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1. Kapitel – Ich komme zur Welt

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Ob ich mich in die­sem Bu­che zum Hel­den mei­ner eig­nen Lei­dens­ge­schich­te ent­wi­ckeln wer­de oder ob je­mand an­ders die­se Stel­le aus­fül­len soll, wird sich zei­gen.

Um mit dem Be­ginn mei­nes Le­bens an­zu­fan­gen, be­mer­ke ich, dass ich, wie man mir mit­ge­teilt hat und wie ich auch glau­be, an ei­nem Frei­tag um Mit­ter­nacht zur Welt kam. Es heißt, dass die Uhr zu schla­gen be­gann, ge­ra­de als ich zu schrei­en an­fing.

Was den Tag und die Stun­de mei­ner Ge­burt be­trifft, so be­haup­te­ten die Kinds­frau und ei­ni­ge wei­se Frau­en in der Nach­bar­schaft, die schon Mo­na­te zu­vor, ehe wir noch ein­an­der per­sön­lich vor­ge­stellt wer­den konn­ten, eine leb­haf­te Teil­nah­me für mich ge­zeigt hat­ten…

ers­tens: Dass es mir vor­aus­be­stimmt sei, nie im Le­ben Glück zu ha­ben, und

zwei­tens: Dass ich die Gabe be­sit­zen wür­de, Geis­ter und Ge­s­pens­ter se­hen zu kön­nen. Wie sie glaub­ten, hin­gen die­se bei­den Ei­gen­schaf­ten un­ver­meid­lich all den un­glück­li­chen Kin­dern bei­der­lei Ge­schlechts an, die in der Mit­ter­nachts­stun­de ei­nes Frei­tags ge­bo­ren sind.

Über den ers­ten Punkt brau­che ich nichts wei­ter zu sa­gen, weil ja mei­ne Ge­schich­te am bes­ten zei­gen wird, ob er ein­ge­trof­fen ist oder nicht.

Was den zwei­ten an­be­langt, will ich nur fest­stel­len, dass ich bis­her noch nichts be­merkt habe. – Vi­el­leicht habe ich schon als ganz klei­nes Kind die­sen Teil mei­ner Erb­schaft an­ge­tre­ten und auf­ge­braucht. Ich be­kla­ge mich auch durch­aus nicht, falls mir die­se schö­ne Gabe vor­ent­hal­ten blei­ben soll­te. Und wenn sich ir­gend­je­mand an­ders ih­rer viel­leicht be­mäch­tigt hat, mag er sie in Got­tes­na­men be­hal­ten.

Ich kam in ei­nem Haut­netz zur Welt, das spä­ter um den nied­ri­gen Preis von fünf­zehn Gui­ne­en in den Zei­tun­gen zum Ver­kauf aus­ge­schrie­ben wur­de. Ob da­mals die See­rei­sen­den ge­ra­de knapp bei Kas­se wa­ren oder schwach im Glau­ben und da­her Korkja­cken vor­zo­gen, weiß ich nicht; ich weiß bloß so viel, dass nur ein ein­zi­ges An­ge­bot ein­lief, und zwar von ei­nem An­walt, der zu­gleich Wech­se­l­agent war und zwei Pfund bar und den Rest in Sher­ry ge­ben woll­te und es ent­schie­den ab­lehn­te, um einen hö­hern Preis die­se Ga­ran­tie ge­gen das Er­trin­ken zu er­wer­ben. Die An­non­ce wur­de zu­rück­ge­zo­gen – denn was Sher­ry an­be­lang­te, so wur­de mei­ner ar­men lie­ben Mut­ter eig­ner Sher­ry ge­ra­de da­mals ver­stei­gert.

Das Haut­netz wur­de zehn Jah­re spä­ter in un­se­rer Ge­gend in ei­ner Lot­te­rie un­ter fünf­zig Per­so­nen aus­ge­kno­belt; je fünf­zig Be­wer­ber zahl­ten eine hal­be Kro­ne per Kopf, und der Ge­win­ner hat­te noch fünf Schil­lin­ge dar­auf­zu­le­gen. Ich selbst war ge­gen­wär­tig und er­in­ne­re mich, wie un­be­hag­lich und ver­le­gen mir zu Mute war, als ein Teil mei­nes eig­nen Selbsts auf die­se Wei­se ver­äu­ßert wur­de. Ich weiß noch, dass eine alte Dame mit ei­nem Hand­korb das Netz ge­wann und die aus­ge­mach­ten fünf Schil­lin­ge in lau­ter Half­pen­ny­stücken zö­gernd her­aus­hol­te.

Es fehl­ten da­mals noch zwei und ein hal­ber Pen­ny, was man ihr nur mit ei­nem großen Auf­wand an Zeit und Arith­me­tik be­greif­lich ma­chen konn­te. Tat­sa­che ist, dass die alte Dame wirk­lich nie er­trank, son­dern tri­um­phie­rend im Bet­te starb; zwei­und­neun­zig Jah­re alt.

Ich ließ mir er­zäh­len, dass sie sich bis an ihr Ende au­ßer­or­dent­lich da­mit brüs­te­te, in ih­rem gan­zen Le­ben nie­mals auf dem Was­ser ge­we­sen zu sein, höchs­tens auf ei­ner Brücke, und dass sie bei ih­rem Tee, dem sie sehr zu­ge­tan war, stets ihre Ent­rüs­tung über die Gott­lo­sig­keit der See­leu­te aus­sprach, die sich auf dem Mee­re »her­um­trie­ben«.

