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8. Kapitel – Meine Ferien – Ein glücklicher Nachmittag

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Als wir vor Ta­ge­s­an­bruch vor dem Gast­hof hiel­ten, aber nicht vor dem, wo mein Freund, der Kell­ner diente, wies man mir ein klei­nes, hüb­sches Schlaf­zim­mer zu, über des­sen Türe »Del­phin« stand. Ich fror sehr trotz des hei­ßen Tees, den sie mir un­ten vor ei­nem großen Feu­er ein­ge­schenkt hat­ten, und leg­te mich gern in das Bett des »Del­phins«, wi­ckel­te mich in die Bett­de­cke des »Del­phins« und schlief ein.

Mr. Bar­kis, der Fuhr­mann, soll­te mich mor­gen früh um neun Uhr ab­ho­len. Ich stand um acht Uhr auf, ein we­nig ver­schla­fen nach dem kur­z­en Schlum­mer, und war­te­te auf ihn noch lan­ge vor der Zeit. Er nahm mich auf, als ob seit un­serm letz­ten Zu­sam­men­sein nicht fünf Mi­nu­ten ver­stri­chen wä­ren und ich bloß in den Gast­hof ge­gan­gen sei, um Klein­geld ein­zu­wech­seln.

So­bald ich und mein Kof­fer im Wa­gen wa­ren und er sei­nen Platz ein­ge­nom­men hat­te, setz­te sich das fau­le Pferd in sei­nen ge­wohn­ten Trott.

»Sie se­hen sehr gut aus, Mr. Bar­kis«, fing ich an.

Mr. Bar­kis rieb sich sei­ne Ba­cken mit dem Är­mel und sah dann hin, als ob er dar­auf die Blü­te sei­nes Ge­sichts ab­ge­färbt zu se­hen er­war­te­te. Wei­ter gab er kein Zei­chen der Aner­ken­nung mei­nes Kom­pli­ments von sich.

»Ich habe Ihren Auf­trag aus­ge­rich­tet, Mr. Bar­kis«, sag­te ich, »und an Peg­got­ty ge­schrie­ben.«

»Hm«, mein­te Mr. Bar­kis.

Er schi­en ver­drieß­lich zu sein und ant­wor­te­te sehr kurz.

»Wars nicht rich­tig, Mr. Bar­kis?« frag­te ich nach ei­ni­gem Zö­gern.

»Nun, nein«, sag­te Bar­kis.

»Falsch aus­ge­rich­tet?«

»Aus­ge­rich­tet wars schon gut«, sag­te Mr. Bar­kis, »aber dann wars aus.«

Da ich nicht ver­stand, was er mein­te, wie­der­hol­te ich fra­gend:

»Dann wars aus, Mr. Bar­kis?«

»Wur­de nichts draus«, er­klär­te er und blick­te mich von der Sei­te an. »Kei­ne Ant­wort.«

»Sie er­war­te­ten also eine Ant­wort, Mr. Bar­kis?« sag­te ich und riss die Au­gen auf, denn das kam mir ganz über­ra­schend.

»Wenn ein Mensch sagt, er will«, sag­te Mr. Bar­kis und wen­de­te sei­ne Au­gen lang­sam wie­der auf mich, »heißts doch so viel wie, man war­tet auf Ant­wort.«

»Wirk­lich, Mr. Bar­kis?«

»Wirk­lich«, sag­te Mr. Bar­kis und ziel­te mit den Au­gen nach den Pfer­deoh­ren. »Der Mensch war­tet im­mer noch auf die Ant­wort.«

»Ha­ben Sie ihr das ge­sagt, Mr. Bar­kis?«

»Hm«, brumm­te Mr. Bar­kis und dach­te dar­über nach. »Hab mich noch nicht ent­schlos­sen. Sprach noch kei­ne sechs Wor­te mit ihr. Kanns ihr nicht sa­gen.«

»Soll ichs ihr viel­leicht sa­gen, Mr. Bar­kis?« frag­te ich schüch­tern.

»Könn­ten s schon, wenn Sie woll­ten«, sag­te Mr. Bar­kis wie­der mit ei­nem lang­sa­men Blick zu mir. »Dass Bar­kis auf Ant­wort war­tet. Hm, wie ist doch der Name?«

»Ihr Name?«

»Hm«, sag­te Mr. Bar­kis mit ei­nem Kopf­ni­cken.

»Peg­got­ty.«

»Tauf­na­me, Vor­na­me?« frag­te Mr. Bar­kis.

»Nein, das ist nicht ihr Tauf­na­me. Ihr Vor­na­me ist Kla­ra.«

»So«, sag­te Mr. Bar­kis.

Mei­ne Ant­wort schi­en ihn au­ßer­or­dent­lich stark zum Nach­den­ken an­zu­re­gen, denn er saß lan­ge grü­belnd da und pfiff in­ner­lich.

»Hm«, fing er end­lich wie­der an, »sa­gen Sie Peg­got­ty: Bar­kis war­tet; und sagt sie, wor­auf? sa­gen Sie: auf Ant­wort. Sagt sie: wor­auf? sa­gen Sie: Bar­kis will.«

Die­se au­ßer­or­dent­lich knap­pe Er­klä­rung be­glei­te­te Mr. Bar­kis mit ei­nem freund­schaft­li­chen Rip­pen­stoß, dass mir die Sei­te weh tat. Da­rauf hock­te er wie­der wie ge­wöhn­lich ru­hig auf sei­nem Platz und blieb in die­ser Stel­lung, bis er eine hal­be Stun­de spä­ter ein Stück Krei­de aus der Ta­sche hol­te und in­nen an die Wa­gen­de­cke schrieb: Kla­ra Peg­got­ty –. Of­fen­bar als Pri­vat­no­tiz.

Was für ein selt­sa­mes Ge­fühl, sich der Hei­mat zu nä­hern, die ei­nem fremd ge­wor­den ist! Je­der Ge­gen­stand, den man er­blickt, er­in­nert einen an das alte, lie­be Va­ter­haus. Es kam mir al­les wie ein Traum vor, den ich nie mehr wie­der träu­men könn­te. Die Tage, wo mei­ne Mut­ter, ich und Peg­got­ty ein­an­der al­les wa­ren und noch nie­mand sich zwi­schen uns ge­drängt hat­te, er­stan­den un­ter­wegs vor mei­nen Au­gen mit so trau­ri­gen Erin­ne­run­gen, dass ich am liebs­ten um­ge­kehrt wäre und in Steer­forths Ge­sell­schaft ver­ges­sen hät­te. Aber ich war jetzt an­ge­kom­men und stand bald vor un­serm Hau­se, wo die kah­len, al­ten Ul­men ihre vie­len Hän­de in die kal­te Win­ter­luft hin­aus­streck­ten und Fet­zen von den al­ten Krä­hen­nes­tern vom Win­de fort­ge­weht wur­den.

