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3. Kapitel – Eine Veränderung

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Das Pferd des Fuhr­manns war das fauls­te Pferd der Welt, kam mir vor. Es trot­te­te mit ge­senk­tem Kopf die Stra­ße ent­lang, als ge­fie­le es ihm, die Leu­te, de­nen es Pa­ke­te brach­te, mög­lichst lan­ge war­ten zu las­sen. Ich bil­de­te mir ein, es manch­mal deut­lich ki­chern ge­hört zu ha­ben, aber man sag­te mir, es hät­te bloß Hus­ten.

Der Fuhr­mann ließ eben­falls den Kopf hän­gen wie sein Gaul und nick­te schläf­rig beim Kut­schie­ren, die Arme auf das Knie ge­stützt. Ich sage »kut­schie­ren«, aber es scheint mir, der Wa­gen wäre eben­so gut ohne ihn nach Yar­mouth ge­kom­men, denn das Pferd be­sorg­te es ganz al­lein. Und was die Un­ter­hal­tung be­trifft, so konn­te er nichts als pfei­fen.

Peg­got­ty hat­te einen Korb mit Ess­wa­ren auf dem Knie, die reich­lich bis Lon­don ge­langt hät­ten. Wir aßen viel und schlie­fen viel.

Peg­got­ty schlief im­mer mit dem Kinn auf dem Korb­hen­kel, den sie nie losließ. Ich wür­de nie ge­glaubt ha­ben, wenn ich es nicht selbst ge­hört hät­te, dass ein ein­zi­ges schutz­lo­ses Weib so viel zu­sam­men­schnar­chen kön­ne.

Wir mach­ten Um­we­ge und brach­ten so lan­ge Zeit da­mit zu, eine Bett­stel­le in ei­nem Wirts­haus ab­zu­ge­ben und an ver­schie­de­nen Or­ten vor­zu­spre­chen, dass ich ganz müde und sehr froh war, als Yar­mouth in Sicht kam.

Es sähe schwam­mig und voll­ge­so­gen aus, mein­te ich, als ich mei­ne Au­gen über die große, lang­wei­li­ge Ein­öde jen­seits des Flus­ses schwei­fen ließ; ich konn­te mir nicht hel­fen, aber ich staun­te, wie das Geo­gra­fie­buch be­haup­ten konn­te, die Welt sei wirk­lich so rund, wenn ein Teil der­sel­ben so flach war. Dann über­leg­te ich mir, dass Yar­mouth mög­li­cher­wei­se an ei­nem der bei­den Pole lie­gen könn­te, und gab mich mit die­ser Er­klä­rung zu­frie­den.

Als wir et­was nä­her ka­men und die gan­ze Land­schaft wie eine ge­ra­de nied­ri­ge Li­nie un­ter dem Him­mel lie­gen sa­hen, be­merk­te ich zu Peg­got­ty, dass ein klei­ner Hü­gel oder der­glei­chen ver­schö­nernd wir­ken müss­te, und dass es hüb­scher wäre, wenn das Land et­was deut­li­cher von der See ge­schie­den und die Stadt und die Flut nicht so sehr un­ter­ein­an­der ge­mischt wie Mehl und Was­ser sein wür­den. Aber Peg­got­ty sag­te mit grö­ße­rem Nach­druck als ge­wöhn­lich, dass wir die Din­ge eben neh­men müss­ten, wie wir sie fän­den, und dass sie ih­rer­seits stolz sei, ein »He­ring von Yar­mouth« zu sein.

Als wir in die Stra­ße ein­bo­gen und den Fisch-, Pech-, Werg- und Teer­ge­ruch ein­so­gen und die See­leu­te um­her­ge­hen, und die Kar­ren über die Stei­ne schwan­ken sa­hen, fühl­te ich, dass ich ei­nem so ge­schäf­ti­gen Orte Un­recht ge­tan hat­te. Ich ge­stand es Peg­got­ty ein, die mei­ne Aus­drücke des Ent­zückens sehr wohl­ge­fäl­lig auf­nahm und mir sag­te, es sei all­ge­mein be­kannt (wahr­schein­lich un­ter de­nen, die das große Glück ha­ben, ge­bo­re­ne Yar­mouth-He­rin­ge zu sein), dass Yar­mouth über­haupt die schöns­te Stadt der Erde sei.

»Da ist mein Ham«, schrie sie plötz­lich auf, »in Ge­lehr­sam­keit auf­ge­wach­sen.«

Wirk­lich er­war­te­te Ham uns beim Gast­hau­se und er­kun­dig­te sich nach mei­nem Be­fin­den wie ein al­ter Be­kann­ter. An­fangs schi­en es mir nicht, als ob ich ihn so gut ken­ne, wie er mich, weil er seit der Nacht, als ich ge­bo­ren wur­de, nicht in un­ser Haus ge­kom­men war.