Es war ver­ge­bens, ihr vor­zu­stel­len, wie vie­le An­nehm­lich­kei­ten wir, den Tee zum Bei­spiel mit in­be­grif­fen, die­ser Un­sit­te ver­dan­ken. Stets er­wi­der­te sie mit noch grö­ßerm Nach­druck und mit in­stink­ti­vem Be­wusst­sein von der Ge­walt ih­res Ein­wan­des: »Man hat sich trotz­dem nicht her­um­zu­trei­ben.«

Um mich aber nicht selbst her­um­zu­trei­ben und ab­zu­schwei­fen, will ich wie­der zu mei­ner Ge­burt zu­rück­keh­ren.

Ich er­blick­te in Blun­der­sto­ne in Suf­folk oder da­her­um, wie man in Schott­land sagt, das Licht der Welt. Ich bin ein nach­ge­bor­nes Kind. Mei­nes Va­ters Au­gen schlos­sen sich sechs Mo­na­te frü­her, als die mei­ni­gen sich öff­ne­ten.

Es liegt et­was Selt­sa­mes für mich in dem Ge­dan­ken, dass mein Va­ter mich nie­mals ge­se­hen hat, und noch Selt­sa­me­res in der schat­ten­haf­ten Erin­ne­rung aus mei­ner ers­ten Kin­der­zeit an den wei­ßen Grab­stein auf dem Kirch­hof. Ich emp­fand un­säg­li­chen Kum­mer, dass er dort drau­ßen al­lein lie­gen muss­te in der dunklen Nacht, wäh­rend un­ser klei­nes Wohn­zim­mer warm und hell war von Feu­er und Licht und das Tor un­se­res Hau­ses – fast grau­sam kam es mir manch­mal vor – für ihn ver­rie­gelt und ver­schlos­sen.

Eine Tan­te mei­nes Va­ters, folg­lich eine Groß­tan­te von mir, von der ich bald mehr zu er­zäh­len ha­ben wer­de, galt als die an­ge­se­hens­te Per­son in un­se­rer Fa­mi­lie. Miss Trot­wood oder Miss Betsey, wie mei­ne arme Mut­ter sie im­mer nann­te, wenn sie ihre Angst vor die­ser schreck­li­chen Per­sön­lich­keit so weit über­wand, sie über­haupt zu er­wäh­nen, war ver­hei­ra­tet ge­we­sen mit ei­nem Man­ne, der jün­ger als sie selbst und sehr hübsch war. Al­ler­dings nicht in dem Sinn des Sprich­worts, »hübsch ist, wer sich hübsch be­trägt«, – denn er stand stark in dem Ver­dacht, dass er Miss Betsey durch­zu­prü­geln pfleg­te und ein­mal so­gar we­gen ei­ner strit­ti­gen Un­ter­stüt­zungs­fra­ge schnel­le, aber ent­schlos­se­ne Vor­be­rei­tun­gen ge­trof­fen hät­te, sie aus ei­nem Fens­ter im zwei­ten Stock hin­aus­zu­wer­fen.

Die­se of­fen­kun­di­gen Be­wei­se un­ver­träg­li­cher Ge­müts­art be­wo­gen schließ­lich Miss Betsey, ihn mit Geld ab­zu­fer­ti­gen und eine Schei­dung auf ge­gen­sei­ti­ge Übe­rein­kunft durch­zu­set­zen.

Er ging mit dem Ka­pi­tal nach In­di­en und wur­de dort nach ei­ner wil­den Le­gen­de in un­se­rer Fa­mi­lie ein­mal auf ei­nem Ele­fan­ten rei­ten ge­se­hen in Ge­sell­schaft ei­nes Babu. Es wird wohl ein Pa­vi­an ge­we­sen sein – oder eine Be­gum! Wie dem auch sei, ehe zehn Jah­re um wa­ren, kam aus In­di­en die Kun­de von sei­nem Tod.

Wie mei­ne Tan­te es auf­ge­nom­men hat, weiß nie­mand. Gleich nach der Schei­dung nahm sie ih­ren Mäd­chen­na­men wie­der an, kauf­te sich ein Häu­schen in ei­nem Wei­ler weit drau­ßen an der See­küs­te und leb­te dort mit ei­ner ein­zi­gen Die­ne­rin in un­er­bitt­li­cher Zu­rück­ge­zo­gen­heit.

Mein Va­ter muss­te einst ihr Lieb­ling ge­we­sen sein, aber sei­ne Hei­rat hat­te sie töd­lich be­lei­digt, da mei­ne Mut­ter nach ih­rer An­sicht nur eine »Wach­s­pup­pe« war. Sie hat­te mei­ne Mut­ter wohl nie ge­se­hen, wuss­te aber, dass sie sehr jung war – noch nicht zwan­zig.

Mein Va­ter und Miss Betsey sa­hen ein­an­der nie wie­der. Er war dop­pelt so alt als mei­ne Mut­ter, als er sie hei­ra­te­te, und von zar­ter Ge­sund­heit. Ein Jahr dar­auf starb er; wie ich schon ge­sagt habe, sechs Mo­na­te, ehe ich zur Welt kam.

So la­gen die Din­ge an je­nem, wie ich wohl sa­gen darf, er­eig­nis­vol­len und wich­ti­gen Frei­tag. Ich weiß na­tür­lich über sie nichts aus eig­ner An­schau­ung und stüt­ze mei­ne Erin­ne­run­gen auch nicht auf eig­ne Sin­nes­wahr­neh­mung.

