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II.

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Von Amelia wusste man wenigstens, dass sie ein anderes Leben führte. Ihr Bruder war Mechaniker, doch sie tauchte an jenen Sommerabenden nur ab und zu auf und gestattete niemandem Vertraulichkeiten, lachte aber mit allen, weil sie schon neunzehn oder zwanzig war. Ginia hätte gern ihre Figur gehabt, denn an Amelias Beinen machten sich die feinen Strümpfe wirklich gut. War Amelia allerdings im Badeanzug, sah man ihre ausladenden Hüften, und ihre Gesichtszüge erinnerten ein bisschen an ein Pferd. »Ich bin arbeitslos«, sagte sie eines Abends zu Ginia, während diese ihr Kleid musterte, »ich habe den ganzen Tag Zeit, über ein Modell nachzudenken. Ich habe Zuschneiden gelernt, als ich noch wie du in der Schneiderei arbeitete, weißt du?« Ginia dachte, dass es am schönsten wäre, sich die Kleider machen zu lassen, sagte aber nichts. Vielmehr drehten sie an jenem Abend zusammen eine Runde, und Ginia begleitete Amelia bis nach Hause, denn sie fühlte sich hellwach und dachte nicht ans Schlafen. Es hatte geregnet, und der Asphalt und die Bäume waren wie frisch gewaschen: Man spürte die Kühle im Gesicht.

»Du gehst gern spazieren«, sagte Amelia lachend. »Was meint dein Bruder Severino dazu?« – »Um diese Zeit ist Severino bei der Arbeit. Alle Straßenlaternen zündet er an und überwacht sie.« – »Dann ist er es, der den Paaren Licht macht? Wie ist er angezogen? Wie ein Gasmann?« – »Aber nein«, sagte Ginia lachend, »er überwacht die Schalter in der Zentrale. Er verbringt die Nacht an einer Maschine.« – »Und lebt ihr allein? Hält er dir keine Moralpredigten?« Amelia redete fröhlich und unbefangen, wie jemand, der alle kennt, und Ginia fiel es nicht schwer, sie zu duzen. »Bist du schon lange arbeitslos?«, fragte sie sie.

»Eine Arbeit habe ich. Ich lasse mich malen.«

Nach der Stimme zu urteilen, klang es wie ein Scherz, und Ginia sah sie an. »Malen? Wie?«

»Von vorn, im Profil; angezogen, nackt. Modell stehen nennt man das.«

Ginia hörte zu und heuchelte Erstaunen, damit sie weiterredete, aber sie wusste längst, was Amelia da erzählte. Nur hätte sie nie geglaubt, dass Amelia mit ihr darüber sprechen würde, weil sie es nie einer von ihnen gesagt hatte, sondern Rosa das Geheimnis nur durch Portiersfrauen entdeckt hatte.

»Gehst du tatsächlich zu einem Maler?«

»Ich ging«, sagte Amelia. »Aber im Sommer kommt es ihn billiger, im Freien zu malen. Im Winter ist es zu kalt, um nackt zu posieren, und so arbeitet man so gut wie nie.«

»Hast du dich wirklich ausgezogen?« – »Aber ja«, sagte Amelia.

Dann hakte sie sich bei Ginia unter und fügte hinzu: »Es ist eine schöne Arbeit, weil du nichts tust und den Gesprächen zuhörst. Ich ging mal zu einem, der hatte ein wunderbares Atelier, und wenn Leute kamen, wurde Tee getrunken. Da lernt man, sich in der Welt zu bewegen, besser als im Kino.«

»Kamen sie einfach herein, während du Modell standest?«

»Sie klopften vorher an. Das Schönste sind die Frauen. Wusstest du, dass Frauen auch Bilder malen? Sie bezahlen ein Mädchen, um es nackt abzumalen. Warum stellen sie sich nicht vor den Spiegel? Wenn sie einen Mann malten, würde ich es noch verstehen.«

»Vielleicht tun sie das auch«, sagte Ginia.