Be­greif­li­cher­wei­se hat­te er in die­ser Hin­sicht einen Vor­sprung vor mir. Aber un­se­re Ver­trau­lich­keit wuchs sehr, als er mich auf den Rücken nahm und nach Hau­se trug. Er war jetzt ein großer, star­ker Bur­sche von sechs Fuß Höhe, ent­spre­chen­der Brei­te und mas­si­ven Schul­tern, aber mit ei­nem Dum­men­jun­gen­ge­sicht, und krau­sem hel­lem Haar, das ihn et­was scha­f­ar­tig aus­se­hen mach­te. Sein An­zug be­stand aus ei­ner Se­gel­tuch­ja­cke und ei­nem Paar so stei­fer Ho­sen, dass sie ganz al­lein hät­ten auf­recht ste­hen kön­nen. Dass er einen Hut trü­ge, hät­te nie­mand so recht be­haup­ten dür­fen. Es schi­en eher ein al­tes Haus mit ein we­nig Pech dar­auf zu sein.

Ham trug mich auf dem Rücken und un­se­re klei­ne Schach­tel un­ter dem Arm, wäh­rend Peg­got­ty einen Hand­kof­fer schlepp­te. So gin­gen wir durch schma­le Gäss­chen, die mit Ab­fall von Zim­mer­holz und klei­nen Sand­häuf­chen be­deckt wa­ren, an Gas­an­stal­ten, Sei­ler­stät­ten und Werf­ten, wo Schif­fe und Boo­te ge­baut, zer­legt, kal­fa­tert und auf­ge­ta­kelt wur­den, an Schmie­den und Kal­kö­fen vor­bei, bis wir auf die öde Flä­che ka­men, die ich schon von wei­tem ge­se­hen hat­te. Da rief Ham: »Dats un­ser Hus, Masr Davy.«

Ich sah mich nach al­len Sei­ten um und ließ mei­ne Au­gen über die öde Ebe­ne, über das Meer und den Fluss hin­schwei­fen, aber nir­gends konn­te ich ein Haus ent­de­cken. Nicht weit von uns auf ei­ner klei­nen An­hö­he er­blick­te ich wohl ein schwar­zes Boot, eine Art aus­ge­dien­ter Bar­ke, aus dem ein Stück ei­ser­nes Rohr als Schorn­stein her­aus­rag­te und sehr ge­müt­lich rauch­te, aber sonst war nichts da, was nach ei­ner Woh­nung aus­ge­se­hen hät­te.

»Es ist doch nicht das dort?« frag­te ich. »Das Ding, das wie ein Schiff aus­sieht?«

»Dje­woll, Masr Davy«, ant­wor­te­te Ham.

Ich glau­be, wenn es Alad­ins Palast ge­we­sen wäre oder das Ei des Vo­gels Roc, hät­te ich nicht ent­zück­ter sein kön­nen, als über den ro­man­ti­schen Ge­dan­ken, hier woh­nen zu dür­fen.

In die Sei­ten­wand war eine köst­li­che Tür ge­schnit­ten, mit ei­nem Dach dar­über, und klei­ne Fens­ter sa­hen her­aus; aber der wun­der­bars­te Reiz für mich lag dar­in, dass es ein wirk­li­ches Boot war, das ge­wiss hun­der­te Mal auf dem Was­ser ge­schwom­men und nie­mals dazu be­stimmt ge­we­sen war, auf fes­tem Lan­de zur Woh­nung zu die­nen. Das fes­sel­te mich ganz und gar. Wenn es je­mals von An­fang an hät­te ein Haus sein sol­len, wür­de es mir viel­leicht klein oder un­be­quem oder ein­sam vor­ge­kom­men sein. So aber er­schi­en es mir voll­kom­men in je­der Art.

In­nen war al­les au­ßer­or­dent­lich rein­lich und so hübsch wie mög­lich.

Ein Tisch und eine Schwarz­wäl­der­wand­uhr und eine Kom­mo­de, und auf der Kom­mo­de stand ein Tee­brett, dar­auf war eine Dame mit ei­nem Son­nen­schirm ge­malt, und ne­ben ihr spa­zier­te ein mi­li­tä­risch aus­se­hen­des Kind mit ei­nem Rei­fen. Das Tee­brett wur­de durch eine Bi­bel am Her­un­ter­fal­len ge­hin­dert und hät­te, wenn es ab­ge­rutscht wäre, eine Men­ge Tas­sen und eine Tee­kan­ne, die alle um das Buch her­um­stan­den, zer­schla­gen. An der Wand hin­gen ein paar roh ge­mal­te Bil­der aus der Hei­li­gen Schrift, wie ich sie seit­dem nie in Trö­del­lä­den se­hen kann, ohne dass nicht so­fort das gan­ze In­ne­re je­nes Hau­ses klar vor mei­nen Au­gen steht. Ein ro­ter Abra­ham, im Be­griff einen blau­en Isaak zu op­fern, und ein Da­niel in gelb un­ter grü­ne Lö­wen ge­wor­fen, sta­chen am meis­ten her­vor.