Mei­ne Mut­ter saß am Feu­er, kör­per­lich schwach und geis­tig sehr nie­der­ge­drückt, schau­te, die Au­gen voll Trä­nen, in das Feu­er und sann trü­be nach über das Schick­sal des vor der Ge­burt ver­wais­ten Kin­des, des­sen An­kunft bin­nen kur­z­em er­war­tet wur­de, und über ihre ei­ge­ne Zu­kunft.

Es war ein hel­ler, win­di­ger Herbst­nach­mit­tag, und sie saß be­trübt und nie­der­ge­schla­gen da und von ban­gen Zwei­feln er­füllt, ob sie wohl glück­lich die zu er­war­ten­de schwe­re Stun­de über­ste­hen wer­de, als sie, ihre Au­gen trock­nend, auf­blick­te und durch das ge­gen­über­lie­gen­de Fens­ter eine frem­de Dame in den Gar­ten her­ein­kom­men sah.

Beim zwei­ten Blick hat­te mei­ne Mut­ter schon die si­che­re Ah­nung, dass es Miss Betsey wäre. Die un­ter­ge­hen­de Son­ne schi­en über den Gar­ten­zaun auf die frem­de Dame, und die­se schritt auf die Türe zu mit ei­ner so un­beug­sa­men Stren­ge in Ge­sicht und Hal­tung, dass es nie­mand an­ders sein konn­te.

Als sie das Haus er­reich­te, lie­fer­te sie noch einen an­de­ren Be­weis ih­rer Iden­ti­tät. Mein Va­ter hat­te oft er­wähnt, dass sie sich sel­ten wie ein ge­wöhn­li­cher Chris­ten­mensch be­neh­me; und nun trat sie wirk­lich, an­statt die Glo­cke zu zie­hen, an das nächs­te Fens­ter und drück­te ihre Nase mit sol­cher Ener­gie ge­gen das Glas, dass die­se im Au­gen­blick ganz platt und weiß wur­de, wie mei­ne Mut­ter oft er­zähl­te.

Sie be­kam dar­über einen sol­chen Schre­cken, dass ich es mei­ner Über­zeu­gung nach nur Miss Betsey zu dan­ken habe, wenn ich an ei­nem Frei­tag zur Welt kam.

Mei­ne Mut­ter war in ih­rer Auf­re­gung auf­ge­stan­den und hin­ter den Stuhl in eine Ecke ge­tre­ten. Miss Betsey sah sich durch die Schei­ben lang­sam und for­schend im Zim­mer um, wo­bei sie am an­de­ren Ende der Stu­be an­fing, und wen­de­te au­to­ma­ten­haft wie ein Tür­ken­kopf auf ei­ner Schwarz­wäl­der­wand­uhr das Ge­sicht, bis ihre Bli­cke auf mei­ner Mut­ter haf­ten blie­ben. Dann zog sie die Brau­en zu­sam­men und wink­te wie je­mand, der zu be­feh­len ge­wohnt ist, dass man ihr die Türe auf­ma­chen sol­le. Mei­ne Mut­ter ge­horch­te.

»Mrs. Da­vid Cop­per­field ver­mut­lich«, sag­te Miss Betsey mit ei­ner Em­pha­se, die sich wahr­schein­lich auf die Trau­er­klei­der mei­ner Mut­ter und auf ih­ren Zu­stand be­zog.

»Ja«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter schüch­tern.

»Ha­ben Sie schon von Miss Trot­wood ge­hört?« frag­te die Dame.

Mei­ne Mut­ter ent­geg­ne­te, sie habe das Ver­gnü­gen ge­habt, hat­te aber da­bei das un­an­ge­neh­me Ge­fühl, nicht da­nach aus­zu­se­hen, als ob es ein über­wäl­ti­gen­des Ver­gnü­gen ge­we­sen wäre.

»Jetzt steht sie vor Ih­nen«, sag­te Miss Betsey. Mei­ne Mut­ter ver­beug­te sich und bat die Dame, ein­zu­tre­ten.

Sie gin­gen in das Wohn­zim­mer, aus dem mei­ne Mut­ter ge­kom­men, denn das Be­such­zim­mer auf der an­de­ren Sei­te des Gan­ges war nicht ge­heizt und nicht ge­heizt ge­we­sen seit mei­nes Va­ters Lei­chen­be­gäng­nis. Als sie bei­de Platz ge­nom­men hat­ten, Miss Betsey aber nichts sprach, fing mei­ne Mut­ter, nach ei­nem ver­geb­li­chen Be­mü­hen sich zu fas­sen, zu wei­nen an.

»O still, still, still!« sag­te Miss Betsey has­tig. »Nur das nicht. Lass das, lass das!«

Mei­ne Mut­ter aber konn­te sich nicht hel­fen, und ihre Trä­nen flos­sen, bis sie sich aus­ge­weint hat­te.

»Nimm dei­ne Hau­be ab, Kind«, sag­te Miss Betsey, »da­mit ich dich se­hen kann.«

Mei­ne Mut­ter war viel zu sehr ein­ge­schüch­tert, um die­ses selt­sa­me Ver­lan­gen ab­zu­schla­gen, selbst wenn sie ge­wollt hät­te. Da­her ent­sprach sie dem Wun­sche und tat es mit so zit­tern­den Hän­den, dass ihr Haar, das sehr reich und schön war, sich lös­te und auf ihre Schul­tern her­ab­fiel.

