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11. Kapitel – Ich beginne ein Leben auf eigne Faust und finde keinen Gefallen daran

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Ich ken­ne die Welt jetzt gut ge­nug, um mich fast über nichts mehr zu wun­dern, aber den­noch muss ich selbst heu­te noch stau­nen, wie man mich da­mals in ei­nem sol­chen Al­ter der­ar­tig leicht­fer­tig hin­aus­sto­ßen konn­te. Dass sich nie­mand ei­nes Kin­des von so vor­treff­li­chen Fä­hig­kei­ten und mit so großer Beo­b­ach­tungs­ga­be, so schnell von Be­grif­fen, lern­be­gie­rig, kör­per­lich und geis­tig so leicht ver­letz­bar wie ich, an­nahm, klingt fast wun­der­bar. Aber nie­mand tat es, und so wur­de ich in mei­nem zehn­ten Jahr ein klei­ner Lauf­bur­sche bei Murd­sto­ne & Grin­by.

Murd­sto­ne & Grin­bys Ma­ga­zin lag am Was­ser un­ten in Black­fri­ars. Neu­bau­ten ha­ben die Ge­gend ver­än­dert, aber da­mals war es das letz­te Haus in ei­ner en­gen Stra­ße, die sich zum Fluss hin­schlän­gel­te; am Ende mit ein paar Stu­fen, wo ein Boot an­leg­te. Es war ein bau­fäl­li­ges al­tes Haus mit ei­nem eig­nen La­de­platz, der wäh­rend der Flut im Was­ser und wäh­rend der Ebbe im Schlamm stand und von Rat­ten wim­mel­te. Die ge­tä­fel­ten Zim­mer, schwarz von Schmutz und Rauch von hun­dert Jah­ren wohl, die ver­faul­ten Fuß­bö­den und Stie­gen, das Quie­ken und Pfei­fen der al­ten Rat­ten im Kel­ler, der Schmutz und die Fäul­nis des Or­tes, al­les das steht jetzt noch so deut­lich vor mei­nen Au­gen, wie beim ers­ten Mal, als ich an Mr. Qui­ni­ons Hand zit­ternd ein­trat.

Murd­sto­ne & Grin­by hat­ten mit al­len mög­li­chen Be­völ­ke­rungs­schich­ten zu tun. Das Haupt­ge­schäft be­stand dar­in, ge­wis­se Last­schif­fe mit Wein und Brannt­wein zu ver­sor­gen. Ich weiß nicht mehr, was es für Last­schif­fe wa­ren, aber ei­ni­ge der­sel­ben fuh­ren nach Ost- und West­in­di­en. Eine große Men­ge lee­rer Fla­schen bil­de­te eine Begleiter­schei­nung die­ser Ge­schäftstä­tig­keit, und eine An­zahl Män­ner und Kna­ben muss­ten die­se Fla­schen ge­gen das Licht hal­ten, die be­schä­dig­ten weg­le­gen und die üb­ri­gen aus­spü­len. Wenn die lee­ren Fla­schen zu Ende gin­gen, muss­ten die ge­füll­ten mit Zet­teln be­klebt, zu­ge­korkt, ver­sie­gelt und in Kis­ten ge­packt wer­den. Das war auch mei­ne Be­schäf­ti­gung.

Wir wa­ren un­ser drei oder vier Kna­ben. Mein Platz be­fand sich in ei­ner Ecke des La­ger­hau­ses, wo Mr. Qui­ni­on mich se­hen konn­te, wenn er sich auf das un­ters­te Qu­er­holz sei­nes Stuhls im Comp­toir auf­stell­te und über das Pult hin­weg zum Fens­ter hin­aus­blick­te.

Am ers­ten Mor­gen mei­ner so aus­sichts­voll an­he­ben­den Le­bens­bahn wur­de der äl­tes­te der an­ge­stell­ten Kna­ben her­bei­ge­ru­fen, um mir mei­ne Ar­beit zu zei­gen. Er hieß Mick Wal­ker und trug eine zer­ris­se­ne Schür­ze und eine Müt­ze aus Pa­pier. Sein Va­ter war, wie er mir sag­te, Schu­ten­füh­rer und ging mit schwar­zem Samt­ba­rett im jähr­li­chen Fest­zu­ge des Lord-Mayor. Un­ser Vor­ar­bei­ter, eben­falls ein Kna­be, wur­de mir un­ter dem son­der­ba­ren Na­men Mehl­kar­tof­fel vor­ge­stellt. Wie ich spä­ter her­aus­fand, war der Jüng­ling nicht auf die­sen Na­men ge­tauft, son­dern hat­te ihn we­gen sei­ner blas­sen meh­li­gen Ge­sichts­far­be be­kom­men. Er hieß auch kurz Meh­lig, und sein Va­ter war Them­se­schif­fer und au­ßer­dem Feu­er­wehr­mann in ei­nem großen Thea­ter, wo Meh­ligs klei­ne Schwes­ter Ko­bol­de in Pan­to­mi­men spiel­te.

Wor­te kön­nen mei­ne ge­hei­me See­len­qual nicht be­schrei­ben, als ich zu die­ser Ge­sell­schaft her­ab­sank, die­se jetzt täg­li­che Um­ge­bung mit mei­ner glück­li­chen Kind­heit ver­glich, – nicht zu re­den von dem Um­gang mit Steer­forth, Tradd­les und den an­de­ren Kna­ben, – und alle mei­ne Hoff­nun­gen, zu ei­nem an­ge­se­he­nen ge­bil­de­ten Men­schen her­an­zu­wach­sen, ver­nich­tet fand. Un­be­schreib­lich war mei­ne Hoff­nungs­lo­sig­keit, die Scham über mei­ne Lage, das Elend in mei­nem jun­gen Her­zen, von Tag zu Tag mehr und mehr ver­ges­sen zu müs­sen, was ich ge­lernt, ge­dacht und mir aus­ge­malt hat­te. Sooft Mick Wal­ker an die­sem Vor­mit­tag fort­ging, misch­ten sich mei­ne Trä­nen mit dem Was­ser, in dem ich die Fla­schen spül­te, und ich schluchz­te, als ob mir das Herz bre­chen woll­te.

Die Comp­toir­glo­cke zeig­te halb eins, und al­les mach­te sich zum Mit­ta­ges­sen be­reit, als Mr. Qui­ni­on ans Fens­ter klopf­te und mich her­ein­rief. Ich ge­horch­te und fand drin­nen einen star­ken Mann von mitt­lern Jah­ren in ei­nem brau­nen Über­zie­her, mit schwar­zen Ho­sen und Schu­hen, mit ei­nem Kahl­kopf, der so glatt war wie ein Ei, und ei­nem vol­len brei­ten Ge­sicht. Sei­ne Klei­der wa­ren schä­big, da­für hat­te er einen un­ge­heu­ren Hemd­kra­gen. Er trug einen ehe­mals glän­zend ge­we­se­nen Stock mit ein paar großen, ab­ge­griff­nen, schwar­zen Quas­ten und an der Brust eine Lor­gnet­te. Die­se, wie ich spä­ter her­aus­fand, bloß als Schmuck, denn er sah sel­ten hin­durch und konn­te nichts er­ken­nen, wenn er sie vors Auge hielt.