Über dem Ka­min­sims hing ein Bild des Lug­gers »Sa­rah Jane«, in Sun­der­land ge­baut, mit ei­nem wirk­li­chen klei­nen, höl­zer­nen Schiffs­hin­ter­teil dar­an, ein Kunst­werk, das Ge­mäl­de und Zim­mer­manns­ar­beit ver­ei­nigt zeig­te und mir als ei­nes der nei­dens­wer­tes­ten Be­sitz­tü­mer der Welt er­schi­en. Im Deck­bal­ken sta­ken ein paar Ha­ken, de­ren Be­stim­mung mir rät­sel­haft war, und ei­ni­ge Schiffs­kis­ten und Kof­fer stan­den um­her und dienten als Stüh­le.

Dies al­les über­sah ich auf den ers­ten Blick, wie es nach mei­ner An­sicht Kin­der zu tun pfle­gen; dann öff­ne­te Peg­got­ty eine klei­ne Tür und zeig­te mir mein Schlaf­zim­mer. Es war das voll­kom­mens­te und wün­schens­wer­tes­te Schlaf­zim­mer, das ich je­mals ge­se­hen habe, im Hin­ter­teil des Schif­fes mit ei­nem klei­nen Fens­ter, – da, wo frü­her das Steu­er durch­ge­gan­gen, – mit ei­nem klei­nen Spie­gel, ge­ra­de in der rech­ten Höhe für mich an die Wand ge­na­gelt und mit Aus­tern­scha­len ein­ge­rahmt, ei­nem klei­nen Bett und ge­ra­de ge­nug Platz da­vor, um hin­aus­stei­gen zu kön­nen, und ei­nem Strauß von See­gras in ei­nem blau­en Krug auf dem Tisch. Die Wän­de wa­ren so weiß ge­tüncht wie Milch. Die Bett­de­cke, aus Fle­cken kun­ter­bunt zu­sam­men­ge­setzt, blen­de­te mei­ne Au­gen fast durch ihre Far­ben­pracht.

Ganz be­son­ders ge­fiel mir in die­sem herr­li­chen Hau­se der Fisch­ge­ruch, der so durch­drin­gend war, dass mein Ta­schen­tuch, als ich es ein­mal her­aus­zog, ge­ra­de so roch, als ob ein Hum­mer dar­in ein­ge­wi­ckelt ge­we­sen wäre. Als ich die­se Ent­de­ckung Peg­got­ty an­ver­trau­te, be­lehr­te sie mich, dass ihr Bru­der mit Hum­mern, Krab­ben und Kreb­sen han­del­te.

Spä­ter fand ich her­aus, dass ein Hau­fen die­ser Ge­schöp­fe in wun­der­ba­rer Ver­knäu­e­lung, in der sie nicht wie­der loslie­ßen, was sie ein­mal mit ih­ren Sche­ren ge­fasst hat­ten, drau­ßen in ei­nem klei­nen höl­zer­nen Schup­pen, in dem Töp­fe und Kes­sel hin­gen, auf­be­wahrt wur­den.

Eine sehr höf­li­che Frau mit wei­ßer Schür­ze, die ich schon drau­ßen in der Türe hat­te kni­xen se­hen, als ich auf Hams Rücken noch eine Vier­tel­mei­le vom Hau­se ent­fernt war, emp­fing uns. Des­glei­chen ein sehr schö­nes, klei­nes Mäd­chen – so kam sie mir we­nigs­tens vor, – mit ei­nem Hals­band aus blau­en Glas­per­len.

Die Klei­ne ließ sich nicht küs­sen, als ich sie dazu auf­for­der­te, son­dern rann­te fort und ver­steck­te sich. Spä­ter, als wir ein präch­ti­ges Mit­ta­ges­sen, be­ste­hend aus ge­koch­ten Fi­schen, ge­schmol­ze­ner But­ter und Kar­tof­feln, so­wie ei­ner Ham­mel­rip­pe für mich, zu uns ge­nom­men hat­ten, kam ein stark be­haar­ter Mann mit sehr gut­mü­ti­gem Ge­sicht nach Hau­se. Er nann­te Peg­got­ty »Mä­chen« und gab ihr einen herz­haf­ten Schmatz auf die Wan­ge, wor­aus ich bei der sons­ti­gen Züch­tig­keit ih­res We­sens schloss, dass es ihr Bru­der sein müss­te. Er war es auch und wur­de mir als Mr. Peg­got­ty, der Herr des Hau­ses, vor­ge­stellt.

»Freut mich, Sie zu se­hen, Sir«, sag­te Mr. Peg­got­ty »– wer­den uns rau fin­den, aber stets be­reit.«

Ich dank­te ihm und gab zur Ant­wort, dass ich mich an so ei­nem an­ge­neh­men Ort ge­wiss wohl­be­fin­den wür­de.

