?«, dachte sie. Severino in ein Mädchen verliebt, das konnte sie sich nicht vorstellen, sie war sich vielmehr sicher, hätte er die arme Amelia damals Modell stehen sehen, hätte sie ihm nicht mehr gefallen. »Oder vielleicht doch?« – »Aber warum sind wir nackt?«, dachte sie verzweifelt.

Gegen Abend war sie schon wieder ruhiger und überzeugt, dass Massimo nur so dahergeredet hatte. Während sie mit Severino aß, betrachtete sie seine Hände mit den kaputten Fingernägeln und begriff, dass Amelia ganz anderes gewohnt war. Dann blieb sie im gedämpften Licht allein und dachte an die schönen Abende im August, als Amelia sie abholen kam, da hörte sie hinter der Tür ihre Stimme.

Der schöne Sommer

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