»Gott be­wah­re!« rief Miss Betsey, »du bist ja noch ein wah­res Wi­ckel­kind.«

Al­ler­dings sah mei­ne Mut­ter selbst für ihre Jah­re noch sehr ju­gend­lich aus. Sie ließ den Kopf hän­gen, als ob es ihre Schuld wäre, und sag­te schluch­zend, dass sie auch fürch­te, sie sei ein wah­res Kind von ei­ner Wit­we und wer­de auch ein Kind von ei­ner Mut­ter sein, wenn sie am Le­ben blie­be.

In der kur­z­en Pau­se, die dar­auf folg­te, kam es ihr fast vor, als ob Miss Betsey ihr Haar be­rühr­te, und zwar nicht mit un­sanf­ter Hand; aber wie sie schüch­tern hof­fend auf­blick­te, hat­te sich die Dame mit auf­ge­schürz­tem Kleid be­reits hin­ge­setzt, die Hän­de über ein Knie ge­fal­tet, die Füße auf das Ka­min­git­ter ge­stützt, und starr­te grim­mig ins Feu­er.

»Um Got­tes­wil­len?« frag­te Miss Betsey plötz­lich. »Wa­rum ei­gent­lich Krä­hen­horst?«

»Sie mei­nen das Haus, Ma­da­me?«

»Wa­rum Krä­hen­horst?« frag­te Miss Betsey. »Hüh­ner­hof wäre pas­sen­der ge­we­sen, wenn ihr bei­de einen Be­griff vom prak­ti­schen Le­ben ge­habt hät­tet.«

»Mr. Cop­per­field hat ihm den Na­men ge­ge­ben«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter. »Als er das Haus kauf­te, mein­te er, es müss­te hübsch sein, wenn Krä­hen dar­in nis­ten wür­den.«

Der Abend­wind feg­te in die­sem Au­gen­blick so ge­wal­tig durch die al­ten ho­hen Ul­men im Gar­ten, dass so­wohl mei­ne Mut­ter wie Miss Betsey un­will­kür­lich hin­aus­sa­hen. Als sich die Bäu­me zu­ein­an­der neig­ten wie Rie­sen, die sich Ge­heim­nis­se zu­flüs­ter­ten, und gleich dar­auf in hef­ti­ge Be­we­gung ge­rie­ten und mit ih­ren za­cki­gen Ar­men wild in der Luft her­um­fuh­ren, als ob die­se Ge­heim­nis­se zu gräss­lich für ihre See­len­ru­he wä­ren, wur­den ein paar alte, vom Sturm zer­zaus­te Krä­hen­nes­ter auf den höchs­ten Zwei­gen wie Wracks auf stür­mi­scher See hin und her­ge­wor­fen.

»Wo sind die Vö­gel?« ver­hör­te Miss Betsey.

»Was?« Mei­ne Mut­ter hat­te an et­was an­de­res ge­dacht.

»Die Krä­hen – wo sie hin­ge­kom­men sind?«

»Es wa­ren über­haupt nie wel­che da, seit wir hier ge­lebt ha­ben«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Wir dach­ten – Mr. Cop­per­field dach­te, es sei ein großer Krä­hen­horst, aber die Nes­ter wa­ren alt und von den Vö­geln längst ver­las­sen.«

»Echt Da­vid Cop­per­field«, rief Miss Betsey. »Da­vid Cop­per­field, wie er leibt und lebt! Nennt das Haus Krä­hen­horst, wo gar kei­ne Krä­he da ist, und nimmt die Vö­gel auf gu­ten Glau­ben, weil er die Nes­ter sieht.«

»Mr. Cop­per­field ist tot«, gab mei­ne Mut­ter zur Ant­wort, »und wenn Sie sich un­ter­ste­hen, un­freund­lich über ihn zu spre­chen –«

Ich glau­be, mei­ne arme, lie­be Mut­ter hat­te einen Au­gen­blick die Ab­sicht, sich an der Tan­te tät­lich zu ver­grei­fen. Die­se hät­te sie wohl leicht mit ei­ner Hand be­zwun­gen, selbst wenn mei­ne Mut­ter in ei­ner bes­sern Ver­fas­sung für einen sol­chen Kampf ge­we­sen wäre als an die­sem Abend. Aber es blieb bei ei­nem schüch­ter­nen Auf­ste­hen. Dann setz­te sich mei­ne Mut­ter wie­der schwach nie­der und fiel in Ohn­macht.

Als sie wie­der zu sich kam, sah sie Miss Betsey am Fens­ter ste­hen. Es war mitt­ler­wei­le ganz dun­kel ge­wor­den, und so un­deut­lich sie ein­an­der un­ter­schie­den, hät­ten sie doch auch das nicht ohne den Schein des Feu­ers kön­nen.

»Nun?« frag­te Miss Betsey und trat wie­der zu dem Stuhl, als hät­te sie bloß einen Blick aus dem Fens­ter ge­wor­fen, »und wann er­war­test du –?«

»Ich zit­te­re am gan­zen Lei­be«, stam­mel­te mei­ne Mut­ter. »Ich weiß nicht, was es ist, ich st­er­be si­cher­lich.«

»Nein, nein, nein«, sag­te Miss Betsey; »trink eine Tas­se Tee!«

»Ach Gott, ach Gott, mei­nen Sie, dass mir das gut­tun wird?« rief mei­ne Mut­ter in hilflo­sem Tone.