»Wie geits to Hus, Sir?« frag­te Mr. Peg­got­ty, plötz­lich in sei­nen Schif­fer­dia­lekt ver­fal­lend. »Ha­ben Sie Ihre Mama frisch und mun­ter ver­las­sen?«

Ich teil­te Mr. Peg­got­ty mit, dass sie so mun­ter und frisch sei, wie ich nur wün­schen könn­te, und dass sie sich ihm emp­feh­len lie­ße, was eine klei­ne, höf­li­che Lüge mei­ner­seits war.

»Ick bünn Ehr sehr ver­bun­nen«, ant­wor­te­te Mr. Peg­got­ty. »Wenn Sej et hier for­tein Dag ut­hol­len könt mit der da«, er nick­te sei­ner Schwes­ter zu, »und Ham und lütt Emly, sünn wi stolz op Ehr Ge­sell­schaft.«

Nach­dem Mr. Peg­got­ty in so gast­freund­li­cher­wei­se die Hon­neurs sei­nes Hau­ses ge­macht hat­te, ging er mit der Be­mer­kung, kal­tes Was­ser rich­te ge­gen Dreck nichts aus, hin­aus, um sich warm zu wa­schen.

Er kehr­te bald zu­rück und sah viel bes­ser aus, aber so ge­rötet, dass ich mich des Ge­dan­kens nicht er­weh­ren konn­te, sein Ge­sicht habe mit den Hum­mern und Kreb­sen das eine ge­mein, dass es schwarz in das war­me Was­ser hin­ein und rot wie­der her­aus­kom­me.

Als nach dem Tee die Tür fest zu­ge­macht war, – denn die Näch­te wa­ren kalt und neb­lig, – er­schi­en mir das Haus als die präch­tigs­te Un­ter­kunft, die mensch­li­che Ein­bil­dungs­kraft er­sin­nen kann. Den Wind drau­ßen auf dem Mee­re brau­sen zu hö­ren, zu wis­sen, dass der Ne­bel sich über die trost­lo­se Ebe­ne aus­brei­te­te, in das Feu­er zu se­hen und zu den­ken, dass kein Haus weit und breit au­ßer die­sem da sei, und dass die­ses eine ein Schiff war, wirk­te wie Zau­be­rei.

Emly hat­te ihre Scheu über­wun­den und saß ne­ben mir auf der nied­rigs­ten und kleins­ten der Schiffs­kis­ten, die, ge­ra­de groß ge­nug für uns bei­de, ge­nau in die Ofen­e­cke pass­te.

Mrs. Peg­got­ty in ih­rer wei­ßen Schür­ze strick­te auf der an­de­ren Sei­te des Feu­ers. Peg­got­ty selbst war bei ih­rer Ar­beit eben­so zu Hau­se, wie mit der St.-Pauls-Kir­che und dem Stück­chen Wachs­licht, als hät­te sie nie eine an­de­re Woh­nung ge­kannt. Ham ver­such­te mit schmut­zi­gen Kar­ten wahr­zu­sa­gen und präg­te je­dem Blatt, das er auf­schlug, die fi­schi­gen Ab­drücke sei­nes Dau­mens auf. Mr. Peg­got­ty rauch­te sei­ne Pfei­fe.

Ich fühl­te die Zeit zu ver­trau­li­cher Un­ter­hal­tung ge­kom­men:

»Mr. Peg­got­ty!«

»Sir?«

»Ha­ben Sie Ihren Sohn Ham ge­nannt, weil er in ei­ner Art Ar­che wohnt?«

Mr. Peg­got­ty schi­en das für einen tief­sin­ni­gen Ge­dan­ken zu hal­ten und ant­wor­te­te:

»Nein, Sir. Ich hew jem nie kee­nen Na­men nich ge­wen.«

»Wer hat ihm denn die­sen Na­men ge­ge­ben?« forsch­te ich, Fra­ge Num­me­ro 2 aus dem Ka­te­chis­mus Mr. Peg­got­ty vor­le­gend.

»Nun, Sir, sien Vad­der hett em den Na­men ge­wen«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

»Ich dach­te, Sie wä­ren sein Va­ter?«

»Mien Bru­der Joe war sien Vad­der.«

»Tot, Mr. Peg­got­ty?« frag­te ich nach ei­ner re­spekt­vol­len Pau­se.

»Er­trun­ken«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

Ich war sehr er­staunt, dass Mr. Peg­got­ty nicht Hams Va­ter war, und hät­te gern Ge­nau­es über sei­ne Ver­wandt­schaft zu den an­de­ren An­we­sen­den ge­kannt. Ich brann­te so dar­auf, dass ich be­schloss, es her­aus­zu­krie­gen.

»Die klei­ne Emly«, sag­te ich mit ei­nem Blick auf das Mäd­chen, »sie ist Ihre Toch­ter, nicht wahr, Mr. Peg­got­ty?«

»Nein, Sir. Mien Schwa­ger Tom war ihr Vad­der.«

Ich konn­te mich nicht zu­rück­hal­ten:

»Tot, Mr. Peg­got­ty?« frag­te ich zö­gernd, wie­der nach ei­ner vor­sich­ti­gen Pau­se.