Der Fuhr­mann lud mei­nen Kof­fer an der Gar­ten­tür ab und ver­ließ mich. Ich ging den Fuß­steig nach dem Hau­se zu, sah nach den Fens­tern und fürch­te­te je­den Au­gen­blick, Mr. oder Miss Murd­sto­ne zu er­bli­cken. Es zeig­te sich je­doch kein Ge­sicht, und ich trat lei­se und schüch­tern ein.

Gott weiß, aus wie frü­her Kind­heit die Erin­ne­rung stam­men muss­te, die beim Klang der Stim­me mei­ner Mut­ter wie­der wach wur­de, als ich den Fuß in den Flur setz­te. Sie sang lei­se. Ich glau­be, ich muss in ih­ren Ar­men ge­le­gen und sie so sin­gen hö­ren ha­ben, als ich noch ein Säug­ling war. Das Lied kam mir neu und doch so alt vor, dass es mein Herz zum Über­strö­men er­füll­te. Es war mir wie ein al­ter Freund, der nach lan­ger Ab­we­sen­heit zu­rück­kehrt.

Aus der Wei­se, wie mei­ne Mut­ter das Lied sang, schloss ich, dass sie al­lein sei, und ich trat lei­se ins Zim­mer. Sie saß beim Feu­er und säug­te ein Kind, des­sen win­zi­ge Händ­chen an ih­rem Hal­se ruh­ten. Ihre Au­gen hin­gen an sei­nem Ge­sicht und sie sang ihm et­was vor. Ich sah so­fort, dass sie al­lein war.

Ich sprach sie an. Sie fuhr auf und stieß einen Schrei aus. Aber als sie mich er­kann­te, nann­te sie mich ih­ren lie­ben Davy, ihr ge­lieb­tes Kind, kam mir ent­ge­gen, knie­te vor mir nie­der und küss­te mich und leg­te mei­nen Kopf an ihre Brust ne­ben das klei­ne We­sen, das sich an sie an­klam­mer­te, und leg­te sei­ne Händ­chen an mei­ne Lip­pen.

Ich woll­te, ich wäre ge­stor­ben mit die­sem Ge­fühl im Her­zen. Ich hät­te bes­ser für den Him­mel ge­passt, als je­mals spä­ter.

»Es ist dein Brü­der­chen«, sag­te mei­ne Mut­ter und lieb­kos­te mich. »Davy, mein hüb­scher Jun­ge, mein ar­mes Kind.« Dann küss­te sie mich im­mer mehr und mehr und um­schlang mei­nen Na­cken. Dann kam Peg­got­ty her­ein­ge­lau­fen, warf sich auf dem Bo­den ne­ben uns hin und war eine Vier­tel­stun­de lang halb von Sin­nen. Man hat­te mich nicht so zei­tig er­war­tet, und der Fuhr­mann war frü­her an­ge­kom­men als ge­wöhn­lich. Mr. und Miss Murd­sto­ne be­fan­den sich in der Nach­bar­schaft auf Be­such und wür­den, er­fuhr ich, nicht vor Abend zu­rück­kom­men. Das hat­te ich nicht zu hof­fen ge­wagt. Ich hät­te es nie für mög­lich ge­hal­ten, dass wir drei wür­den wie­der ein­mal un­ge­stört bei­sam­men sein kön­nen, und für dies eine Mal wa­ren für mich die al­ten ver­gang­nen Zei­ten zu­rück­ge­kehrt.

Wir speis­ten zu­sam­men beim Ka­min. Peg­got­ty woll­te uns be­die­nen, aber mei­ne Mut­ter litt es nicht, und sie muss­te sich mit zu Tisch set­zen. Ich hat­te mei­nen al­ten Tel­ler wie­der mit ei­nem brau­nen Kriegs­schiff un­ter vol­len Se­geln dar­auf, den Peg­got­ty sorg­fäl­tig auf­ge­ho­ben und für hun­dert Pfund nicht zer­bro­chen hät­te, wie sie sag­te. Ich hat­te mei­nen al­ten Trink­be­cher mit dem Na­men »Da­vid« drauf und mein al­tes Be­steck, das noch im­mer stumpf war.

Als wir bei Ti­sche sa­ßen, hielt ich es für den ge­eig­nets­ten Mo­ment, Mr. Bar­kis’ Auf­trag aus­zu­rich­ten. Ehe ich da­mit zu Ende kam, fing Peg­got­ty an zu la­chen und hielt die Schür­ze vors Ge­sicht.

»Peg­got­ty«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Was gibts denn?«

Peg­got­ty lach­te nur noch mehr und hielt ihre Schür­ze noch fes­ter vors Ge­sicht, als mei­ne Mut­ter sie weg­zie­hen woll­te. Sie saß da wie mit dem Kopf in ei­nem Sack.

»Was hast du denn, du dum­mes Ding?« frag­te mei­ne Mut­ter la­chend.

»Ach, der al­ber­ne Mensch«, rief Peg­got­ty. »Er will mich hei­ra­ten.«

»Wäre das nicht eine ganz gute Par­tie für dich?« frag­te mei­ne Mut­ter.

»Ach, ich weiß nicht«, sag­te Peg­got­ty. »Fra­gen Sie mich nicht. Ich möcht ihn nicht ha­ben, und wenn er von Gold wäre. Ich will über­haupt nie­mand ha­ben.«

»Also warum sagst dus ihm nicht, du kin­di­sches Ding?«

»Ihm sa­gen«, mein­te Peg­got­ty und sah un­ter ih­rer Schür­ze her­vor. »Er hat noch nie ein Wort da­von er­wähnt, er weiß ganz gut, warum. Wenn er sichs un­ter­ste­hen wür­de, würd ich ihm eine Ohr­fei­ge ge­ben.«

Ihr Ge­sicht war rö­ter, als ich es je ge­se­hen hat­te. Sie deck­te es gleich wie­der zu und brach in ein hef­ti­ges La­chen aus; und nach­dem sich die­ser An­fall zwei- oder drei­mal wie­der­holt hat­te, aß sie ru­hig wei­ter. Ich be­merk­te, dass mei­ne Mut­ter wohl lä­chel­te, wenn Peg­got­ty sie an­sah, aber im­mer erns­ter und nach­denk­li­cher wur­de. Mir war gleich auf­ge­fal­len, wie sehr sie sich ver­än­dert hat­te. Ihr Ge­sicht war im­mer noch sehr hübsch, aber es schi­en all­zu zart und sehr ver­grämt. Ihre Hand war so weiß und dünn, dass sie mir fast durch­sich­tig vor­kam. Aber jetzt trat noch eine an­de­re Ver­än­de­rung dazu, wie mir auf­fiel. Sie schi­en näm­lich sehr be­klom­men und auf­ge­regt. End­lich leg­te sie ihre Hand lie­be­voll auf die ih­rer al­ten Die­ne­rin und sag­te: »Lie­be Peg­got­ty, du ver­hei­ra­test dich jetzt nicht?«

»Ich, Ma’am«, er­wi­der­te Peg­got­ty und sah sie mit großen Au­gen an, »Gott be­wah­re, nein.«

»Jetzt noch nicht«, bat mei­ne Mut­ter zärt­lich.