»Selbst­ver­ständ­lich!« sag­te Miss Betsey. »Es ist al­les bloß Ein­bil­dung. Wie heißt denn das Mäd­chen?«

»Ich weiß doch nicht, ob es ein Mäd­chen sein wird, Ma­da­me«, sag­te mei­ne Mut­ter un­schulds­voll.

»Gott seg­ne die­ses Kind!« rief Miss Betsey aus, un­be­wusst den Sinn­spruch auf dem Na­del­kis­sen in der Schub­la­de des obe­ren Stocks an­füh­rend, aber nicht mit An­wen­dung auf mich, son­dern auf mei­ne Mut­ter. »Das mei­ne ich doch nicht. Ich mei­ne doch das Dienst­mäd­chen.«

»Peg­got­ty«, sag­te mei­ne Mut­ter.

»Peg­got­ty!« wie­der­hol­te Miss Betsey ent­rüs­tet. »Willst du da­mit sa­gen, Kind, dass ein mensch­li­ches Ge­schöpf in eine christ­li­che Kir­che ge­gan­gen ist und sich hat Peg­got­ty tau­fen las­sen?«

»Es ist ihr Fa­mi­li­enna­me«, sag­te mei­ne Mut­ter schüch­tern. »Mr. Cop­per­field nann­te sie so, weil ihr Tauf­na­me der­sel­be ist wie mei­ner.«

»Heda, Peg­got­ty!« rief Miss Betsey und öff­ne­te die Zim­mer­tür. »Tee! Dei­ne Herr­schaft ist ein biss­chen un­wohl, aber rasch!«

Nach­dem sie die­sen Be­fehl so ge­bie­te­risch aus­ge­spro­chen, als wäre sie von je­her Her­rin die­ses Hau­ses, und aus dem Zim­mer hin­aus­ge­späht hat­te, um nach der er­staun­ten Peg­got­ty zu se­hen, die bei dem Klang ei­ner frem­den Stim­me mit ei­nem Licht den Gang ent­lang­kam, schloss sie die Tür wie­der und setz­te sich nie­der wie zu­vor, die Füße am Ka­min­git­ter, das Kleid auf­ge­schürzt und die Hän­de über ein Knie ge­fal­tet.

»Du mein­test, es wer­de ein Mäd­chen wer­den«, sag­te Miss Betsey. »Ich zweifle kei­nen Au­gen­blick dar­an. Ich habe ein Vor­ge­fühl, dass es ein Mäd­chen wird. Nun, Kind! Von dem Mo­ment der Ge­burt die­ses Mäd­chens an –«

»Vi­el­leicht ists ein Kna­be«, er­laub­te sich mei­ne Mut­ter, sie zu un­ter­bre­chen.

»Ich sag­te dir be­reits, ich habe das Vor­ge­fühl, dass es ein Mäd­chen ist«, ent­geg­ne­te Miss Betsey. »Wi­der­sprich mir nicht im­mer. Also von dem Au­gen­blick der Ge­burt die­ses Mäd­chens an wer­de ich sei­ne Freun­din sein, Kind. Ich will sei­ne Pa­tin sein, und sie hat Betsey Trot­wood-Cop­per­field zu hei­ßen. Mit die­ser Betsey Trot­wood-Cop­per­field soll es im Le­ben glatt­ge­hen. Mit ih­ren Ge­füh­len darf nicht ge­spielt wer­den. Ar­mes Klei­nes. Sie muss gut er­zo­gen und in acht ge­nom­men wer­den, dass sie ihr Ver­trau­en nicht auf tö­rich­te Wei­se je­mand schenkt, der es nicht ver­dient. Das lass mei­ne Sor­ge sein.«

Bei je­dem die­ser Sät­ze zuck­te Miss Betsey mit dem Kopf, als ob das er­lit­te­ne Un­recht ver­gan­ge­ner Zei­ten in ihr wie­der le­ben­dig wür­de und sie einen deut­li­che­ren Hin­weis dar­auf nur mit Über­win­dung un­ter­drück­te. So ver­mu­te­te we­nigs­tens mei­ne Mut­ter, als sie sie beim schwa­chen Schim­mer des Feu­ers be­ob­ach­te­te, aber zu sehr von ih­rem We­sen er­schreckt war und in­ner­lich viel zu un­ru­hig und zu ver­wirrt, um über­haupt ir­gen­det­was klar be­ob­ach­ten zu kön­nen.

»Und war Da­vid gut ge­gen dich, Kind?« frag­te Miss Betsey, nach­dem sie eine Wei­le ge­schwie­gen und die Be­we­gung ih­res Kopfs all­mäh­lich auf­ge­hört hat­te. »Habt ihr euch gut ver­tra­gen?«

»Wir wa­ren sehr glück­lich«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Mr. Cop­per­field war viel zu gut zu mir.«

»Er hat dich also ver­zo­gen?«

»Al­lein und ver­las­sen zu sein und ohne Stüt­ze in die­ser rau­en Welt da­zu­ste­hen«, schluchz­te mei­ne Mut­ter, »dazu hat er mich wohl nicht er­zo­gen.«

»Gut. Wei­ne nicht«, sag­te Miss Betsey. »Ihr pass­tet eben nicht zu­sam­men, Kind, – zwei Men­schen kön­nen über­haupt nicht zu­sam­men­pas­sen – des­halb frag­te ich. Du warst eine Wai­se, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Gou­ver­nan­te?«

»Ich war Bon­ne in ei­ner Fa­mi­lie, die Mr. Cop­per­field häu­fig be­such­te. Mr. Cop­per­field war sehr freund­lich und auf­merk­sam ge­gen mich und mach­te mir zu­letzt einen Hei­rats­an­trag. Und ich sag­te ja. Und so wur­den wir Mann und Frau«, sag­te mei­ne Mut­ter ein­fach.