»Das ist er«, sag­te Mr. Qui­ni­on und deu­te­te auf mich.

»Also das ist Mas­ter Cop­per­field«, sag­te der Frem­de mit ei­ner ge­wis­sen af­fek­tier­ten Herab­las­sung in Stim­me und Be­neh­men und ei­ner Vor­nehm­tue­rei, die mir au­ßer­or­dent­lich im­po­nier­te.

»Sie be­fin­den sich doch wohl, Sir?«

Ich sag­te: »Au­ßer­or­dent­lich«, und hoff­te das glei­che von ihm. Mir war ent­setz­lich zu­mu­te, weiß der Him­mel, aber es lag nicht in mei­ner Na­tur zu kla­gen.

»Dem Him­mel sei Dank«, sag­te der Frem­de, »mir geht es recht gut. Ich habe einen Brief von Mr. Murd­sto­ne emp­fan­gen, in dem ich er­sucht wer­de, in ei­nem Zim­mer im Hin­ter­trak­te mei­nes Hau­ses, das au­gen­blick­lich leer steht und – und –« platz­te er plötz­lich in ei­nem An­fall von Ver­trau­lich­keit lä­chelnd her­aus – »als Schlaf­stu­be ver­mie­tet wer­den soll, den jun­gen An­fän­ger auf­zu­neh­men, den ich jetzt das Ver­gnü­gen habe zu –« er schwenk­te die Hand und steck­te das Kinn in den Hemd­kra­gen.

»Das ist Mr. Mi­ca­w­ber«, sag­te Mr. Qui­ni­on zu mir.

»Ahem«, sag­te der Frem­de, »das ist mein Name.«

»Mr. Mi­ca­w­ber«, sag­te Mr. Qui­ni­on, »ist Mr. Murd­sto­ne be­kannt. Er sam­melt Auf­trä­ge für uns, das heißt, wenn er wel­che be­kom­men kann. Er er­hielt von Mr. Murd­sto­ne we­gen dei­ner Woh­nung einen Brief und wird dich zu sich neh­men.«

»Mei­ne Adres­se ist Wind­sor Ter­ras­se, City Road – kurz«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber in der­sel­ben vor­neh­men Mie­ne wie bei Be­ginn und dann plötz­lich in ver­trau­li­chen Ton um­schla­gend, »kurz, ich woh­ne dort.«

»Ich ste­he un­ter dem Ein­druck«, fuhr er fort, »dass Ihre Wan­de­run­gen in die­ser Me­tro­po­le bis­her wohl noch nicht so aus­ge­dehnt ge­we­sen sein kön­nen, dass es Ih­nen nicht ei­ni­ger­ma­ßen Schwie­rig­kei­ten be­rei­ten dürf­te, in die Ver­bor­gen­hei­ten des mo­der­nen Ba­by­lon bis in die Rich­tung der City Road vor­zu­drin­gen, – kurz –«, er ver­fiel wie­der in plötz­li­che Ver­trau­lich­keit, »dass Sie sich ver­lau­fen könn­ten. Ich wer­de so frei sein, Sie die­sen Abend ab­zu­ho­len und in die Kennt­nis des kür­zes­ten We­ges ein­zu­wei­hen.«

Ich dank­te von gan­zem Her­zen, denn es war freund­lich von Mr. Mi­ca­w­ber, dass er sich er­bot, so viel Mühe auf sich zu neh­men.

»Zu wel­cher Stun­de soll ich?« frag­te Mr. Mi­ca­w­ber.

»Ge­gen acht«, sag­te Mr. Qui­ni­on.

»Ge­gen acht«, wie­der­hol­te Mr. Mi­ca­w­ber. »Ich er­lau­be mir, Ih­nen einen gu­ten Tag zu wün­schen, Mr. Qui­ni­on, ich will nicht län­ger stö­ren.«

Da­mit setz­te er sei­nen Hut auf und ging hin­aus, den Stock un­ter dem Arm, ker­zen­ge­ra­de, und be­gann ein Lied­chen zu pfei­fen, als er das Comp­toir hin­ter sich hat­te.

Mr. Qui­ni­on en­ga­gier­te mich so­dann in al­ler Form für das La­ger­haus von Murd­sto­ne & Grin­by als »Bur­sche für al­les« mit ei­nem Sa­lär von, ich weiß nicht mehr, sechs oder sie­ben Schil­lin­gen wö­chent­lich. Er be­zahl­te mir eine Wo­che vor­aus – aus sei­ner Ta­sche, glau­be ich, und ich gab da­von Meh­lig sechs Pence, da­mit er abends mei­nen Kof­fer nach der Wind­sor Ter­ras­se brin­ge, der, wenn auch noch so klein, den­noch für mei­ne Kraft zu schwer war. Wei­te­re sechs Pence zahl­te ich für mein Mit­ta­ges­sen, das aus ei­ner Fleisch­pas­te­te und ei­nem Schluck Brun­nen­was­ser be­stand, und ver­brach­te die freie Mit­tags­stun­de auf der Stra­ße her­um­schlen­dernd.

Abends zur fest­ge­setz­ten Zeit er­schi­en Mr. Mi­ca­w­ber wie­der. Ich wusch mir sei­net­we­gen Hän­de und Ge­sicht, und wir gin­gen nach uns­rer Woh­nung. Mr. Mi­ca­w­ber mach­te mich auf die Stra­ßen­na­men und die Merk­ma­le der Eck­häu­ser auf­merk­sam, da­mit ich am an­de­ren Mor­gen den Weg wie­der zu­rück­fin­den könn­te.

In sei­nem Hau­se in der Wind­sor Ter­ras­se, das auch so auf äu­ßern Schein hielt und da­bei eben­so schä­big war wie er selbst, stell­te er mich Mrs. Mi­ca­w­ber vor, ei­ner ma­gern ver­welk­ten Dame, die, nicht mehr jung, mit ei­nem Kind an der Brust in der Woh­nung im Par­terre saß. Der ers­te Stock war über­haupt nicht mö­bliert und die Rou­leaux wa­ren her­ab­ge­las­sen, um die Nach­barn zu täu­schen. Der Säug­ling ge­hör­te zu ei­nem Zwil­lings­paar und wäh­rend mei­ner gan­zen Be­kannt­schaft mit der Fa­mi­lie sah ich nie­mals die Mut­ter ohne einen der bei­den an der Brust. Ei­ner von bei­den hat­te im­mer Hun­ger.

Noch zwei an­de­re Kin­der wa­ren da. Mas­ter Mi­ca­w­ber, un­ge­fähr vier Jah­re, und Miss Mi­ca­w­ber, etwa drei alt. Dazu kam noch ein jun­ges, dun­kel­häu­ti­ges Dienst­mäd­chen, das be­stän­dig schnauf­te und, wie sie es nann­te, ein »Wais­ling«, aus dem be­nach­bar­ten St.-Lu­kas-Ar­men­hau­se stamm­te. Mein Zim­mer sah un­ter dem Da­che nach dem Hof hin­aus, war klein, mit ei­nem weiß­blau­en Sem­mel­mus­ter be­malt und sehr dürf­tig mö­bliert.