»Nie«, rief Peg­got­ty aus.

Mei­ne Mut­ter er­griff ihre Hand und sag­te:

»Ver­lass mich nicht, Peg­got­ty; blei­be bei mir. Es wird viel­leicht nicht mehr lang nö­tig sein. Was soll­te ich ohne dich an­fan­gen!«

»Ich dich ver­las­sen, Herz­blatt«, rief Peg­got­ty. »Nicht um den gan­zen Erd­ball und sei­ne Frau. Wer hat das nur in das klei­ne tö­rich­te Köpf­chen ge­setzt?« Peg­got­ty war aus al­ter Zeit her ge­wohnt, mit mei­ner Mut­ter manch­mal wie mit ei­nem Kin­de zu spre­chen.

Mei­ne Mut­ter gab ihr kei­ne Ant­wort au­ßer ei­nem ein­fa­chen »Dank dir.«

»Ich Sie ver­las­sen? Das möcht ich se­hen. Peg­got­ty von Ih­nen fort­ge­hen, da möch­te ich sie mir beim Kra­gen neh­men. Nein, nein«, und Peg­got­ty schüt­tel­te den Kopf und ver­schränk­te die Arme. »Peg­got­ty nicht, mein Schatz. Frei­lich sind ein paar Kat­zen da, die sich drü­ber freu­en wür­den, aber sie sol­len sich nicht freu­en. Sie sol­len sich nur är­gern. Ich blei­be bei Ih­nen, bis ich ein al­tes buck­li­ges Weib bin. Und wenn ich zu taub und zu lahm und zu blind bin und eine Mum­mel­grei­sin ohne Zäh­ne, so geh ich zu mei­nem Davy und bit­te ihn, mich auf­zu­neh­men.«

»Und ich, Peg­got­ty«, sag­te ich, »ich wer­de froh sein, wenn du kommst, und wer­de dich emp­fan­gen wie eine Kö­ni­gin.«

»Gott seg­ne das gute Herz!« rief Peg­got­ty. »Ich weiß es ja.« Und sie küss­te mich schon im Voraus in dank­ba­rer Er­kennt­lich­keit für mei­ne künf­ti­ge Gast­freund­schaft. Dann deck­te sie sich wie­der das Ge­sicht mit der Schür­ze zu und lach­te noch ein­mal über Mr. Bar­kis; nahm dann das Baby aus der Wie­ge und schau­kel­te es, räum­te den Mit­tags­tisch ab und kam in ei­ner an­de­ren Hau­be her­ein mit ih­rem Ar­beits­käst­chen, dem El­len­maß und dem Stück­chen Wachs­licht. Ganz wie ehe­mals.

Wir sa­ßen beim Ka­min und un­ter­hiel­ten uns köst­lich. Ich er­zähl­te ih­nen von Mr. Cre­akles Stren­ge, und sie be­dau­er­ten mich sehr. Ich er­zähl­te ih­nen, was für ein fa­mo­ser Bur­sche Steer­forth sei und wie er mich in Schutz neh­me, und Peg­got­ty sag­te, sie wür­de zwan­zig Mei­len weit ge­hen, um ihn zu se­hen. Ich nahm den Säug­ling, als er wie­der auf­wach­te, auf mei­ne Arme und wieg­te ihn zärt­lich. Als er wie­der schlief, setz­te ich mich dicht ne­ben mei­ne Mut­ter, wie ehe­mals, und schlang die Arme um ih­ren Leib, leg­te mei­ne klei­ne rote Wan­ge auf ihre Schul­ter und fühl­te wie­der ihr schö­nes Haar mich um­we­hen wie ein En­gels­fit­tich und war sehr glück­lich. Wäh­rend ich so da­saß und ins Feu­er blick­te und al­ler­hand Bil­der in den glü­hen­den Koh­len sah, kam es mir fast vor, als wäre ich nie­mals von zu Hau­se weg ge­we­sen, und Mr. und Miss Murd­sto­ne er­schie­nen mir wie Ge­stal­ten, die ver­schwin­den müss­ten, wenn das Feu­er aus­gin­ge, und von al­len mei­nen Erin­ne­run­gen sei nichts wahr und wirk­lich, au­ßer mei­ner Mut­ter, Peg­got­ty und mir selbst.

Peg­got­ty stopf­te, so­lan­ge sie noch se­hen konn­te, und saß dann da, den Strumpf wie einen Hand­schuh über die lin­ke Hand ge­zo­gen und die Na­del in der an­de­ren, be­reit, so­fort wie­der an­zu­fan­gen, so­bald Licht kom­men wür­de. Ich kann mir nicht er­klä­ren, wes­sen St­rümp­fe Peg­got­ty ei­gent­lich im­mer flick­te, und wo­her die­se Un­mas­sen von not­lei­den­den St­rümp­fen nur ka­men.

»Ich möch­te ger­ne wis­sen«, sag­te Peg­got­ty, über die manch­mal ein An­fall selt­sa­men Wis­sens­durs­tes, ganz un­er­war­te­te Din­ge be­tref­fend, kam, »was aus Da­vys Groß­tan­te ge­wor­den ist.«

»Gott, Peg­got­ty«, be­merk­te mei­ne Mut­ter und er­wach­te wie aus ei­nem Traum, »was du für dum­mes Zeug re­dest.«

»Nun ja, aber ich möcht es doch gern wis­sen, Ma’am«, sag­te Peg­got­ty.