»Ha! Ar­mes Kind!« mur­mel­te Miss Betsey und sah im­mer noch grim­mig ins Feu­er. »Ver­stehst du et­was?«

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, Ma­da­me?« stam­mel­te mei­ne Mut­ter.

»Von der Wirt­schaft zum Bei­spiel«, sag­te Miss Betsey.

»Ich fürch­te, nicht viel. Nicht so viel, wie ich möch­te. Aber Mr. Cop­per­field un­ter­rich­te­te mich –«

»Weil er sel­ber so viel da­von ver­stand«, warf Miss Betsey hin.

»– und ich glau­be, ich hät­te bald Fort­schrit­te ge­macht, denn ich war eif­rig im Ler­nen und er ein sehr ge­dul­di­ger Leh­rer, wenn nicht das große Un­glück –«, mei­ne Mut­ter ver­lor wie­der die Fas­sung und konn­te nicht wei­ter­spre­chen.

»Schon gut, schon gut«, sag­te Miss Betsey.

»Ich führ­te mein Wirt­schafts­buch re­gel­mä­ßig und schloss es mit Mr. Cop­per­field pünkt­lich je­den Abend ab«, rief mei­ne Mut­ter mit ei­nem neu­en Aus­bruch des Schmer­zes.

»Schon gut, schon gut«, rief Miss Betsey. »Hör end­lich auf zu wei­nen.«

»Und es war nie ein Wort des Strei­tes da­bei oder der Un­ei­nig­keit, au­ßer wenn Mr. Cop­per­field ta­del­te, dass mei­ne Drei­er und Fün­fer ein­an­der zu ähn­lich sä­hen, oder dass ich mei­nen Sieb­nern und Neu­nern krau­se Schwän­ze gäbe«, be­gann mei­ne Mut­ter von Neu­em und wie­der von ei­ner Trä­nen­flut un­ter­bro­chen.

»Du wirst dich krank ma­chen«, sag­te Miss Betsey. »Du weißt doch, dass das we­der für dich noch für mein Pa­ten­kind gut ist. Komm, du musst das blei­ben las­sen.«

Die­ses Ar­gu­ment trug ei­ni­ger­ma­ßen dazu bei, mei­ne Mut­ter zum Schwei­gen zu brin­gen, ob­gleich ihr zu­neh­men­des Übel­be­fin­den die Haup­t­ur­sa­che sein moch­te. Eine län­ge­re Stil­le trat ein, die nur un­ter­bro­chen wur­de von ei­nem ge­le­gent­li­chen »Ha!« Miss Betseys, die im­mer noch mit den Fü­ßen auf dem Ka­min da­saß.

»Da­vid hat sich mit sei­nem Geld eine Lei­b­ren­te ge­kauft«, sag­te sie end­lich, »und wie hat er für dich ge­sorgt?«

»Mr. Cop­per­field«, sag­te mei­ne Mut­ter mit An­stren­gung, »war so vor­sich­tig und gut, mir die An­wart­schaft auf einen Teil da­von zu si­chern.«

»Wie viel?« frag­te Miss Betsey.

»Hun­dert­und­fünf Pfund jähr­lich.«

»Er hät­te es noch schlim­mer ma­chen kön­nen«, sag­te mei­ne Tan­te.

Das Wort pass­te gut für den Au­gen­blick. Mei­ner Mut­ter ging es so viel schlim­mer, dass Peg­got­ty, die eben mit dem Tee­brett und Lich­tern her­ein­kam und auf den ers­ten Blick sah, wie krank sie war, – Miss Betsey hät­te es schon eher se­hen kön­nen, wenn es hell ge­nug ge­we­sen wäre, – sie so rasch wie mög­lich in die obe­re Stu­be hin­auf­brach­te und so­fort Ham Peg­got­ty, ih­ren Nef­fen, der seit ei­ni­gen Ta­gen ohne Wis­sen mei­ner Mut­ter als Bote für un­vor­her­ge­se­he­ne Fäl­le im Hau­se ver­bor­gen ge­hal­ten wur­de, nach der Heb­am­me und dem Dok­tor schick­te.

Die­se ver­bün­de­ten Mäch­te, die sich im Ver­lauf we­ni­ger Mi­nu­ten zu­sam­men­fan­den, wa­ren sehr er­staunt, eine frem­de Dame von stren­gem Aus­se­hen vor dem Feu­er sit­zen zu se­hen, den Hut am lin­ken Arm hän­gend, und sich die Ohren mit Ju­we­lier­baum­wol­le zu­stop­fend.

Da Peg­got­ty nichts über sie wuss­te und mei­ne Mut­ter nichts über sie hat­te fal­len­las­sen, blieb sie ein un­ge­lös­tes Rät­sel in der Wohn­stu­be, und der Um­stand, dass sie ein Baum­wol­len­ma­ga­zin in der Ta­sche trug und sich die Wat­te auf be­sag­te Wei­se in die Ohren stopf­te, raub­te ihr nichts von ih­rem An­se­hen.