»Er­trun­ken«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

Ich fühl­te die Schwie­rig­keit der Sach­la­ge, aber es war noch nicht al­les er­grün­det, und so muss­te ich doch wei­ter for­schen.

»Ha­ben Sie kei­ne Kin­der, Mr. Peg­got­ty?«

»Nein, Mas­ter«, ant­wor­te­te er mit kur­z­em La­chen. »Ick bünn een Jung­ge­sell.«

»Jung­ge­sell?« frag­te ich ganz ver­wun­dert. »Wer ist denn das, Mr. Peg­got­ty?«, und ich wies auf die Frau mit der wei­ßen Schür­ze.

»Das is Mrs. Gum­mid­ge.«

»Gum­mid­ge, Mr. Peg­got­ty?«

Aber hier mach­te Peg­got­ty – ich mei­ne mei­ne ei­ge­ne Peg­got­ty – so deut­li­che Ge­bär­den, ich sol­le nicht wei­ter fra­gen, dass ich nichts mehr tun konn­te als die schweig­sa­me Ge­sell­schaft an­se­hen, bis es Zeit war, zu Bett zu ge­hen. Dann in der Zu­rück­ge­zo­gen­heit mei­ner ei­ge­nen klei­nen Ka­bi­ne teil­te sie mir mit, dass Ham und Emly bei­de Wai­sen sei­en, die ihr Bru­der in frü­he­s­ter Kind­heit zu sich ge­nom­men hat­te, und dass Mrs. Gum­mid­ge die Wit­we sei­nes ehe­ma­li­gen Boot­teil­ha­bers sei, der sehr arm ge­stor­ben war. Peg­got­ty selbst sei nur ein ar­mer Mann, aber echt wie Gold und treu wie Stahl. Das wa­ren mei­ner Kinds­frau eig­ne Ver­glei­che. Das ein­zi­ge, sag­te sie mir, wor­über er je hef­tig wer­den könn­te bis zum Flu­chen, wäre, wenn man auf sein gu­tes Herz an­spie­le. Wenn man nur da­von sprä­che, schlü­ge er so furcht­bar auf den Tisch, – er hät­te ihn bei ei­ner sol­chen Ge­le­gen­heit oft schon zer­bro­chen, – und schwü­re einen ent­setz­li­chen Eid, dass er »gor­met« sein woll­te, wenn er nicht in die wei­te Welt gin­ge, so­bald noch je­mand da­von an­fin­ge. Auf mei­ne Nach­fra­gen stell­te sich her­aus, dass nie­mand wuss­te, was un­ter die­sem schreck­li­chen Wort »gor­met« zu ver­ste­hen sei; aber alle stimm­ten dar­in über­ein, dass es ein höchst fei­er­li­cher Schwur wäre.

Ich war na­tür­lich sehr ge­rührt von der Gut­her­zig­keit mei­nes Wir­tes und hör­te in ei­ner sehr be­hag­li­chen Ge­müts­s­tim­mung, die durch mei­ne Schläf­rig­keit noch ver­mehrt wur­de, wie die weib­li­che Hälf­te der Be­woh­ner­schaft in ei­ner zwei­ten klei­nen Ka­jü­te am an­de­ren Ende des Schif­fes zu Bett ging, und wie er und Ham für sich zwei Hän­ge­mat­ten an den frü­her er­wähn­ten Ha­ken im Deck­bal­ken be­fes­tig­te.

Wäh­rend der Schlaf mich all­mäh­lich über­wäl­tig­te, hör­te ich drau­ßen auf dem Meer den Wind so heu­len und so ge­wal­tig über die Ein­öde hin­brau­sen, dass mich halb im Traum die Furcht über­kam, das Meer könn­te wäh­rend der Nacht das Land über­flu­ten. Aber ich be­ru­hig­te mich da­mit, dass ich doch in ei­nem Schiff wohn­te, und dass Mr. Peg­got­ty kei­ne üble Per­son an Bord sei, wenn et­was ge­sche­hen soll­te.

Aber es pas­sier­te nichts Schlim­me­res, als dass der Mor­gen kam. So­bald er sei­ne Strah­len auf den Aus­tern­scha­len­rah­men mei­nes Spie­gels warf, war ich aus dem Bet­te und mit der klei­nen Emly drau­ßen am Strand und such­te Mu­scheln.

»Du bist ge­wiss schon ein vollen­de­ter See­mann«, sag­te ich zu Emly. Ich glaub­te selbst nicht, was ich sag­te, aber ich hielt es für ga­lant, et­was Der­ar­ti­ges zu äu­ßern, und ein schim­mern­des Se­gel dicht ne­ben uns spie­gel­te sich so hübsch in ih­rem hel­len Auge, dass mir die­se Wor­te ge­ra­de ein­fie­len.