»Wie kann dir nur so je­mand in den Kopf kom­men? Kannst du dir nie­mand an­ders aus­su­chen?«

»Ich weiß nicht, wies kommt«, mein­te Peg­got­ty, »es liegt wahr­schein­lich an mei­ner Ein­fäl­tig­keit. Aber mein Kopf kann sich die Leu­te nicht aus­su­chen. Sie kom­men und ge­hen und sie kom­men nicht oder blei­ben, ge­ra­de, wies ih­nen ge­fällt. Ich möch­te wirk­lich ger­ne wis­sen, was aus ihr ge­wor­den ist.«

»Wie al­bern du nur bist, Peg­got­ty. Man soll­te wirk­lich mei­nen, du wünsch­test wie­der einen Be­such von ihr.«

»Gott sei vor«, rief Peg­got­ty.

»Also sprich nicht von sol­chen läs­ti­gen Din­gen«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Miss Betsey sitzt ge­wiss in ih­rem Häu­schen am Meer und geht gar nicht aus. Je­den­falls wird sie uns schwer­lich noch ein­mal heim­su­chen.«

»Nein«, gab Peg­got­ty nach­denk­lich zu, »nein, das ist nicht wahr­schein­lich. Ich möch­te nur wis­sen, ob sie Davy et­was ver­macht, wenn sie stirbt.«

»Ach Gott im Him­mel, Peg­got­ty!« rief mei­ne Mut­ter. »Was du für ein ein­fäl­ti­ges Frau­en­zim­mer bist. Du weißt doch selbst, wie übel sie es nahm, dass das lie­be Kind ge­bo­ren wur­de.«

»Aber viel­leicht wür­de sie es ihm jetzt ver­zei­hen«, be­merk­te Peg­got­ty.

»Wa­rum soll­te sie es ihm ge­ra­de jetzt ver­zei­hen?« frag­te mei­ne Mut­ter ein we­nig ge­reizt.

»Nun, weil er jetzt einen Bru­der be­kom­men hat«, mein­te Peg­got­ty.

Mei­ne Mut­ter fing so­fort an zu wei­nen und jam­mer­te, dass Peg­got­ty so et­was sa­gen könn­te.

»Als ob das klei­ne We­sen in der Wie­ge dir oder sonst je­mand et­was zu­lei­de ge­tan hät­te, du ei­fer­süch­ti­ges Ding. Geh, hei­ra­te doch Mr. Bar­kis, den Fuhr­mann. Wa­rum tust du es denn nicht?«

»Ich wür­de Miss Murd­sto­ne glück­lich ma­chen, wenn ichs täte.«

»Was für einen schlech­ten Cha­rak­ter du hast, Peg­got­ty«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter. »Du bist auf Miss Murd­sto­ne so ei­fer­süch­tig, wie es ein so al­ber­nes Ding nur sein kann. Du willst wohl selbst die Schlüs­sel ha­ben und al­les her­aus­ge­ben, nicht wahr? Es wür­de mich nicht wun­dern, wenn es so wäre. Du weißt doch, dass sie es nur aus Güte und mit der bes­ten Ab­sicht tut. Das weißt du, Peg­got­ty, – weißt es recht gut.«

Peg­got­ty brumm­te et­was vor sich hin, das so klang wie: »Zum Teu­fel mit den bes­ten Ab­sich­ten.«

»Ich weiß schon, was du meinst, du ver­rück­tes Frau­en­zim­mer. Ich durch­schaue dich voll­kom­men, Peg­got­ty. Du weißt, dass ich es tue, und wun­de­re mich nur, dass du nicht feu­er­rot da­bei wirst. Aber neh­men wir eins nach dem an­de­ren vor. Zu­erst Miss Murd­sto­ne. Dies­mal sollst du mir nicht ent­schlüp­fen. Hast du nicht oft ge­nug von ihr ge­hört, dass sie denkt, ich sei zu ge­dan­ken­los und zu – zu –«

»– hübsch«, er­gänz­te Peg­got­ty.

»Nun mei­net­we­gen«, gab mei­ne Mut­ter lä­chelnd zu. »Und wenn sie tö­richt ge­nug ist, das zu sa­gen, kann man sie doch des­we­gen nicht ta­deln.«

»Das tut doch nie­mand«, knurr­te Peg­got­ty.

»Nun, das will ich auch mei­nen«, ent­geg­ne­te mei­ne Mut­ter. »Hast du nicht im­mer und im­mer von ihr ge­hört, dass sie mir des­halb vie­le Ar­beit er­spa­ren will, für die sie mich für un­ge­eig­net hält, und ich mich auch, du weißt, wie sie früh und spät auf den Bei­nen ist und be­stän­dig auf und ab läuft –. Und macht sie nicht jede Ar­beit, – kriecht in al­len Win­keln, in Koh­len­kel­lern und Spei­se­kam­mern um­her, was doch nicht an­ge­nehm ist! Und willst du durch die Blu­me zu ver­ste­hen ge­ben, dass dar­in et­was an­de­res als Auf­op­fe­rung läge?«

»Ich gebe über­haupt nichts durch die Blu­me zu ver­ste­hen«, sag­te Peg­got­ty.

»Du tust es doch, Peg­got­ty«, ent­geg­ne­te mei­ne Mut­ter. »Du tust nie et­was an­de­res. Au­ßer dei­ne Ar­beit. Du sprichst im­mer durch die Blu­me. Du schwelgst dar­in. Und wenn du von Mr. Murd­sto­nes gu­ten Ab­sich­ten sprichst –«

»Von de­nen hab ich noch nie ge­spro­chen«, un­ter­brach Peg­got­ty.

»Nein, Peg­got­ty«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter. »Aber du spielst auf sie an. Das ist doch, was ich sage. Das ist das Al­ler­schlimms­te an dir. Du willst durch die Blu­me spre­chen. Ich habe dir eben ge­sagt, dass ich dich durch­schaue, und du siehst, es ist so. Wenn du von Mr. Murd­sto­nes gu­ten Ab­sich­ten sprichst und sie zu un­ter­schät­zen vor­gibst, – das kann üb­ri­gens nicht dein Ernst sein, Peg­got­ty, – so musst du doch eben­so wie ich ein­se­hen, wie för­der­lich sie sind. Wenn er manch­mal barsch ge­gen ir­gend­je­mand ist, Peg­got­ty, – du weißt na­tür­lich und ich hof­fe, auch Davy weiß es, dass ich nicht von An­we­sen­den spre­che, – so ge­schieht es nur, weil er über­zeugt ist, dass es zum Bes­ten des Be­tref­fen­den ist. Er liebt na­tür­lich den Be­tref­fen­den mei­net­we­gen und han­delt le­dig­lich zu sei­nem Bes­ten. Er kann das eben bes­ser be­ur­tei­len als ich, denn ich weiß recht gut, dass ich ein schwa­ches, leicht­sin­ni­ges, kin­di­sches Ge­schöpf bin, wäh­rend er ein fes­ter, erns­ter Mann ist. Und er hat sehr viel mit mir aus­zu­ste­hen«, fuhr mei­ne Mut­ter fort, und die Trä­nen, die ih­rem lie­be­be­dürf­ti­gen Her­zen ent­spran­gen, ran­nen ihr die Wan­gen her­ab; »ich muss ihm sehr dank­bar und selbst in mei­nen Ge­dan­ken sehr un­ter­wür­fig sein. Und wenn ich es nicht bin, Peg­got­ty, so quält mich das, und ich ver­ur­tei­le mich selbst und ma­che mir Vor­wür­fe über mein schlech­tes Herz und weiß nicht, was ich an­fan­gen soll.«