»Ich hät­te nie ge­dacht«, sag­te Mrs. Mi­ca­w­ber, als sie mit den bei­den Zwil­lin­gen hin­auf­ging, um mir das Zim­mer zu zei­gen, und sich nie­der­setz­te, um Atem zu schöp­fen, »ich hät­te nie ge­glaubt, ehe ich hei­ra­te­te und noch bei Papa und Mama leb­te, dass ich noch ein­mal an frem­de Leu­te wür­de ver­mie­ten müs­sen. Aber da Mr. Mi­ca­w­ber mo­men­tan in Ver­le­gen­hei­ten ist, müs­sen alle selbst­süch­ti­gen Be­den­ken fal­len.«

Ich sag­te: »Ja­wohl, Ma­da­me.«

»Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis­se sind au­gen­blick­lich fast er­drücken­der Art«, fuhr Mrs. Mi­ca­w­ber fort, »und ob es mög­lich sein wird, ihn hin­durch­zu­brin­gen, weiß ich nicht. Als ich noch zu Hau­se bei Papa und Mama leb­te, hät­te ich Pa­pas Lieb­lings­aus­druck Ex­pe­ri­en­tia do­cet kaum so ver­stan­den, wie ich es jetzt tue.«

Ich weiß nicht recht, ob sie mir sag­te, dass Mr. Mi­ca­w­ber Ma­ri­ne­be­am­ter ge­we­sen war, oder ob ich es mir bloß ein­bil­de­te. Au­gen­blick­lich war er eine Art Platz­rei­sen­der für ver­schie­de­ne Häu­ser, mach­te aber we­nig oder gar kei­ne Ge­schäf­te.

»Wenn Mr. Mi­ca­w­bers Gläu­bi­ger nicht war­ten wol­len«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber, »müs­sen sie selbst die Fol­gen tra­gen. Je eher sies zu ei­nem Ende brin­gen, de­sto bes­ser. Blut lässt sich aus kei­nem Stein pres­sen, und noch we­ni­ger kann Mr. Mi­ca­w­ber jetzt et­was auf Ab­schlag zah­len, – die Ge­richts­kos­ten gar nicht zu er­wäh­nen.«

Ich weiß nicht, ob sie mei­ne früh­rei­fe Selbst­stän­dig­keit über mein Al­ter irre mach­te oder ob die An­ge­le­gen­heit sie der­art er­füll­te, dass sie sie so­gar den bei­den Zwil­lin­gen er­zählt ha­ben wür­de, wenn nie­mand an­ders da­ge­we­sen wäre. Je­den­falls schlug sie die­se Ton­art an und re­de­te dar­in wei­ter, so­lan­ge ich sie kann­te.

Die arme Mrs. Mi­ca­w­ber! Sie habe sich kei­ne Mühe ver­drie­ßen las­sen, sag­te sie; und dar­an zweifle ich nicht. Die Hau­stü­re war halb ver­deckt von ei­ner großen Mes­sing­plat­te mit der Auf­schrift: »Mrs. Mi­ca­w­bers Er­zie­hungs­heim für jun­ge Da­men.« Aber ich er­fuhr nie, dass eine jun­ge Dame Un­ter­richt ge­nom­men hät­te oder an­ge­mel­det wor­den wäre. Die ein­zi­gen Be­su­cher, die ich sah, wa­ren Gläu­bi­ger. Sie pfleg­ten den gan­zen Tag zu kom­men und ei­ni­ge von ih­nen be­nah­men sich furcht­bar wild. Ein Mann mit ei­nem schmut­zi­gen Ge­sich­te, ich glau­be, er war Schus­ter, klemm­te sich je­den Mor­gen schon um sie­ben Uhr früh zur Hau­stü­re her­ein und rief die Trep­pe hin­auf Mr. Mi­ca­w­ber zu: »No, Sie sind noch nicht fort, weiß schon. Wer­den Sie end­lich zah­len? Ver­ste­cken Sie sich nicht. Das ist ge­mein! Ich möch­te nicht so ge­mein sein, wenn ich Sie wäre. Zah­len Sie end­lich, ja? Wer­den Sie nicht end­lich zah­len, was! No?« Da er nie eine Ant­wort be­kam, pfleg­te er sich in sei­ner Wut zu Wor­ten wie Schwind­ler und Räu­ber zu ver­stei­gen, und als auch das nie half, lief er zu­wei­len so­gar auf die Stra­ße hin­aus und brüll­te zu den Fens­tern des zwei­ten Stocks hin­auf, wo sich Mr. Mi­ca­w­ber auf­hielt, wie er wuss­te.

Bei sol­cher Ge­le­gen­heit pfleg­te Mr. Mi­ca­w­ber vor Är­ger au­ßer sich zu ge­ra­ten und To­des­ge­dan­ken zu be­kom­men, und es kam manch­mal so weit, dass er, wie mir das Schrei­en sei­ner Frau stets ver­riet, mit dem Ra­sier­mes­ser eine Be­we­gung nach sei­nem Hal­se mach­te. Eine hal­be Stun­de spä­ter putz­te er sich je­doch im­mer wie­der mit großer Sorg­falt die Schu­he und ging pfei­fend mit vor­neh­me­rer Mie­ne als je aus.

Mrs. Mi­ca­w­ber war ähn­lich elas­ti­scher Na­tur. Ich habe sie bei Prä­sen­tie­rung der kö­nig­li­chen Steu­er­ta­xe um drei Uhr in Ohn­macht fal­len se­hen, und schon um vier Uhr ver­zehr­te sie Lamm­ko­te­let­ten und Warm­bier, was von dem Er­lös der im Leih­haus ver­setz­ten zwei Tee­löf­fel an­ge­schafft wor­den war. Ein­mal, als eben eine Exe­ku­ti­on voll­streckt wur­de und ich zu­fäl­lig um sechs Uhr nach Hau­se kam, lag sie mit zersaus­tem Haar, selbst­ver­ständ­lich mit ei­nem Zwil­ling, ohn­mäch­tig ne­ben dem Ka­min. Aber nie habe ich sie lus­ti­ger ge­se­hen als noch am sel­ben Abend bei ei­nem Ko­te­lett am Herd­feu­er, wo sie mir Ge­schich­ten von Papa und Mama und ih­ren Ge­sell­schaf­ten er­zähl­te.

In die­sem Hau­se und in die­ser Fa­mi­lie ver­brach­te ich mei­ne freie Zeit. Mein Früh­stück, aus ei­nem Pen­ny­brot und ei­nem Schluck Milch be­ste­hend, ver­schaff­te ich mir selbst. Ein zwei­tes Brot und ein Kä­se­rest wa­ren für mich in ei­nem be­son­dern Fach ei­nes Schran­kes auf­ge­ho­ben, wenn ich abends nach Hau­se kam. Das mach­te ein Loch in die sechs oder sie­ben Schil­lin­ge, und ich war den gan­zen Tag über im Ma­ga­zin und muss­te mich eine vol­le Wo­che von dem Gel­de er­hal­ten. Von Mon­tag früh bis Sams­tag abend hat­te ich we­der Rat, Er­mu­ti­gung, Trost, Bei­stand oder Un­ter­stüt­zung von ir­gend­je­mand, so wahr mir Gott hel­fe.