»Kann gut sein«, sagte Amelia, indem sie am Haustor stehenblieb, und zwinkerte Ginia zu. »Aber manchen Modellen zahlen sie das Doppelte. Na wenn schon, die Welt ist schön, weil sie bunt ist.«

Ginia fragte, warum sie sie nicht einmal besuchen käme, und ging dann allein zurück über den schimmernden Asphalt, den die laue Wärme der Nacht schon fast getrocknet hatte. »So alt, wie sie ist, erzählt sie zu viel von sich«, dachte Ginia zufrieden. »Wenn ich ihr Leben führte, würde ich es schlauer anstellen.«

Ginia war ein wenig enttäuscht, als sie merkte, dass die Tage vergingen und Amelia sie nicht besuchte. Offenbar hatte sie an jenem Abend doch nicht versucht, Freundschaft zu schließen, aber dann – dachte Ginia – heißt das ja, dass sie diese Sachen jedem erzählt und dass sie wirklich dumm ist. Vielleicht hält sie mich für ein Kind, für eine von denen, die alles glauben. Und eines Abends erzählte Ginia den anderen Mädchen, sie habe in einem Geschäft ein Gemälde gesehen, für das Amelia Modell gestanden habe, das begreife man sofort. Alle glaubten es, aber Ginia wollte noch erklären, sie habe sie am Körper erkannt, denn wenn das Modell nackt sei, veränderten die Maler extra das Gesicht. »Glaub bloß nicht, dass die so viel Rücksicht nehmen«, sagte Rosa, und alle lachten Ginia aus wegen ihrer Naivität. »Ich wäre froh, wenn mich ein Maler porträtieren und auch noch dafür bezahlen würde«, sagte Clara. Dann diskutierten sie darüber, ob Amelia schön sei, und Claras Bruder, der mit ihnen Boot gefahren war, sagte, nackt sei er schöner. Alle Mädchen lachten, und Ginia sagte: »Wenn sie nicht gut gebaut wäre, würde kein Maler sie malen«, aber niemand hörte auf sie. An jenem Abend fühlte sie sich gedemütigt und hätte am liebsten vor Wut geweint; aber die Tage vergingen, und als sie – aus der Straßenbahn steigend – Amelia wieder einmal traf, schlenderten sie plaudernd zusammen weiter. Ginia war sogar eleganter als Amelia, die ihren Hut in der Hand trug und beim Lachen die Zähne zeigte.

Am darauffolgenden Nachmittag kam Amelia sie besuchen. In der Hitze erschien sie in der weit geöffneten Tür, und Ginia sah sie aus dem Dunkeln, ohne selbst gesehen zu werden. Sie begrüßten sich freudig, nachdem Ginia die Fensterläden aufgestoßen hatte, und Amelia blickte sich um, während sie sich mit dem Hut Luft zufächelte. »Die Idee mit der offenen Tür gefällt mir«, sagte Amelia. »Du hast Glück. Bei mir zu Haus ginge das nicht, wir wohnen im Erdgeschoss.« Dann warf sie einen Blick in das andere Zimmer, wo Severino schlief, und sagte: »Bei uns ist ständig Rummel. Wir sind zu fünft in zwei Zimmern, die Katzen nicht mitgezählt.« Als es Zeit war, machten sie sich gemeinsam auf den Weg, und Ginia sagte zu ihr: »Komm zu mir, wenn du dein Erdgeschoss satthast; hier hat man seine Ruhe.« Sie wollte Amelia zu verstehen geben, dass sie es nicht sagte, um ihre Familie schlechtzumachen, sondern weil sie sich darüber freute, wie gut sie miteinander auskamen. Und Amelia sagte weder Ja noch Nein, lud sie aber zu einem Kaffee ein, bevor sie die Straßenbahn nahm. Am nächsten Tag ließ sie sich dann nicht blicken und am übernächsten auch nicht. Sie kam vielmehr eines Abends, ohne Hut, setzte sich und bat lachend um eine Zigarette. Ginia spülte gerade die letzten Teller, und Severino rasierte sich. Er hielt Amelia eine Zigarette hin und gab ihr mit nassen Fingern Feuer, und sie scherzten alle drei über die Laternen. Severino musste sich beeilen, fand aber noch Zeit, Ginia zu sagen, sie solle nicht die ganze Nacht aufbleiben. Amelia sah ihm belustigt nach, als er hinausging.