Peg­got­ty saß da, das Kinn auf die mit dem Strumpf über­zo­ge­ne Faust ge­stützt und blick­te stumm ins Feu­er.

»Also, lie­be Peg­got­ty«, sag­te mei­ne Mut­ter mit plötz­lich ganz ver­än­der­tem Ton, »sei­en wir wie­der gut, denn ich könn­te es nicht aus­hal­ten.«

»Ich weiß ja, du bist mei­ne treues­te Freun­din, wenn ich auf der Welt über­haupt noch eine an­de­re habe. Wenn ich dich ein ein­fäl­ti­ges oder al­ber­nes Ding nann­te, Peg­got­ty, woll­te ich da­mit nur sa­gen, dass du mei­ne treues­te Freun­din bist und warst, schon von je­nem Abend an, als Mr. Cop­per­field mich zu­erst hier­her­brach­te und du mir an der Gar­ten­tü­re ent­ge­gen­kamst.«

Peg­got­ty ließ mit der Ant­wort nicht auf sich war­ten und be­sie­gel­te den Ver­trag, in­dem sie mich mit ei­ner ih­rer kräf­tigs­ten Umar­mun­gen be­glück­te.

Ich glau­be, ich hat­te da­mals schon eine lei­se Ah­nung von dem wah­ren Sinn die­ser Un­ter­hal­tung. Heu­te weiß ich ganz ge­nau, dass die gute Per­son das Ge­spräch nur ver­an­lass­te, um mei­ner Mut­ter durch klei­ne Wi­der­sprü­che eine ge­wis­se Er­leich­te­rung zu ver­schaf­fen. Die Wir­kung war sicht­lich, denn wie ich mich noch er­in­ne­re, schi­en mei­ne Mut­ter den gan­zen üb­ri­gen Tag viel hei­te­rer und Peg­got­ty brauch­te sie nicht mehr so sor­gen­voll an­zu­se­hen.

Nach­dem wir Tee ge­trun­ken, das Feu­er ge­schürt und die Ker­zen ge­putzt hat­ten, las ich Peg­got­ty zur Erin­ne­rung an alte Zei­ten ein Ka­pi­tel aus dem Kro­ko­dil­buch vor, – sie hat­te es aus der Ta­sche ge­zo­gen. Ob sie es im­mer dar­in ge­tra­gen hat­te? – Und dann spra­chen wir von Sa­lem­haus, was mich wie­der auf Steer­forth brach­te, mein Lieb­lings­the­ma. Wir fühl­ten uns alle sehr glück­lich, und die­ser Abend, der letz­te in sei­ner Art und be­stimmt, die­sen Band mei­nes Le­bens für im­mer zu schlie­ßen, wird nie aus mei­nem Ge­dächt­nis ent­schwin­den.

Es war fast zehn Uhr, als wir drau­ßen einen Wa­gen hal­ten hör­ten. Wir stan­den alle auf und mei­ne Mut­ter sag­te has­tig, Mr. und Miss Murd­sto­ne sä­hen es ger­ne, wenn jun­ge Leu­te früh zu Bett gin­gen, und es sei schon spät. Ich küss­te sie und ging so­gleich mit mei­ner Ker­ze hin­auf. Mir war, als ob mit den bei­den ein er­kal­ten­der Luft­hauch in das Haus käme und das alte, hei­mi­sche, trau­te Ge­fühl wie eine Fe­der da­von­blie­se.

Ich fühl­te mich sehr un­be­hag­lich am nächs­ten Mor­gen, als ich zum Früh­stück hin­un­ter­ge­hen muss­te. Hat­te ich doch Mr. Murd­sto­ne seit je­nem Tag, als ich das große Ver­bre­chen an ihm be­gan­gen, nicht wei­ter ge­se­hen. Aber ein­mal muss­te es ge­sche­hen, und ich er­reich­te die Stu­ben­tür, nach­dem ich zwei- bis drei­mal auf den Fuß­spit­zen wie­der um­ge­kehrt war. End­lich trat ich ins Zim­mer.

Er stand mit dem Rücken zum Ka­min, wäh­rend Miss Murd­sto­ne den Tee be­rei­te­te. Er sah mich durch­drin­gend an, als ich ein­trat, gab aber kein Er­ken­nungs­zei­chen von sich. Nach ei­ni­gen Au­gen­bli­cken der Ver­wir­rung ging ich auf ihn zu und sag­te: »Ich bit­te Sie um Ver­zei­hung, Sir. Was ich ge­tan habe, tut mir au­ßer­or­dent­lich leid, und ich hof­fe, dass Sie es mir ver­ge­ben.«

»Es freut mich, dass es dir leid tut, Da­vid«, ant­wor­te­te er.

Die Hand, die er mir reich­te, war die, die ich ge­bis­sen hat­te.

Ich konn­te mir nicht hel­fen, ich muss­te die rote Nar­be eine Zeit lang an­se­hen. Aber sie war nicht so rot wie ich, als ich sei­nem falschen Blick be­geg­ne­te.

»Wie be­fin­den Sie sich, Ma’am«, sag­te ich zu Miss Murd­sto­ne.

»Ach mein Gott!« seufz­te Miss Murd­sto­ne und reich­te mir den Tee­löf­fel statt ih­res Fin­gers. »Wie lang dau­ern die Fe­ri­en?«

»Ei­nen Mo­nat, Ma’am.«

»Von wann an?«

»Von heu­te an, Ma’am.«

»Na«, sag­te Miss Murd­sto­ne. »Das wäre ja schon ein Tag we­ni­ger.«

Sie führ­te in die­ser Art einen Fe­ri­en­ka­len­der und strich an je­dem Mor­gen einen Tag. An­fangs schnitt sie ein be­trüb­tes Ge­sicht, so­lan­ge sie noch nicht beim zehn­ten war, aber ihre Mie­nen hell­ten sich auf, als die zwei­stel­li­gen Zah­len er­reicht wa­ren, und wur­den umso hei­te­rer, je nä­her das Ende her­an­rück­te.