Ich war so jung und so kin­disch und so we­nig ge­eig­net, – wie hät­te es auch an­ders sein kön­nen – die gan­ze Sor­ge für mei­ne Exis­tenz zu tra­gen, dass ich oft früh, wenn ich zu Murd­sto­ne & Grin­by ging, der Ver­su­chung nicht wi­der­ste­hen konn­te und mir die zum hal­b­en Preis im Fens­ter des Bäckers aus­ge­stell­ten alt­ba­cke­nen Pas­te­ten kauf­te und da­für das Geld aus­gab, das für mein Mit­ta­ges­sen be­stimmt war.

Wenn ich ein­mal re­gel­recht zu Mit­tag speis­te, kauf­te ich mir eine Rou­la­de und ein Pen­ny­brot oder eine Por­ti­on ro­tes Rind­fleisch für vier Pence oder eine Por­ti­on Käse und Brot und ein Glas Bier in ei­nem elen­den Wirts­haus, un­serm Ge­schäft ge­gen­über, das »der Löwe« hieß.

Ein­mal, ich er­in­ne­re mich noch, trug ich mein Brot, das ich von zu Hau­se mit­ge­nom­men hat­te, in Pa­pier ge­wi­ckelt wie ein Buch, un­ter dem Arm und ging in ei­nes der be­kann­te­ren Spei­se­häu­ser hin­ter Dr­u­ry Lane und be­stell­te mir eine klei­ne Por­ti­on Rinds­bra­ten. Was sich der Kell­ner beim An­blick der selt­sa­men klei­nen Er­schei­nung, die ganz al­lein her­ein­trat, dach­te, weiß ich nicht, aber er starr­te mich an wäh­rend des gan­zen Es­sens und rief auch den an­de­ren Kell­ner her­bei. Ich gab einen hal­b­en Pen­ny Trink­geld und wünsch­te, er hät­te ihn nicht ge­nom­men.

Wir hat­ten eine hal­be Stun­de zur Pau­se frei. Wenn ich Geld be­saß, kauf­te ich mir eine hal­be Pin­te zu­sam­men­ge­gos­se­nen Kaf­fee und ein Stück But­ter­brot. Wenn ich keins hat­te, be­trach­te­te ich mir eine Wild­bret­hand­lung in Fleet Street oder lief bis Co­vent Gar­den Mar­ket und starr­te die Ana­nas­se an. Mein Lieb­lings­spa­zier­gang er­streck­te sich bis in die Nähe des Adel­phi-Thea­ters, weil es mit sei­nen dun­keln Bo­gen ein so ge­heim­nis­vol­ler Ort war. Ich sehe mich noch, wie ich ei­nes Abends aus ei­nem die­ser Bo­gen her­vor­kam und vor mir dicht am Fluss ein klei­nes Wirts­haus er­blick­te mit ei­nem frei­en Platz da­vor, wo ein paar Koh­len­trä­ger tanz­ten. Ich setz­te mich auf eine Bank und sah ih­nen zu. Ich möch­te wis­sen, was sie wohl von mir ge­dacht ha­ben.

Ich war noch so sehr Kind und so klein, dass, wenn ich in ein frem­des Wirts­haus trat und ein Glas Ale oder Por­ter ver­lang­te, man es mir kaum zu ge­ben wag­te. Ich weiß noch, wie ich an ei­nem war­men Aben­de an den Aus­schank ei­nes Bier­hau­ses trat und zu dem Wir­te sag­te: »Was kos­tet ein Glas vom bes­ten, aber vom al­ler­bes­ten Ale?« Es war eine be­son­ders fest­li­che Ge­le­gen­heit. Vi­el­leicht mein Ge­burts­tag.

»Zwei­ein­hal­ben Pen­ny«, sag­te der Wirt, »kos­tet das ech­te Stun­ning-Ale.«

»Also«, sag­te ich und leg­te das Geld hin, »ge­ben Sie mir ein Glas mit recht viel Schaum.«

Der Wirt sah mich über den Schenk­tisch vom Kopf bis zu den Fü­ßen mit er­staun­tem Lä­cheln an, an­statt aber das Bier ein­zu­schen­ken, beug­te er sich hin­ter den Ver­schlag und sag­te et­was zu sei­ner Frau. Die­se trat mit ei­ner Ar­beit in der Hand her­vor und ge­sell­te sich zu ihm, um mich eben­falls zu be­trach­ten. Ich sehe uns drei noch; der Wirt in Hem­d­är­meln lehnt am Fens­ter­rah­men, sei­ne Frau blickt über die klei­ne Halb­tür, und ich schaue au­ßer­halb der Schei­de­wand ver­wirrt zu ih­nen auf. Sie fra­gen mich al­ler­lei aus, wie ich hie­ße, wie alt ich wäre, wo ich wohn­te, was ich für eine Be­schäf­ti­gung hät­te und wie ich dazu ge­kom­men. Auf al­les er­fand ich mir, um nie­mand zu kom­pro­mit­tie­ren, pas­sen­de Ant­wor­ten. Sie ga­ben mir das Ale, – wie ich ver­mu­te, war es nicht das ech­te, – und die Frau des Wir­tes öff­ne­te den Schenk­ver­schlag, gab mir mein Geld zu­rück und küss­te mich, halb be­wun­dernd, halb mit­lei­dig, aber je­den­falls recht müt­ter­lich.

Ich weiß, ich über­trei­be nicht, auch nicht un­ab­sicht­lich, die Dürf­tig­keit mei­ner Mit­tel oder die Be­dräng­nis­se mei­nes Le­bens. Ich weiß, dass, wenn Mr. Qui­ni­on mir ein­mal einen Schil­ling schenk­te, ich ihn im­mer nur für Tee oder ein Mit­ta­ges­sen aus­gab. Ich weiß, dass ich als ärm­li­ches Kind mit ge­wöhn­li­chen Män­nern und Kna­ben von früh bis spät mich ab­ar­bei­te­te. Schlecht und un­ge­nü­gend ge­nährt, schlen­der­te ich in mei­nen frei­en Stun­den durch die Stra­ßen. Wie leicht hät­te aus mir ein klei­ner Dieb oder Va­ga­bund wer­den kön­nen.