Nach­dem der Dok­tor oben ge­we­sen und wie­der her­un­ter­ge­kom­men war und of­fen­bar ver­mu­te­te, dass er mit der un­be­kann­ten Dame ei­ni­ge Stun­den wür­de zu­sam­men­blei­ben müs­sen, be­müh­te er sich, höf­lich und ge­sel­lig zu er­schei­nen. Er war der sanf­tes­te sei­nes Ge­schlechts, der mil­des­te al­ler klei­nen Män­ner. Er drück­te sich beim Ein- und Aus­ge­hen seit­wärts durch die Tü­ren, um mög­lichst we­nig Raum ein­zu­neh­men. Er ging so lei­se wie der Geist des Ham­let, aber noch viel lang­sa­mer. Er trug den Kopf auf eine Sei­te ge­neigt, teils aus Be­schei­den­heit, teils aus Ent­ge­gen­kom­men. Es wäre zu we­nig ge­sagt, dass er nicht ein­mal für einen Hund ein bö­ses Wort ge­habt hät­te. Er hät­te nicht ein­mal ei­nem tol­len Hund ein bö­ses Wort sa­gen kön­nen. Höchs­tens ein sanf­tes oder ein hal­b­es oder ein Bruch­stück da­von, – denn er sprach so lang­sam, wie er ging, – aber er wür­de nicht grob ge­gen ihn ge­we­sen sein. Nicht ein­mal ein ra­sches, nicht um al­les in der Welt.

Mr. Chil­lip sah also mei­ne Tan­te, den Kopf auf die Sei­te ge­neigt, sanft an, mach­te eine klei­ne Ver­beu­gung und sag­te, auf die Wat­te an­spie­lend, in­dem er sein lin­kes Ohr be­rühr­te:

»Lo­ka­le Rei­zung, Ma­da­me?«

»Was?« frag­te mei­ne Tan­te und zog die Baum­wol­le wie einen Kork aus ei­nem Ohr.

Mr. Chil­lip er­schrak so sehr über ihr bar­sches We­sen, wie er spä­ter mei­ner Mut­ter er­zähl­te, dass es noch ein Glück war, dass er die Fas­sung nicht ver­lor. Er wie­der­hol­te sanft:

»Lo­ka­le Rei­zung, Ma­da­me?«

»Un­sinn!« ant­wor­te­te mei­ne Tan­te und ver­stopf­te so­fort das Ohr wie­der.

Mr. Chil­lip konn­te nun wei­ter nichts tun, als Platz neh­men und sie schüch­tern an­se­hen, wie sie so da­saß und ins Feu­er starr­te, bis er wie­der hin­auf­ge­ru­fen wur­de.

Nach vier­tel­stün­di­ger Ab­we­sen­heit kehr­te er wie­der zu­rück.

»Nun?« frag­te mei­ne Tan­te und nahm die Wat­te aus dem ihm am nächs­ten lie­gen­den Ohre.

»Nun, Ma­da­me«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »wir – wir ma­chen lang­sam Fort­schrit­te.«

»Ba-a-ah«, sag­te mei­ne Tan­te, den ver­ächt­li­chen Aus­ruf förm­lich her­vor­sto­ßend, und ver­stopf­te sich wie­der wie vor­hin.

In der Tat – in der Tat, Mr. Chil­lip war ge­ra­de­zu be­stürzt, – wie er spä­ter mei­ner Mut­ter ge­stand; – na­tür­lich bloß vom ärzt­li­chen Ge­sichts­punkt aus. Aber trotz­dem starr­te er Miss Betsey fast zwei Stun­den lang an, bis er von Neu­em ge­ru­fen wur­de. Nach län­ge­rer Ab­we­sen­heit kehr­te er wie­der­um zu­rück.

»Nun?« frag­te mei­ne Tan­te und nahm aber­mals die Wat­te aus dem glei­chen Ohr.

»Nun, Ma­da­me«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »wir – wir ma­chen lang­sam Fort­schrit­te, Ma­da­me.«

»Ja-a-a«, knurr­te mei­ne Tan­te Mr. Chil­lip der­art an, dass er es für­wahr nicht län­ger mehr aus­hal­ten konn­te. Es war fast da­nach an­ge­tan, ihm al­len Mut zu neh­men, äu­ßer­te er spä­ter.

Da­rum ging er lie­ber hin­aus und setz­te sich drau­ßen im Dun­keln auf die zu­gi­ge Trep­pe, bis man wie­der nach ihm schick­te.

Ham Peg­got­ty, der in die Volks­schu­le ging und wie ein Dra­che über sei­nem Ka­te­chis­mus zu sit­zen pfleg­te und des­halb si­cher als glaub­wür­di­ger Zeu­ge gel­ten kann, er­zähl­te am nächs­ten Tag, er hät­te eine Stun­de spä­ter zur Stu­ben­tür her­ein­ge­guckt und wäre so­gleich von Miss Betsey, die in großer Er­re­gung auf und ab ge­gan­gen, er­späht und ge­packt wor­den, ehe er die Flucht habe er­grei­fen kön­nen. Er be­rich­te­te fer­ner, dass man zu­wei­len das Geräusch von Fuß­trit­ten und Stim­men in den obe­ren Zim­mern ge­hört hät­te, das wahr­schein­lich die Wat­te nicht ganz ab­hielt, wie er aus dem Um­stän­de schloss, dass ihn die Dame wie ein Op­fer fest­hielt und an ihm ihre über­strö­men­de Auf­re­gung aus­ließ, wenn die Geräusche am lau­tes­ten wa­ren. Sie hät­te ihn am Kra­gen ge­packt ge­hal­ten und in der Stu­be auf- und ab­ge­führt (als ob er zu viel Lau­da­num ge­nos­sen), hät­te ihn ge­schüt­telt, ihm die Wä­sche zer­zaust und die Ohren ver­stopft, als ob es ihre eig­nen ge­we­sen wä­ren, und ihn auf an­de­re Wei­se miss­han­delt. Sein Be­richt wur­de zum Teil von Peg­got­ty be­stä­tigt, die ihn um halb ein Uhr, kurz nach sei­ner Be­frei­ung, noch ganz rot ge­se­hen hat­te.