Schon am ers­ten Tag hat­te ich das Un­glück, sie in einen Zu­stand größ­ter Auf­re­gung zu ver­set­zen, trotz­dem sie sol­chen Schwä­chen sonst nicht un­ter­wor­fen war. Ich kam näm­lich in das Zim­mer, wo sie und mei­ne Mut­ter sa­ßen, und da der Säug­ling, der erst ein paar Wo­chen alt, auf mei­ner Mut­ter Schoß lag, nahm ich ihn höchst sorg­sam in mei­ne Arme.

Plötz­lich stieß Miss Murd­sto­ne einen sol­chen Schrei aus, dass ich ihn fast hät­te fal­len las­sen.

»Lie­be Jane!« fuhr mei­ne Mut­ter auf.

»Gott im Him­mel, Kla­ra! Siehst du nicht?« rief Miss Murd­sto­ne aus.

»Was denn, lie­be Jane«, frag­te mei­ne Mut­ter. »Wo denn?«

»Er hat es!« rief Miss Murd­sto­ne. »Der Jun­ge hat das Baby.«

Sie brach fast zu­sam­men vor Ent­set­zen, rich­te­te sich aber wie­der auf, um auf mich los­zu­stür­zen und mir das Kind zu ent­rei­ßen. Dann wur­de ihr so schlecht, dass man ihr Kirsch­brannt­wein ge­ben muss­te. Als sie sich wie­der er­holt hat­te, un­ter­sag­te sie mir auf das fei­er­lichs­te, mein Brü­der­chen je­mals wie­der, un­ter wel­chem Vor­wand im­mer, an­zu­rüh­ren, und mei­ne Mut­ter be­stä­tig­te de­mü­tig das Ver­bot, trotz­dem sie mir an­de­rer Mei­nung schi­en, und sag­te: »Du hast ge­wiss recht, lie­be Jane.«

Wie­de­r­um bei ei­ner Ge­le­gen­heit, als wir bei­sam­men sa­ßen, war das Baby – ich hat­te es lieb mei­ner Mut­ter we­gen – wie­der die un­schul­di­ge Ur­sa­che, die Miss Murd­sto­ne in hef­tigs­te Er­re­gung ver­setz­te. Mei­ne Mut­ter sag­te näm­lich, nach­dem sie die Au­gen des Säug­lings in ih­rem Scho­ße lan­ge be­trach­tet hat­te: »Davy, komm ein­mal her und lass mich dei­ne Au­gen se­hen.«

Ich be­merk­te, wie Miss Murd­sto­ne ihre Stahl­per­len hin­leg­te.

»Also ich er­klä­re«, sag­te mei­ne Mut­ter sanft, »dass sie voll­kom­men gleich sind. Ich glau­be, es sind mei­ne Au­gen. Sie ha­ben die­sel­be Far­be wie mei­ne. Sie sind ein­an­der wun­der­bar gleich.«

»Wo­von sprichst du, Kla­ra?« frag­te Miss Murd­sto­ne.

»Lie­be Jane«, stam­mel­te mei­ne Mut­ter be­stürzt durch den her­ben Ton die­ser Fra­ge, »ich fin­de, dass das Baby und Davy ganz die­sel­ben Au­gen ha­ben.«

»Kla­ra«, sag­te Miss Murd­sto­ne und stand zor­nig auf. »Manch­mal bist du ganz ver­rückt.«

»Aber lie­be Jane«, re­mons­trier­te mei­ne Mut­ter.

»Voll­stän­dig ver­rückt«, sag­te Miss Murd­sto­ne. »Wie könn­test du sonst mei­nes Bru­ders Kind mit dei­nem Jun­gen ver­glei­chen. Sie sind ein­an­der gar nicht ähn­lich. Sie sind ein­an­der voll­stän­dig un­ähn­lich. Un­ähn­lich in je­der Hin­sicht. Ich hof­fe, sie wer­den es im­mer blei­ben. Ich kann sol­che Ver­glei­che nicht ru­hig mit an­hö­ren.« Da­mit stol­zier­te sie hin­aus und pfef­fer­te die Tür hin­ter sich zu.

Mit ei­nem Wort, ich stand mit Miss Murd­sto­ne nicht auf gu­tem Fuß. Über­haupt mit nie­mand, nicht ein­mal mit mir selbst. Die mich lieb hat­ten, durf­ten es nicht zei­gen, und die mich nicht lei­den konn­ten, zeig­ten es so deut­lich, dass ich mich von dem im­mer­wäh­ren­den Be­wusst­sein, duck­mäu­se­risch, un­ge­schickt und mür­risch zu er­schei­nen, nicht be­frei­en konn­te.

Ich fühl­te, dass ich ih­nen so zur Last fiel, wie sie mir. Wenn ich in das Zim­mer kam, wo sie ge­ra­de sa­ßen und mit­ein­an­der spra­chen, und mei­ne Mut­ter schi­en hei­ter zu sein, um­wölk­te sich so­fort ihr Ge­sicht. War Mr. Murd­sto­ne in sei­ner bes­ten Lau­ne, so kam ich als Stö­ren­fried. Und Miss Murd­sto­nes schlech­tes­te stei­ger­te ich noch. Ich be­merk­te ganz gut, dass mei­ne Mut­ter im­mer das Op­fer war. Sie fürch­te­te sich, mit mir zu spre­chen oder freund­lich mit mir zu sein, um sich da­durch nicht einen Ver­weis zu­zu­zie­hen. Haupt­säch­lich aber nicht ih­ret­we­gen, son­dern um mich bang­te sie. Und ängst­lich be­wach­te sie die Bli­cke der Murd­sto­nes, wenn ich mich nur rühr­te. Des­halb be­schloss ich, al­len mög­lichst aus dem Wege zu ge­hen, und saß man­che kal­te Win­ter­stun­de in mei­nem ein­sa­men Schlaf­zim­mer und brü­te­te, in mei­nen klei­nen Über­rock gehüllt, über ei­nem Buch.