Im­mer­hin nahm ich bei Murd­sto­ne & Grin­by eine ge­wis­se Stel­lung ein. Mr. Qui­ni­on tat, was ein so viel­be­schäf­tig­ter und im großen gan­zen so ge­dan­ken­lo­ser Mann, der über­dies mit ei­nem so au­ßer­ge­wöhn­li­chen Auf­trag be­traut war, tun konn­te, um mich an­ders als die üb­ri­gen zu be­han­deln. Über­dies ver­schwieg ich mei­nen Ge­fähr­ten, wie ich an die­sen Ort ge­kom­men war, und äu­ßer­te nie das min­des­te, dass ich mich dar­über be­küm­mert fühl­te. Dass ich im ge­hei­men litt und auf das tiefs­te, das wuss­te nur ich. Und wie sehr ich litt, kann ich gar nicht be­schrei­ben. Aber ich be­hielt mei­nen Schmerz für mich und ver­rich­te­te mei­ne Ar­beit.

Ich fühl­te gleich am An­fang, dass ich mich vor Ge­ring­schät­zung nicht wür­de schüt­zen kön­nen, wenn ich mei­ne Ar­beit nicht so gut mach­te wie die üb­ri­gen. Ich wur­de bald so ge­schickt und flink wie die bei­den an­de­ren Jun­gen. Ob­gleich auf bes­tem Fuß mit ih­nen, un­ter­schie­den sich doch mein Be­neh­men und mei­ne gan­ze Art und Wei­se von ih­res­glei­chen, und es blieb im­mer eine Kluft zwi­schen uns be­ste­hen. Sie und die er­wach­se­nen Ar­bei­ter nann­ten mich meist den »klei­nen Gent­le­man« oder den »jun­gen Suf­fol­ker.«

Der Vor­meis­ter un­ter den Pa­ckern, na­mens Gre­go­ry, und ein an­de­rer, der Kärr­ner na­mens Tipp, der eine rote Ja­cke an­hat­te, nann­ten mich zu­wei­len Da­vid, aber es ge­sch­ah nur, wenn ge­ra­de eine sehr ver­trau­li­che Stim­mung herrsch­te und ich mich be­müht hat­te, sie wäh­rend der Ar­beit mit ei­ni­gen Über­res­ten aus mei­ner Le­se­zeit, die im­mer mehr aus mei­nem Ge­dächt­nis schwan­den, zu un­ter­hal­ten. Mehl­kar­tof­fel lehn­te sich ein­mal da­ge­gen auf, dass ich so aus­ge­zeich­net wur­de, aber Mick Wal­ker brach­te ihn so­fort zum Schwei­gen.

Die Hoff­nung auf eine Er­lö­sung aus die­sem Da­sein hat­te ich ganz ent­schie­den auf­ge­ge­ben. Ich fand mich nie in mei­ner Stel­lung zu­recht und fühl­te mich höchst un­glück­lich, aber ich er­trug es, und selbst Peg­got­ty ent­deck­te ich teils aus Lie­be, teils aus Scham in kei­nem Brief, ob­gleich ich ihr vie­le schrieb, die Wahr­heit.

Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis­se ver­mehr­ten noch die Last, die ich in­ner­lich zu tra­gen hat­te. In mei­ner Ver­las­sen­heit war ich der Fa­mi­lie sehr an­häng­lich ge­wor­den und ging im­mer her­um, be­schäf­tigt mit Mr. Mi­ca­w­bers Sor­gen und be­schwert von der Last sei­ner Schul­den.

Je­den Sams­tag­abend, der im­mer ein Fest für mich be­deu­te­te, teils, weil es et­was Gro­ßes war, mit sechs oder sie­ben Schil­lin­gen nach Hau­se zu ge­hen, in die Lä­den zu bli­cken und zu den­ken, was man sich da al­les kau­fen könn­te, teils, weil das Ge­schäft zeit­li­cher ge­schlos­sen wur­de, mach­te mir Mrs. Mi­ca­w­ber die herz­zer­rei­ßends­ten Mit­tei­lun­gen. Auch Sonn­tag früh, wo ich die Por­ti­on Tee oder Kaf­fee, die ich mir am Abend zu­vor ge­kauft hat­te, in ei­nem klei­nen Ra­sier­topf wärm­te und lan­ge beim Früh­stück schwelg­te.

Durchaus nicht un­ge­wöhn­lich war es, dass Mr. Mi­ca­w­ber bei Be­ginn un­se­rer Sams­tags­abend-Un­ter­hal­tung noch hef­tig schluchz­te und ge­gen Ende ein lus­ti­ges Ma­tro­sen­lied sang. Ich habe ihn zum Abendes­sen nach Hau­se kom­men se­hen mit ei­ner Flut von Trä­nen und der Er­klä­rung, es blie­be nichts mehr üb­rig als das Schuld­ge­fäng­nis, und dann schla­fen ge­hen mit ei­ner Be­rech­nung be­schäf­tigt, was es kos­ten wür­de, das Haus mit Bo­gen­fens­tern zu ver­se­hen, im Fal­le »eine glück­li­che Wen­dung ein­tre­ten« soll­te, wie sein Lieb­lings­aus­druck lau­te­te. Und Mrs. Mi­ca­w­ber war ge­nau­so.

Ich ge­noss eine merk­wür­di­ge freund­schaft­li­che Gleich­stel­lung, die, wie ich ver­mu­te, eine Fol­ge un­se­rer in ge­wis­ser Be­zie­hung ähn­li­chen Ver­hält­nis­se war, bei die­sen Leu­ten, trotz un­se­res lä­cher­li­chen Al­ters­un­ter­schie­des, ließ mich aber nie be­we­gen, eine der vie­len Ein­la­dun­gen, mit ih­nen zu es­sen und zu trin­ken, an­zu­neh­men, denn ich wuss­te recht gut, wie schlecht sie mit Bä­cker und Flei­scher stan­den, und dass sie oft nicht ge­nug für sich selbst hat­ten, bis Mrs. Mi­ca­w­ber mich ei­nes Tags ganz ins Ver­trau­en zog. Das tat sie in fol­gen­der Wei­se.

»Mas­ter Cop­per­field«, sag­te sie, »ich be­trach­te Sie nicht wie einen Frem­den und zö­ge­re da­her nicht, Ih­nen zu ge­ste­hen, dass Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis­se sich zu ei­ner Kri­sis zu­spit­zen.«

Das be­trüb­te mich sehr, und ich sah Mrs. Mi­ca­w­bers ver­wein­te Au­gen mit größ­ter Teil­nah­me an.

»Mit Aus­nah­me der Krus­te von ei­nem Hol­län­der Käse, die den Be­dräng­nis­sen ei­ner jun­gen Fa­mi­lie nicht an­ge­mes­sen ist«, sag­te Mrs. Mi­ca­w­ber, »ist auch nicht ein Bis­sen mehr in der Spei­se­kam­mer. Als ich noch bei Papa und Mama war, hat­te ich noch die Ge­wohn­heit, von ei­ner Spei­se­kam­mer zu spre­chen. Jetzt ge­brau­che ich das Wort ei­gent­lich ganz ge­dan­ken­los. Was ich sa­gen will, ist, dass wir nichts mehr zu es­sen im Hau­se ha­ben.«

»O Gott!« rief ich sehr be­un­ru­higt.