»Nein«, ant­wor­te­te Emly und schüt­tel­te den Kopf, »ich habe Angst vor dem Mee­re.«

»Angst?« sag­te ich und mach­te selbst ein küh­nes Ge­sicht und sah mu­tig auf den mäch­ti­gen Ozean hin­aus. »Ich nicht!«

»O, es ist sehr grau­sam«, sag­te Emly, »ich habe es sehr grau­sam ge­se­hen ge­gen un­se­re Leu­te. Ich habe ge­se­hen, wie es ein Schiff, so groß wie un­ser Haus, in lau­ter Stücke zer­brach.«

»Das war doch hof­fent­lich nicht das Schiff, das –«

»– in dem der Va­ter er­trank?« frag­te Emly. »Nein, das nicht. Das hab ich nicht ge­se­hen.«

»Auch ihn nicht?« frag­te ich.

Die klei­ne Emly schüt­tel­te den Kopf. »Kann mich nicht er­in­nern.«

Hier lag ein Fall vor wie der mei­ne. Ich er­ging mich so­gleich in Er­zäh­lun­gen, dass auch ich mei­nen Va­ter nie­mals ge­se­hen hät­te, und wie mei­ne Mut­ter und ich stets al­lein in der größ­ten Zufrie­den­heit ge­lebt, die man sich den­ken könn­te, und noch so leb­ten und im­mer so le­ben woll­ten, und dass mei­nes Va­ters Grab auf dem Kirch­hof nicht weit von un­serm Hau­se läge, be­schat­tet von ei­nem Baum, un­ter des­sen Zwei­gen ich an man­chem schö­nen Mor­gen dem Ge­sang der Vö­gel ge­lauscht hät­te.

Aber zwi­schen Em­lys Wai­sen­schaft und mei­ner be­stand doch noch ein klei­ner Un­ter­schied. Sie hat­te ihre Mut­ter vor dem Va­ter ver­lo­ren, und ih­res Va­ters Grab kann­te nie­mand. Sie wuss­te nur, dass er ir­gend­wo in den Tie­fen des Mee­res ruh­te.

»Und dann«, sag­te Emly, wäh­rend sie nach Mu­scheln und Kie­seln aus­schau­te, »war dein Va­ter ein Gent­le­man und dei­ne Mut­ter eine Lady; mein Va­ter war nur ein Fi­scher und mei­ne Mut­ter eine Fi­scher­s­toch­ter und mein On­kel Dan ist ein Fi­scher.«

»Dan ist Mr. Peg­got­ty, nicht wahr?« frag­te ich.

»On­kel Dan – dort –« ant­wor­te­te Emly und nick­te nach dem Schif­fe hin.

»Ja, den mei­ne ich. Er muss sehr gut sein, nicht?«

»Gut? – Wenn ich ein­mal eine Lady wer­den soll­te, schen­ke ich ihm einen him­melblau­en Rock mit dia­mant­nen Knöp­fen, Nan­king­ho­sen, eine rote Samt­wes­te, einen Fe­der­hut, eine große gold­ne Uhr, eine sil­ber­ne Pfei­fe und einen Kof­fer voll Geld.«

Ich sag­te, ich sei über­zeugt, dass Mr. Peg­got­ty alle die­se Schät­ze wohl ver­die­ne. Ich muss ge­ste­hen, dass es mir schwer­fiel, mir ihn in ru­hi­gem Be­ha­gen in dem An­zu­ge vor­zu­stel­len, den sei­ne dank­ba­re klei­ne Nich­te ihm zu­dach­te, be­son­ders hat­te ich so mei­ne Be­den­ken we­gen des Fe­der­hu­tes, aber ich be­hielt die­se Ge­dan­ken für mich.

Die klei­ne Emly hat­te in ih­rer Be­schäf­ti­gung in­ne­ge­hal­ten und zum Him­mel auf­ge­blickt bei der Auf­zäh­lung al­ler die­ser Ge­gen­stän­de, als wä­ren sie eine Vi­si­on. Dann fin­gen wir wie­der an Mu­scheln und Kie­seln zu su­chen.

»Du möch­test wohl gern eine Lady sein?« frag­te ich.

Emly sah mich an, lach­te und nick­te, »ja.«

»Das möcht ich wohl gern. Wir wür­den dann alle vor­neh­me Leu­te sein. Ich und der On­kel und Ham und Mrs. Gum­mid­ge; es wäre uns gleich, wenn es stürm­te, – un­sert­we­gen mei­ne ich, we­gen der ar­men Fi­scher wärs uns nicht gleich, und wir wür­den ih­nen Geld ge­ben, wenn sie zu Scha­den kämen.«

Das er­schi­en mir als ein be­frie­di­gen­des und da­her durch­aus nicht un­wahr­schein­li­ches Bild. Ich drück­te mei­ne Freu­de dar­über aus und das er­mu­tig­te Emly zu der schüch­ter­nen Fra­ge: »Glaubst du jetzt, dass du Angst vor dem Mee­re hast?«

Die See war in die­sem Au­gen­blick zu ru­hig, um mir Be­sorg­nis ein­zu­flö­ßen, aber ich bin über­zeugt, wenn nur eine mä­ßig große Wel­le da­her­ge­braust ge­kom­men wäre, ich hät­te mich bei dem schreck­li­chen Ge­dan­ken an Em­lys er­trun­ke­ne Ver­wand­ten so­fort da­von ge­macht. Für alle Fäl­le sag­te ich nein, und füg­te hin­zu: »Du scheinst dich auch nicht so sehr da­vor zu fürch­ten, wie du sagst.« Sie ging so nahe am Ran­de ei­nes al­ten höl­zer­nen Ha­fen­damms, dass ich Angst hat­te, sie könn­te hin­un­ter­fal­len.