»Willst du nicht mal in ein anderes Tanzlokal?«, fragte sie Ginia. »Diese Jungen sind ja sehr nett, aber zu anhänglich. Genau wie deine Freundinnen.«

Sie gingen ins Zentrum, alle beide ohne Hut, die kühlen Alleen entlang, und als Erstes kauften sie sich ein Eis, betrachteten, während sie es leckten, die Leute und lachten. Mit Amelia war alles einfacher, man amüsierte sich prächtig mit ihr, als wäre nichts wichtig und als könnten an diesem Abend die verschiedensten Dinge geschehen. Ginia wusste, auf Amelia, die zwanzig war, sich frech bewegte und schaute, konnte sie sich verlassen. Amelia hatte nicht einmal Strümpfe angezogen wegen der Hitze; und als sie an einem Tanzlokal vorbeikamen, einem mit gedämpft spielendem Orchester und Lämpchen auf den Tischen, fürchtete Ginia, sie müsse mit ihr hineingehen. Sie war noch nie dort gewesen und hielt den Atem an. Amelia fragte: »Du willst doch nicht etwa hier reingehen?«

»Es ist heiß, und wir sind nicht passend angezogen«, sagte Ginia. »Lass uns spazieren gehen, das ist schöner.«

»Dazu habe ich auch keine Lust«, sagte Amelia, »aber was machen wir sonst? Du willst doch nicht bloß an einer Ecke stehen und über die Leute lachen, die vorbeikommen?«

»Was möchtest du denn?«

»Wenn wir keine Frauen wären, hätten wir ein Auto und wären jetzt längst an einem See beim Baden.«

»Komm, wir bummeln und unterhalten uns ein bisschen«, sagte Ginia.

»Wir könnten auf den Hügel gehen, einen Wein trinken und was singen. Magst du Wein?«

Ginia verneinte, und Amelia betrachtete den Eingang des Lokals. »Aber ein Gläschen trinken wir. Los, komm. Wer sich langweilt, ist selber schuld.« Das Gläschen tranken sie im ersten Café, das sie fanden, und als sie wieder herauskamen, spürte Ginia eine Frische in der Luft, die vorher nicht da gewesen war, und dachte, wie schön es war, dass Likör im Sommer das Blut abkühlte. Unterdessen erklärte Amelia ihr, wer den ganzen Tag nichts tue, habe wenigstens das Recht, sich abends zu zerstreuen, doch manchmal komme der Augenblick, da fürchte man sich als Frau davor, wie die Zeit vergeht, und wisse nicht mehr, ob es sich lohne, so zu rennen. »Geht dir das nicht so?« – »Ich renne nur auf dem Weg zur Arbeit«, sagte Ginia, »ich amüsiere mich so wenig, dass ich keine Zeit habe, darüber nachzudenken.« – »Du bist jung«, sagte Amelia, »mir passiert es, dass ich nicht mal bei der Arbeit stillhalte.«

»Als du Modell gestanden hast, musstest du stillhalten«, sagte Ginia im Gehen.

Amelia begann zu lachen. »Keinesfalls. Die geschicktesten Modelle sind solche, die den Maler zur Verzweiflung treiben. Wenn du dich nicht ab und zu bewegst, vergisst er, dass du für ihn posierst, und behandelt dich wie ein Dienstmädchen. Wer sich zum Schaf macht, wird vom Wolf gefressen.«

Ginia antwortete nur mit einem Lächeln. Doch ein Wort brannte ihr auf der Zunge, noch unwiderstehlicher als der Likör. Da fragte sie Amelia, warum sie sich nicht irgendwo ins Kühle setzten und noch ein Gläschen tranken. »Aber ja«, sagte Amelia. Sie tranken es an der Bar, weil das billiger war.

Nun begann Ginia, sich erhitzt zu fühlen, und sagte im Hinausgehen mühelos zu Amelia: »Ich wollte dich etwas fragen. Ich würde dich gern mal Modell stehen sehen.«

Sie sprachen noch eine Weile darüber, und Amelia lachte, denn das Modell, ob nackt oder bekleidet, interessiere die Männer, nicht ein anderes Mädchen. Das Modell hält einfach still, was gibt es da zu sehen? Ginia sagte, sie wolle zusehen, wie der Maler sie male: Sie habe noch nie jemanden mit Farben hantieren sehen, das müsse schön sein. »Nicht heute oder morgen«, sagte sie, »jetzt bist du arbeitslos. Aber du musst mir versprechen, mich mitzunehmen, wenn du wieder hingehst.« Amelia lachte noch einmal und erklärte ihr, was die Maler angehe, das sei das wenigste: Sie wisse, wo sie wohnten, und könne sie hinbringen. »Aber pass auf, das sind Schufte.« Auch Ginia lachte.

Dann setzten sie sich auf eine Bank, und niemand kam vorbei, denn es war weder früh noch spät. Sie beendeten den Abend in einem Tanzlokal auf dem Hügel.

Der schöne Sommer

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