Ich be­saß noch zwei oder drei Schil­lin­ge von mei­nem Wo­chen­lohn, es muss also wohl Mitt­woch ge­we­sen sein, und ich zog sie eil­fer­tig aus der Ta­sche und bat Mrs. Mi­ca­w­ber mit auf­rich­ti­ger Rüh­rung, sie als ein Dar­le­hen an­zu­neh­men. Aber sie küss­te mich nur und sag­te, dass dar­an gar nicht zu den­ken sei.

»Nein, lie­ber Mas­ter Cop­per­field! Das sei fer­ne von mir! Aber Sie sind sehr dis­kret für Ihre Jah­re und kön­nen mir einen an­de­ren Dienst er­wei­sen, wenn Sie wol­len, den ich mit Dank an­neh­men wür­de.«

Ich bat Mrs. Mi­ca­w­ber, ihn mir zu nen­nen.

»Das Sil­ber­zeug habe ich selbst fort­ge­schafft«, sag­te sie, »sechs Tee-, zwei Salz- und ein paar Zucker­löf­fel habe ich nach und nach ins­ge­heim sel­ber ver­setzt, aber die Zwil­lin­ge sind ein großes Hin­der­nis, über­dies sind für mich mit mei­nen Erin­ne­run­gen an Papa und Mama der­lei Trans­ak­tio­nen sehr schmerz­lich. Ich habe noch ein paar Klei­nig­kei­ten da, die wir ent­beh­ren kön­nen. Mr. Mi­ca­w­ber wür­den sei­ne Ge­füh­le nie­mals er­lau­ben, so et­was sel­ber zu be­sor­gen, und Clickett – das war das Mäd­chen aus dem Ar­men­haus – ist eine or­di­näre Per­son und wür­de sich Frech­hei­ten her­aus­neh­men, wenn man sie ein­weih­te. Mas­ter Cop­per­field! wenn ich Sie da­her bit­ten dürf­te –«

Ich ver­stand jetzt Mrs. Mi­ca­w­ber und bat sie, ganz über mich zu ver­fü­gen. Schon am Abend fing ich an, die am leich­tes­ten trag­ba­ren Ge­gen­stän­de fort­zu­brin­gen, und mach­te fast je­den Mor­gen, be­vor ich zu Murd­sto­ne & Grin­by ging, ähn­li­che Ex­pe­di­tio­nen.

Mr. Mi­ca­w­ber hat­te ein paar Bü­cher auf sei­ner klei­nen Kom­mo­de ste­hen, die er die Biblio­thek nann­te; die­se ka­men zu­erst an die Rei­he. Ich trug eins nach dem an­de­ren zu ei­nem An­ti­quar in der City Road, die da­mals zu­meist aus Buch­lä­den und Vo­gel­hand­lun­gen be­stand, und ver­kauf­te sie um je­den Preis. Der An­ti­quar, der in ei­nem klei­nen Hau­se un­weit sei­nes Stan­des wohn­te, pfleg­te sich je­den Abend zu be­trin­ken und wur­de dann am Mor­gen von sei­ner Frau hef­tig aus­ge­zankt. Mehr als ein­mal, wenn ich zei­tig früh hin­ging, traf ich ihn noch im Bett mit ei­ner Wun­de an der Stirn oder ei­nem blau­en Auge, – Erin­ne­run­gen an sei­ne nächt­li­chen Aus­schwei­fun­gen – und er such­te dann mit zit­tern­der Hand die nö­ti­gen Schil­lin­ge in den ver­schie­de­nen Ta­schen sei­ner Klei­der, die auf dem Bo­den her­um­la­gen, wäh­rend sein Weib in nie­der­ge­tre­te­nen Schu­hen, ein Kind auf dem Arm, un­un­ter­bro­chen wei­ter­keif­te. Manch­mal schi­en er sein Geld ver­lo­ren zu ha­ben, und dann hieß er mich wie­der­kom­men. Aber sei­ne Frau be­saß im­mer ein paar Schil­lin­ge – wahr­schein­lich hat­te sie sie ihm wäh­rend der Trun­ken­heit aus der Ta­sche ge­nom­men – und schloss den Han­del heim­lich auf der Trep­pe ab, wenn wir zu­sam­men hin­un­ter­gin­gen.

Beim Pfand­lei­her wur­de ich bald sehr be­kannt. Der Haupt­schrei­ber, der hin­ter dem La­den­tisch am­tier­te, schenk­te mir viel Be­ach­tung und ließ mich oft, wäh­rend sich mei­ne Ge­schäf­te ab­wi­ckel­ten, ein la­tei­ni­sches Sub­stan­tiv oder Ad­jek­tiv de­kli­nie­ren oder ein Ver­bum kon­ju­gie­ren. War ein sol­ches Leih­ge­schäft be­sorgt, gab Mrs. Mi­ca­w­ber meis­tens ein be­schei­de­nes Abendes­sen, und sol­che Fes­te hat­ten für mich im­mer einen ganz be­son­de­ren Reiz.

End­lich kam es in Mr. Mi­ca­w­bers Ver­hält­nis­sen zu ei­ner Kri­sis, und er wur­de ei­nes Mor­gens von der be­vor­ste­hen­den Ver­haf­tung ver­stän­digt und soll­te sich in dem Kings-Bench-Ge­fäng­nis im Bor­rough ein­fin­den. Als er fort­ging, sag­te er zu mir, dass der Gott des Ta­ges jetzt für ihn ver­sun­ken sei. Ich dach­te wirk­lich, ihm (und auch mir) sei jetzt das Herz ge­bro­chen. Spä­ter hör­te ich, dass er vor Mit­tag noch ganz fi­del eine Par­tie Ke­gel ge­scho­ben hat­te.

Am ers­ten Sonn­tag nach sei­ner Ver­haf­tung soll­te ich ihn be­su­chen und bei ihm es­sen. Ich soll­te den Weg nach dem und dem Plat­ze er­fra­gen. Von dem Plat­ze aus wür­de ich einen an­de­ren Platz se­hen und dicht hin­ter die­sem einen Hof und über die­sen soll­te ich ge­ra­de­aus ge­hen, bis ich einen Schlie­ßer sähe. Al­les das be­folg­te ich, und als ich den Schlie­ßer zu Ge­sicht be­kam, ar­mer klei­ner Jun­ge, der ich war, und da­bei an den Mann dach­te, der – als Ro­de­rick Ran­dom im Ro­man im Schuld­ge­fäng­nis saß – nichts als eine alte De­cke an­hat­te, ver­schwamm sei­ne Ge­stalt un­deut­lich vor mei­nen nas­sen Au­gen und es klopf­te mir das Herz.

Mr. Mi­ca­w­ber er­war­te­te mich an der Tür, und wir gin­gen hin­auf in sein Zim­mer im vor­letz­ten Stock un­ter dem Dach und wein­ten sehr. Er be­schwor mich fei­er­lich, mir an sei­nem Schick­sal ein Bei­spiel zu neh­men und nie zu ver­ges­sen, dass ein Mann mit zwan­zig Pfund Jah­res­ein­kom­men glück­lich ist, wenn er neun­zehn Pfund, neun­zehn Schil­ling und sechs Pence aus­gibt, aber elend wird, wenn er einen Schil­ling mehr ver­zehrt. Dann borg­te er sich einen Schil­ling von mir für Bier aus, gab mir eine ge­schrie­be­ne An­wei­sung an Mrs. Mi­ca­w­ber über die­sen Be­trag, steck­te sein Ta­schen­tuch ein und war wie­der hei­ter.