»So fürch­te ich mich nicht«, sag­te sie. »Aber ich blei­be wach, wenn es stürmt, und den­ke mit Zit­tern und Angst an On­kel Dan und Ham, und im­mer kommt es mir vor, als ob sie um Hil­fe rie­fen. Des­halb möcht ich gern eine Lady sein. Aber so fürcht ich mich nicht. Nicht ein biss­chen. Schau mal her.«

Sie rann­te von mir weg und lief einen ge­kerb­ten Bal­ken ent­lang, der ohne Ge­län­der ziem­lich hoch über das Meer hin­aus­rag­te.

So deut­lich steht der Vor­fall noch vor mei­nem Ge­dächt­nis, dass ich es ma­len könn­te, wäre ich ein Zeich­ner, wie die klei­ne Emly ih­rem Un­ter­gang – so er­schi­en es mir, – mit ei­nem weit auf das Meer hin­aus­ge­rich­te­ten Blick, den ich nie ver­ges­sen habe, ent­ge­ge­neil­te. Ihre leich­te, küh­ne, flat­tern­de klei­ne Ge­stalt kehr­te um und ge­lang­te wie­der glück­lich bis zu mir, und bald lach­te ich über mei­ne Angst und den Schrei, den ich – in je­dem Fal­le ganz nutz­los, denn es war nie­mand in der Nähe, – aus­ge­sto­ßen hat­te.

Oft noch spä­ter habe ich dar­über nach­ge­son­nen, konn­te es nicht viel­leicht eine von den uns ver­bor­ge­nen Mög­lich­kei­ten ge­we­sen sein, dass der plötz­li­chen Toll­heit des Kin­des eine Ver­lo­ckung zur Ge­fahr, ein un­hör­ba­rer Ruf ih­res to­ten Va­ters zu­grun­de lag, der an je­nem Tage barm­her­zig ihr Le­ben en­den woll­te?

Es kam ein­mal eine Zeit, wo ich mich frag­te, ob ich da­mals einen Fin­ger zu ih­rer Ret­tung hät­te rüh­ren sol­len, wenn sich mir ihr spä­te­res Le­ben in ei­nem Blick geof­fen­bart hät­te? Es kam ein­mal eine Zeit, wo ich mir einen Au­gen­blick die Fra­ge vor­ge­legt habe, wür­de es nicht bes­ser für die klei­ne Emly ge­we­sen sein, wenn das Meer sie an die­sem Mor­gen vor mei­nen Au­gen ver­schlun­gen hät­te? –

Wir schlen­der­ten noch eine Wei­le spa­zie­ren und la­sen Din­ge auf, die uns merk­wür­dig vor­ka­men, und setz­ten ganz sorg­sam ein paar ge­stran­de­te Sees­ter­ne wie­der ins Was­ser – ich ken­ne die Le­bens­ge­wohn­hei­ten die­ser Tie­re zu we­nig, um zu wis­sen, ob wir ih­nen da­mit einen Ge­fal­len ta­ten, – und kehr­ten dann nach Mr. Peg­got­tys Woh­nung zu­rück.

Un­ter dem Schat­ten des Schup­pens, wo die Kreb­se la­gen, blie­ben wir ste­hen, ga­ben uns einen un­schul­di­gen Kuss und gin­gen vor Ge­sund­heit und Freu­de strah­lend hin­ein zum Früh­stück.

»Wie zwei Am­seln«, sag­te Mr. Peg­got­ty, und ich nahm das als Kom­pli­ment auf.

Na­tür­lich war ich in die klei­ne Emly ver­liebt. Ich bin über­zeugt, ich lieb­te das Kind so wahr­haf­tig, so zärt­lich, und rei­ner und selbst­lo­ser, als man selbst im bes­ten Fal­le in spä­te­ren Zei­ten lie­ben kann. Ich weiß, dass mei­ne Fan­ta­sie die­ses blau­äu­gi­ge Kind mit ei­nem Glo­ri­en­schein um­wob, der einen wah­ren En­gel aus ihm mach­te. Wenn Emly an ei­nem son­ni­gen Mor­gen mit ei­nem Paar klei­nen Schwin­gen vor mei­nen Au­gen weg­ge­flo­gen wäre, so glau­be ich kaum, dass ich dar­in et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches ge­se­hen hät­te.