Der sanf­te Mr. Chil­lip konn­te nie­mand böse sein und wenn über­haupt je, so am al­ler­we­nigs­ten in sol­cher Stun­de. Er drück­te sich des­halb in das Wohn­zim­mer, so­bald er ab­kom­men konn­te, und sag­te zu mei­ner Tan­te in sei­nen mil­des­ten Tö­nen:

»Ma­da­me, es freut mich, Sie be­glück­wün­schen zu kön­nen.«

»Wozu?« frag­te Miss Betsey mit Schär­fe.

Mr. Chil­lip, wie­der­um ver­wirrt durch die au­ßer­or­dent­li­che Schroff­heit mei­ner Tan­te, mach­te ihr eine klei­ne Ver­beu­gung und lä­chel­te sie an, um sie zu be­sänf­ti­gen.

»O die­ser Mensch, was er nur macht«, rief mei­ne Tan­te un­ge­dul­dig, »kann er denn nicht spre­chen!«

»Be­ru­hi­gen Sie sich, mei­ne teue­re Ma­da­me«, sag­te Mr. Chil­lip mit sei­nen weichs­ten Lau­ten. »Es ist nicht län­ger Ur­sa­che zur Be­sorg­nis mehr vor­han­den, Ma­da­me. Be­ru­hi­gen Sie sich.«

Man hat es spä­ter für ein Wun­der an­ge­se­hen, dass mei­ne Tan­te ihn nicht schüt­tel­te, um das, was er zu sa­gen hat­te, aus ihm her­aus­zu­schüt­teln. Was sie schüt­tel­te, war nur der Kopf, den aber so dro­hend, dass es den Dok­tor er­zit­tern mach­te.

»Nun, Ma­da­me«, be­gann Mr. Chil­lip von Neu­em, so­bald er wie­der Mut ge­fasst, »es freut mich, Sie be­glück­wün­schen zu kön­nen. Al­les ist nun vor­bei, Ma­da­me, und glück­lich vor­bei.«

Wäh­rend der fünf Mi­nu­ten, die Mr. Chil­lip zu die­ser Rede brauch­te, sah ihn mei­ne Tan­te lau­ernd und scharf an.

»Wie be­fin­det sie sich?« frag­te mei­ne Tan­te und ver­schränk­te ihre Arme, an de­ren ei­nem im­mer noch der Hut hing.

»Nun, Ma­da­me, sie wird bald wie­der ganz wohl sein, hof­fe ich«, ant­wor­te­te Mr. Chil­lip, »so wohl, wie wir es von ei­ner jun­gen Mut­ter un­ter so ge­trüb­ten häus­li­chen Ver­hält­nis­sen nur er­war­ten kön­nen. Wenn Sie sie so­gleich se­hen wol­len, steht dem nichts im Wege, Ma­da­me. Vi­el­leicht tut es ihr so­gar gut.«

»Und sie? Wie geht es ihr?«

Mr. Chil­lip neig­te sei­nen Kopf noch ein biss­chen mehr auf die Sei­te und sah mei­ne Tan­te an wie ein lie­bens­wür­di­ger Vo­gel.

»Das Baby?« sag­te mei­ne Tan­te, »wie geht es ihr?«

»Ma­da­me«, er­wi­der­te Mr. Chil­lip. »Ich nahm an, Sie wüss­ten es schon. Es ist ein Kna­be.«

Mei­ne Tan­te sprach kein Wort, nahm ih­ren Hut an den Bän­dern wie eine Schleu­der, führ­te einen Streich da­mit ge­gen Mr. Chil­lips Kopf, stülp­te ihn aufs Haupt, schritt hin­aus und kam nie­mals wie­der.

Sie ver­schwand, wie eine un­zu­frie­de­ne Fee oder wie eins je­ner über­na­tür­li­chen We­sen, die ich nach dem Volks­glau­ben be­rech­tigt war, se­hen zu kön­nen; ging hin und ward nicht mehr ge­se­hen.

Ich lag in mei­ner Wie­ge und mei­ne Mut­ter im Bett. Betsey Trot­wood-Cop­per­field aber blieb für im­mer im Lan­de der Träu­me und Schat­ten, in je­ner grau­en­vol­len Re­gi­on, die ich jüngst durch­wan­dert. Und das Licht un­se­res Zim­mers schi­en hin­aus auf das ir­di­sche Ziel al­ler Wan­de­rer aus die­ser Re­gi­on: auf den Hü­gel über der Asche und dem Stau­be des­sen, der einst hie­nie­den ge­weilt, und ohne den ich nie ge­wor­den wäre.

David Copperfield

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