Wir setz­ten uns vor ein klei­nes Feu­er, das der Er­spar­nis we­gen durch zwei Zie­gel­stei­ne ab­ge­trennt auf ei­nem al­ten Rost brann­te, und war­te­ten, bis ein an­de­rer Schuld­ge­fan­ge­ner, Mr. Mi­ca­w­bers Stu­ben­ge­nos­se, mit ei­ner ge­bra­te­nen Schöp­sen­keu­le, die un­se­re Mahl­zeit auf ge­mein­sa­me Kos­ten bil­den soll­te, aus dem Brat­la­den kam. Dann wur­de ich hin­auf­ge­schickt in das Zim­mer ge­ra­de über uns zu »Ka­pi­tän Hop­kins« mit Emp­feh­lun­gen von Mr. Mi­ca­w­ber, ich sei sein jun­ger Freund und er lie­ße »Ka­pi­tän Hop­kins« bit­ten, mir Mes­ser und Ga­bel zu lei­hen.

»Ka­pi­tän Hop­kins« lieh mir Mes­ser und Ga­bel mit vie­len Emp­feh­lun­gen an Mr. Mi­ca­w­ber. In sei­nem klei­nen Zim­mer be­fan­den sich noch eine sehr schmut­zi­ge Frau und zwei blas­se Mäd­chen mit furcht­bar wir­ren Fri­su­ren – sei­ne Töch­ter. Ich dach­te bei mir, es sei bes­ser, »Ka­pi­tän Hop­kins’« Ga­bel und Mes­ser aus­zu­lei­hen als sei­nen Kamm.

Der Ka­pi­tän selbst war auf der letz­ten Stu­fe von Schä­big­keit an­ge­langt, trug lan­ge Ko­te­let­ten und einen ur­al­ten brau­nen Über­zie­her ohne je­des Un­ter­kleid. Sein Bett lag in ei­ner Ecke zu­sam­men­ge­rollt, und auf ei­nem Brett stand, was er an Ge­schirr be­saß. Ich er­riet, Gott weiß wie, dass die bei­den Mäd­chen mit den zer­zaus­ten Haa­ren wohl »Ka­pi­tän Hop­kins’« Töch­ter wa­ren, die schmut­zi­ge Frau aber nicht sei­ne Gat­tin. Ich stand nicht län­ger auf der Schwel­le als höchs­tens ein paar Mi­nu­ten, hat­te aber al­les so­fort durch­schaut und wuss­te al­les so si­cher, wie dass ich Mes­ser und Ga­bel in der Hand hielt.

Das Mit­ta­ges­sen hat­te et­was an­ge­nehm Zi­geu­ner­haf­tes.

Ich brach­te »Ka­pi­tän Hop­kins« Mes­ser und Ga­bel nach­mit­tags wie­der zu­rück und ging nach Hau­se, um Mrs. Mi­ca­w­ber mit ei­nem Be­richt zu be­ru­hi­gen. Sie wur­de ohn­mäch­tig, als sie mich zu­rück­kom­men sah, und be­rei­te­te dann einen klei­nen Eier­punsch zu un­se­rer Trös­tung.

Ich weiß nicht, wie und von wem spä­ter die Mö­bel ver­kauft wur­den. Von mir nicht, das ist si­cher. Ver­kauft wur­den sie, und mit Aus­nah­me des Bet­tes, ei­ni­ger Stüh­le und des Kü­chen­ti­sches führ­te man sie in ei­nem Wa­gen weg. Mit die­sen Be­sitz­tü­mern kam­pier­ten wir so gut es ging in zwei Zim­mern des aus­ge­räum­ten Hau­ses auf der Wind­sor-Ter­ras­se; Mrs. Mi­ca­w­ber, die Kin­der, der »Wais­ling« und ich wohn­ten dar­in Tag und Nacht. Ich habe kei­ne Ah­nung, wie lan­ge es dau­er­te, aber es scheint eine ziem­li­che Zeit ge­we­sen zu sein.

End­lich be­schloss Mrs. Mi­ca­w­ber, auch in das Ge­fäng­nis zu zie­hen, wo Mr. Mi­ca­w­ber sich ein eig­nes Zim­mer durch­ge­setzt hat­te. Ich trug die Schlüs­sel des Hau­ses zu ih­rem Be­sit­zer, der sehr froh war, als er sie be­kam, und die Bet­ten wur­den nach Kings-Bench ge­schickt; mei­nes, für das wir ein klei­nes Stüb­chen in der Nähe des Ge­fäng­nis­ses mie­te­ten, aus­ge­nom­men. Mit die­ser An­ord­nung war ich sehr zu­frie­den, denn die Mi­ca­w­bers und ich hat­ten uns an­ein­an­der zu sehr ge­wöhnt, um uns tren­nen zu kön­nen. Der Wais­ling wur­de eben­falls mit ei­ner bil­li­gen Woh­nung in uns­rer Nähe be­dacht. Ich be­kam eine stil­le Dach­stu­be hin­ten hin­aus mit der an­ge­neh­men Aus­sicht auf einen Bau­hof, und als ich ein­zog mit dem Ge­dan­ken, dass Mr. Mi­ca­w­bers Sor­gen nun end­lich zu ei­ner Kri­sis ge­kom­men sei­en, er­schi­en es mir wie ein wah­res Pa­ra­dies.

Die gan­ze Zeit über ar­bei­te­te ich bei Murd­sto­ne & Grin­by in der ge­wohn­ten Wei­se mit den­sel­ben Ge­fähr­ten und dem un­ver­än­der­ten Ge­fühl ei­ner un­ver­dien­ten Er­nied­ri­gung, wie an­fangs. Aber – ge­wiss zu mei­nem Glück – mach­te ich nie­mals eine Be­kannt­schaft und sprach nie mit ei­nem der vie­len Kna­ben, die ich auf dem täg­li­chen Weg ins La­ger­haus oder bei mei­nem Her­um­lun­gern auf der Stra­ße von Zeit zu Zeit zu Ge­sicht be­kam. Ich führ­te im­mer das glei­che in­ner­lich un­glück­li­che Le­ben in im­mer der­sel­ben ein­sa­men selbst­ge­nüg­sa­men Wei­se. Die ein­zi­gen Ver­än­de­run­gen, de­ren ich mir be­wusst wur­de, wa­ren ers­tens, dass ich mir noch mehr her­ab­ge­kom­men zu sein schi­en, und zwei­tens, dass die Sor­gen Mr. und Mrs. Mi­ca­w­bers we­ni­ger auf mir las­te­ten; ei­ni­ge Ver­wand­te oder Freun­de un­ter­stütz­ten sie, und sie leb­ten jetzt bes­ser im Ge­fäng­nis als in der letz­ten Zeit au­ßer­halb.