Des Abends leis­te­te ich zu­wei­len Peg­got­ty in der Kü­che Ge­sell­schaft. Dort fühl­te ich mich wohl und brauch­te mich nicht zu ge­nie­ren. Aber das fand im Wohn­zim­mer kei­ne Bil­li­gung. Die dort herr­schen­de Quä­ler­lau­ne mach­te all dem bald ein Ende. Man hielt mich im­mer noch für ein un­ent­behr­li­ches Hilfs­mit­tel zur Er­zie­hung mei­ner ar­men Mut­ter und konn­te mei­ne An­we­sen­heit nicht miss­en.

»Da­vid«, sag­te Mr. Murd­sto­ne ei­nes Tags nach dem Abendes­sen, als ich mich wie­der drücken woll­te, »ich be­mer­ke zu mei­nem Leid­we­sen, dass du mür­ri­scher Ge­müts­art bist.«

»Mür­risch wie ein Bär«, sag­te Miss Murd­sto­ne.

Ich blieb ste­hen und ließ den Kopf hän­gen. »Ein mür­ri­scher und ver­stock­ter Cha­rak­ter, Da­vid«, sag­te Mr. Murd­sto­ne, »ist das Al­ler­schlimms­te.«

»Und der Jun­ge ist das Ver­stock­tes­te, was ich je­mals ge­se­hen habe«, be­merk­te sei­ne Schwes­ter. »Ich glau­be, selbst du, lie­be Kla­ra, musst es be­mer­ken.«

»Ich bit­te um Ent­schul­di­gung, lie­be Jane«, sag­te mei­ne Mut­ter, »aber bist du auch wirk­lich si­cher, – du wirst es ge­wiss ent­schul­di­gen, lie­be Jane, – bist du si­cher, dass du Davy ver­stehst?«

»Ich müss­te mich wirk­lich schä­men, Kla­ra, wenn ich den oder je­den an­de­ren Kna­ben nicht ver­stün­de«, ant­wor­te­te Miss Murd­sto­ne. »Ich be­haup­te ge­wiss nicht, sehr tief zu sein, aber auf ge­sun­den Men­schen­ver­stand kann ich doch An­spruch ma­chen.«

»Ge­wiss, lie­be Jane«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter, »bist du von sehr star­kem Ver­stan­de.«

»O Gott, nein, bit­te, sag das nicht, Kla­ra«, un­ter­brach Miss Murd­sto­ne är­ger­lich.

»Aber ich weiß, dass es der Fall ist«, fing mei­ne Mut­ter wie­der an, »und je­der weiß es. Ich selbst habe so man­cher­lei großen Nut­zen da­von – oder soll­te es we­nigs­tens ha­ben –, dass nie­mand mehr da­von über­zeugt sein kann als ich, und des­halb äu­ße­re ich mei­ne Mei­nung auch nur sehr schüch­tern, mei­ne lie­be Jane, ich ver­si­che­re es dir.«

»Also gut, ich ver­ste­he den Jun­gen nicht, Kla­ra«, sag­te Miss Murd­sto­ne und ord­ne­te die klei­nen Fes­seln an ih­ren Hand­ge­len­ken. »Gut, wenn du willst, ich ver­ste­he ihn also gar nicht. Er ist viel zu tief für mich. Aber viel­leicht ist der Scharf­blick mei­nes Bru­ders durch­drin­gend ge­nug, Ein­sicht in die­sen Cha­rak­ter zu ge­win­nen. Und ich glau­be, mein Bru­der sprach ge­ra­de über die­ses The­ma, als wir ihn un­schick­li­cher­wei­se un­ter­bra­chen.«

»Ich glau­be, Kla­ra«, fiel Mr. Murd­sto­ne mit erns­ter Bass­s­tim­me ein, »es gibt bes­se­re und un­be­fan­ge­ne­re Rich­ter in die­ser Fra­ge als du bist.«

»Ed­ward«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter un­ter­wür­fig, »du bist na­tür­lich in al­len Fra­gen ein bes­se­rer Rich­ter als ich und auch als Jane. Ich sag­te nur –«

»Du sag­test nur et­was Schwa­ches und Un­über­leg­tes«, ant­wor­te­te er. »Tue es nicht wie­der, lie­be Kla­ra, und hal­te dich bes­ser im Zaum.«

Die Lip­pen mei­ner Mut­ter be­weg­ten sich, als ob sie ant­wor­te­ten: »Ja, lie­ber Ed­ward.«

»Ich habe zu mei­nem Leid­we­sen be­merkt, Da­vid«, nahm Mr. Murd­sto­ne sei­ne Rede wie­der auf, »dass du von ver­stock­ter Ge­müts­art bist. Ich wer­de nicht ru­hig zu­se­hen, ohne nicht den Ver­such zu ma­chen, dich zu bes­sern. Du musst dich an­stren­gen, an­ders zu wer­den, Da­vid. Wir müs­sen uns be­mü­hen, dich an­ders zu ma­chen.«

»Ich bit­te um Ent­schul­di­gung, Sir«, stot­ter­te ich, »ich glau­be nicht, ver­stockt ge­we­sen zu sein seit mei­ner Rück­kehr.«

»Nimm dei­ne Zuf­lucht nicht zur Lüge«, herrsch­te er mich so wild an, dass mei­ne Mut­ter un­will­kür­lich ihre zit­tern­de Hand aus­streck­te, um mich zu schüt­zen. »Du ziehst dich in dei­ner Ver­stockt­heit auf dein eig­nes Zim­mer zu­rück, du bleibst in dei­nem Zim­mer, wenn du hier sein soll­test. Ich sage es dir jetzt ein für al­le­mal, dass ich dich hier und nicht dort zu se­hen wün­sche. Fer­ner, dass ich Ge­hor­sam von dir ver­lan­ge. Du kennst mich, Da­vid, ich will es.«

Miss Murd­sto­ne lach­te spit­zig auf.

»Ich will ein ach­tungs­vol­les, ge­hor­sa­mes und be­reit­wil­li­ges Be­neh­men ge­gen mich, ge­gen Jane Murd­sto­ne und ge­gen dei­ne Mut­ter se­hen. Ich will nicht ha­ben, dass ein Kind nach sei­nem Be­lie­ben die­ses Zim­mer scheut, als sei es ver­pes­tet. Setz dich.«

Er be­fahl mir wie ei­nem Hund, und ich ge­horch­te wie ein Hund.