In­fol­ge ir­gend­ei­nes Ar­ran­ge­ments durf­te ich bei ih­nen früh­stücken. Wann die Tore des Ge­fäng­nis­ses früh ge­öff­net wur­den, weiß ich nicht mehr, ich er­in­ne­re mich nur, dass ich im­mer dar­auf war­te­te – am liebs­ten auf der al­ten Lon­don-Brücke – und mich im­mer auf die Stein­bän­ke setz­te und die vor­über­ge­hen­den Leu­te be­ob­ach­te­te, oder über die Ba­lus­tra­de auf das in der Son­ne glit­zern­de Was­ser schau­te. Hier traf ich öf­ter den Wais­ling und er­zähl­te ihm ei­ni­ge er­staun­li­che Ge­schich­ten von den Werf­ten und vom Tower, von de­nen ich wei­ter nichts sa­gen kann, als dass ich hof­fe, ich habe sie selbst ge­glaubt. Abends be­such­te ich meis­tens wie­der das Ge­fäng­nis, ging mit Mr. Mi­ca­w­ber auf dem Hofe auf und ab, spiel­te mit Mrs. Mi­ca­w­ber Ca­si­no und hör­te ih­ren Re­mi­nis­zen­zen an Papa und Mama zu. Ob Mr. Murd­sto­ne wuss­te, wo ich mich be­fand, kann ich nicht sa­gen. Ich er­zähl­te nie et­was bei Murd­sto­ne & Grin­by.

Ob­gleich Mr. Mi­ca­w­bers An­ge­le­gen­hei­ten jetzt über die Kri­se hin­aus wa­ren, so schie­nen sie doch noch sehr ver­wi­ckelt zu sein we­gen ei­nes ge­wis­sen Kon­trak­tes, von dem ich im­mer sehr viel hör­te, und der wahr­schein­lich eine frü­he­re Ver­ein­ba­rung mit den Gläu­bi­gern ge­we­sen sein mag. Vi­el­leicht war es auch ei­nes je­ner ge­wis­sen Teu­fel­s­pak­te auf Per­ga­ment, die ein­mal vor Zei­ten in Deutsch­land so ver­brei­tet ge­we­sen sein sol­len. End­lich schi­en die­ses Do­ku­ment ir­gend­wie aus dem Wege ge­räumt wor­den zu sein, we­nigs­tens hör­te es auf, den Stein des An­sto­ßes zu bil­den, und Mrs. Mi­ca­w­ber teil­te mir mit, dass »ihre Fa­mi­lie« be­schlos­sen habe, Mr. Mi­ca­w­ber müs­se sich un­ter den Schutz des Bank­rott­ge­set­zes stel­len, was sei­ne Be­frei­ung in etwa sechs Wo­chen in Aus­sicht rücken wür­de.

»Und dann«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber, »wer­de ich mit Got­tes Hil­fe in der Welt wie­der vor­wärts­kom­men und ein ganz neu­es Le­ben be­gin­nen, wenn – die große Ver­än­de­rung ein­tritt.«

Ich darf nicht zu be­rich­ten ver­säu­men, dass Mr. Mi­ca­w­ber auch eine Pe­ti­ti­on an das Un­ter­haus ein­reich­te, und dar­in um eine Ab­än­de­rung der Schuld­haft­ge­set­ze bat. –

Es gab einen Klub im Ge­fäng­nis, in dem er als Gent­le­man in großem An­se­hen stand. Er hat­te die Grun­di­dee zu sei­ner Pe­ti­ti­on dem Klub be­kannt­ge­ge­ben, und die­ser hat­te sie ge­bil­ligt. Da­rauf mach­te sich Mr. Mi­ca­w­ber, der au­ßer­or­dent­lich gut­her­zig war und in al­len An­ge­le­gen­hei­ten, nur in sei­nen eig­nen nicht, un­ge­mein tä­tig war und sich glück­lich fühl­te, wenn er et­was tun konn­te, was ihm nicht den ge­rings­ten Nut­zen ein­brach­te, über die Pe­ti­ti­on her, fass­te sie ab, schrieb sie auf einen un­ge­heu­ren Bo­gen Pa­pier, brei­te­te sie auf dem Tisch aus und setz­te die Zeit fest, wo der gan­ze Klub und alle Ge­fan­ge­nen, die dazu Lust hät­ten, her­auf­kom­men und sie un­ter­zeich­nen soll­ten.

Als ich von der be­vor­ste­hen­den Fei­er­lich­keit hör­te, fühl­te ich ein so leb­haf­tes In­ter­es­se, je­den ein­zel­nen her­auf­kom­men zu se­hen, dass ich mir bei Murd­sto­ne & Grin­by eine Stun­de Ur­laub er­wirk­te und in ei­ner Ecke des Zim­mers Pos­ten fass­te.

Die Ober­häup­ter des Klubs stan­den in dem klei­nen Zim­mer her­um und »Ka­pi­tän Hop­kins«, der sich zu Ehren des Fes­tes ge­wa­schen hat­te, stand ne­ben Mr. Mi­ca­w­ber be­reit, die Pe­ti­ti­on vor­zu­le­sen. Dann wur­de die Tür ge­öff­net und in lan­gen Rei­hen ka­men die üb­ri­gen Be­woh­ner des Ge­fäng­nis­ses her­ein. Meh­re­re war­te­ten drau­ßen, wäh­rend im­mer ei­ner vor­trat, un­ter­schrieb und wie­der hin­aus­ging. Je­den ein­zel­nen frag­te »Ka­pi­tän Hop­kins«: »Ha­ben Sie es ge­le­sen? – Nein! – Soll ich es Ih­nen vor­le­sen?« Wenn der Be­tref­fen­de wi­der­stands­los ge­nug war, auch nur den Schein ei­ner Nei­gung, es zu hö­ren, an den Tag zu le­gen, las »Ka­pi­tän Hop­kins« mit lau­ter so­no­rer Stim­me Wort für Wort vor. Wenn es zwan­zig­tau­send Leu­te hät­ten hö­ren wol­len, ei­ner nach dem an­de­ren, der Ka­pi­tän wür­de es zwan­zig­tau­send­mal vor­ge­le­sen ha­ben. Ich weiß noch, mit wel­chem Wohl­be­ha­gen er ge­wis­se Phra­sen, wie: »Die im Par­la­ment ver­sam­mel­ten Ver­tre­ter des Volks«, oder »die Bitt­stel­ler na­hen sich de­mü­tigst Ihrem hoch­an­sehn­li­chen Hau­se«, »Eu­rer huld­rei­chen Ma­je­stät un­glück­li­che Un­ter­ta­nen«, zer­kau­te, als ob die­se Wor­te in sei­nem Mun­de zu et­was Rea­lem von köst­li­chem Ge­schma­cke wür­den, wäh­rend Mr. Mi­ca­w­ber mit ein biss­chen Au­to­re­nei­tel­keit und nicht all­zu stren­gem Blick die ei­ser­nen Spit­zen des ge­gen­über­lie­gen­den Ge­fäng­nis­git­ters be­trach­te­te.

David Copperfield

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