»Noch eins«, sag­te er. »Ich be­mer­ke, dass du einen Hang zu nied­ri­ger und ge­mei­ner Ge­sell­schaft zeigst. Du hast nicht mit Dienst­bo­ten um­zu­ge­hen. In der Kü­che wirst du von den vie­len Din­gen, die dir noch feh­len, nichts ler­nen. Von dem Weib, das dir Vor­schub leis­tet, schwei­ge ich, da du selbst, Kla­ra«, – er wand­te sich et­was lei­ser zu mei­ner Mut­ter – »aus al­ter Erin­ne­rung und lan­ger Ge­wohn­heit in Be­zug auf sie eine Schwä­che an den Tag legst, die noch nicht über­wun­den ist.«

»Eine ganz un­er­klär­li­che Ver­blen­dung!« rief Miss Murd­sto­ne.

»Ich sage also«, fuhr er wie­der zu mir ge­wen­det fort, »dass ich es miss­bil­li­ge, wenn du eine Ge­sell­schaft wie Frau Peg­got­ty vor­ziehst, und dass du sie da­her auf­zu­ge­ben hast. Jetzt ver­stehst du mich, Da­vid, und kennst die Fol­gen, die dir blü­hen, wenn du mir nicht wort­wört­lich ge­horchst.«

Ich zog mich also nicht mehr auf mein Zim­mer zu­rück, such­te nicht mehr mei­ne Zuf­lucht bei Peg­got­ty und saß trau­rig Tag für Tag in der Wohn­stu­be und sehn­te mich nach der Nacht und dem Schla­fen­ge­hen.

Un­ter welch pein­li­chem Zwang hat­te ich zu lei­den, wenn ich in der­sel­ben Stel­lung stun­den­lang da­sit­zen muss­te und aus Angst nicht Arm oder Fuß rühr­te, da­mit nicht Miss Murd­sto­ne im­mer­wäh­rend über mein un­ru­hi­ges We­sen klag­te; ich sah vor mich hin, um nicht ei­nem Blick der Ab­nei­gung oder des For­schens zu be­geg­nen und neu­en Stoff zur Be­schwer­de zu ge­ben. Welch un­er­träg­li­che Lan­ge­wei­le, dem Ti­cken der Uhr zu­zu­hö­ren, zu se­hen, wie Miss Murd­sto­ne die klei­nen, glän­zen­den Stahl­per­len auf­rei­h­te, sich den Kopf zu zer­bre­chen, ob sie wohl je­mals hei­ra­ten wür­de, und wenn, was für einen Un­glück­li­chen wohl, die Fur­chen im Ka­min zu zäh­len und dann mit den Au­gen durch die la­by­rin­thi­schen Ver­schlin­gun­gen der Ta­pe­te hin­auf zur De­cke zu schwei­fen.

Wie ein­sam wa­ren mei­ne Spa­zier­gän­ge durch die schmut­zi­gen Gas­sen bei dem schlech­ten Win­ter­wet­ter. Ich schlepp­te das Bild des Wohn­zim­mers mit Mr. und Miss Murd­sto­ne dar­in in mei­nem In­nern über­all hin und mit mir her­um: eine un­ge­heu­re Last, die ich da trug, ein Alp­druck bei Tage, den ich nicht zu ver­scheu­chen ver­moch­te, ein Ge­wicht auf mei­nem Geist, das mich stumpf mach­te. Wie viel­mal saß ich am Spei­se­tisch stumm und ver­le­gen da, im­mer mit dem Ge­fühl, dass ein Be­steck zu viel da sei, und zwar das mei­ne, ein Ma­gen zu viel, näm­lich der mei­ne, ein Tel­ler und ein Stuhl zu viel, und zwar der mei­ne, und eine Per­son zu viel, näm­lich ich.

Was wa­ren das für Aben­de, wenn die Ker­zen ka­men, und ich mich be­schäf­ti­gen muss­te, und weil ich nicht wag­te, ein un­ter­hal­ten­des Buch zu le­sen, mich über einen hart­köp­fi­gen und noch hart­her­zi­ge­ren arith­me­ti­schen Leit­fa­den her­mach­te. Maß- und Ge­wicht­sta­bel­len pass­ten sich Me­lo­di­en an, wie »Rule Bri­tan­nia« und »Weg mit den Gril­len und Sor­gen«, und gin­gen mir durch ein Ohr her­ein und aus dem an­de­ren wie­der hin­aus.

Oft konn­te ich das Gäh­nen nicht mehr ver­bei­ßen und nick­te trotz al­ler Vor­sicht ein. Wie er­schreckt fuhr ich dann aus dem heim­li­chen Schlum­mer wie­der auf. Nur sel­ten ver­such­te ich schüch­ter­ne Be­mer­kun­gen und er­hielt nie­mals eine Ant­wort. Wie sehr kam ich mir wie eine Null vor, die nie­mand be­ach­te­te und die doch je­dem im Weg stand, und im­mer war es mir eine Art Trost, wenn mir Miss Murd­sto­ne beim ers­ten Schlag Neun­uhr be­fahl, zu Bett zu ge­hen.

So schlepp­ten sich die Fe­ri­en hin bis zu dem Mor­gen, wo Miss Murd­sto­ne sag­te: »Heu­te ist der letz­te Tag um«, und mir für die Fe­ri­en die letz­te Tas­se Tee gab.

Der Ab­schied fiel mir nicht schwer. Ich war in einen Zu­stand von Stumpf­heit ver­fal­len, aus dem mir nur die Hoff­nung auf Steer­forth ein we­nig her­aus­half, wenn auch Mr. Cre­akle hin­ter ihm dräu­te. Wie­der er­schi­en Mr. Bar­kis an der Gar­ten­tür und wie­der sprach Miss Murd­sto­nes war­nen­de Stim­me: »Kla­ra!« als sich mei­ne Mut­ter über mich beug­te, um mir Le­be­wohl zu sa­gen.

Ich küss­te mei­ne Mut­ter und mein klei­nes Brü­der­chen und war sehr trau­rig. Nicht so sehr die Umar­mung, die in­brüns­ti­ger war als sie sein durf­te, lebt in mei­ner Erin­ne­rung fort als das, was jetzt folg­te.

Ich saß schon im Wa­gen, als mei­ne Mut­ter mich noch ein­mal rief. Ich sah hin­aus, und sie stand in der Gar­ten­tür al­lein und hielt den Säug­ling em­por, um ihn mir zu zei­gen. Die Luft war kalt und still und kein Haar auf ih­rem Haup­te, kei­ne Fal­te ih­res Klei­des reg­te sich, als sie mich be­redt an­sah und ihr Kind in die Höhe hielt.

So ver­lor ich sie. So sah ich sie spä­ter in mei­nen Träu­men in der Schu­le – eine stum­me Ge­stalt vor mei­nem Bett, im­mer mit dem­sel­ben be­red­ten Ge­sicht und dem Säug­ling in den Ar­men.

David Copperfield

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