Stun­den­lang gin­gen wir auf der öden Flä­che um Yar­mouth in lie­ben­der Ein­tracht spa­zie­ren. Die Tage eil­ten an uns vor­über, als ob die Zeit selbst noch ein Kind wäre und im­mer mit uns spiel­te.

Ich sag­te Emly, dass ich sie an­be­te­te, und wenn sie nicht ge­stün­de, dass sie mich eben­falls an­be­te­te, so müss­te ich mich mit ei­nem Schwert sel­ber tö­ten. Und sie sag­te, sie lieb­te mich, und ich zweifle nicht, dass es so war.

An Un­gleich­heit und zu große Ju­gend oder an­de­re Schwie­rig­kei­ten dach­ten wir nicht, denn über die Zu­kunft zer­bra­chen wir uns nicht den Kopf.

Wir wa­ren ein Ge­gen­stand der Be­wun­de­rung für Mrs. Gum­mid­ge und Peg­got­ty, die sich abends, wenn wir so zärt­lich auf der Schiffs­kis­te sa­ßen, zu­flüs­ter­ten: »O Gott, ist das ein hüb­sches Paar.« Hin­ter sei­ner Pfei­fe her­vor lä­chel­te uns Mr. Peg­got­ty an. Ham grins­te den gan­zen Abend und tat sonst nichts.

Ich be­merk­te bald, dass sich Mrs. Gum­mid­ge nicht im­mer so an­ge­nehm mach­te, als man nach den Ver­hält­nis­sen, un­ter de­nen sie bei Mr. Peg­got­ty wohn­te, hät­te er­war­ten dür­fen.

Sie war et­was emp­find­li­cher Na­tur und jam­mer­te oft mehr, als für die an­de­ren Mit­glie­der ei­nes so klei­nen Haus­hal­tes an­ge­nehm war. Sie tat mir wohl sehr leid, aber es gab Au­gen­bli­cke, wo ich dach­te, dass es wohl bes­ser wäre, wenn sie sich in ihr ei­ge­nes Zim­mer zu­rück­zie­hen woll­te, um sich ih­rem Schmerz zu über­las­sen.

Mr. Peg­got­ty ging manch­mal in ein Wirts­haus, das den Na­men »Der gute Vor­satz« führ­te. Ich merk­te es an sei­ner Ab­we­sen­heit be­reits am zwei­ten oder drit­ten Tag mei­nes Be­suchs und dar­an, dass Mrs. Gum­mid­ge zwi­schen acht und neun Uhr im­mer nach der Schwarz­wäl­der­uhr hin­aufsah und sag­te, er sei dort, und sie habe es be­reits am Mor­gen vor­aus­ge­se­hen.

Sie war schon den gan­zen Tag sehr trüb ge­stimmt ge­we­sen und in Trä­nen aus­ge­bro­chen, als der Ofen rauch­te. »Ich bin ein ar­mes, ver­las­se­nes We­sen«, hat­te sie da­bei ge­sagt, »und al­les geht mir die Que­re.«

»Ach, es wird ja bald vor­bei sein!« hat­te Peg­got­ty – mei­ne näm­lich – ge­sagt, »und au­ßer­dem ist es dir auch nicht un­an­ge­neh­mer als uns.«

»Ich fühl es mehr«, hat­te Mrs. Gum­mid­ge geant­wor­tet.

Es war ein kal­ter Tag und der Wind weh­te scharf und hef­tig. Mrs. Gum­mid­ges Ecke am Ofen schi­en mir die wärms­te und ge­müt­lichs­te in der Stu­be zu sein und ihr Stuhl war si­cher­lich der be­quems­te, aber sie be­fand sich heu­te nicht wohl dar­in. Sie jam­mer­te be­stän­dig über die Käl­te, dass es ihr im­mer in den Rücken blie­se, und end­lich ver­goss sie Trä­nen und sag­te wie­der, sie sei ein ar­mes, ver­las­se­nes We­sen, und al­les gin­ge ihr der Que­re.

»Es ist recht kalt«, be­stä­tig­te Peg­got­ty, »das fühlt ge­wiss je­der.«

»Ich fühl es mehr als an­de­re Leu­te«, klag­te Mrs. Gum­mid­ge.

Eben­so war es bei Tisch, wo Mrs. Gum­mid­ge im­mer un­mit­tel­bar nach mir dran kam, weil ich als vor­neh­mer Gast den Vor­zug hat­te. Die Fi­sche wa­ren klein und ma­ger und die Kar­tof­feln ein we­nig an­ge­brannt. Wir ga­ben alle zu, dass das nicht be­son­ders an­ge­nehm sei, aber Mrs. Gum­mid­ge sag­te, sie füh­le es mehr als wir, und wein­te wie­der und gab ihre frü­he­re Er­klä­rung mit großer Bit­ter­keit zum Bes­ten.

Als Mr. Peg­got­ty ge­gen neun Uhr nach Hau­se kam, strick­te die un­glück­li­che Mrs. Gum­mid­ge in jäm­mer­li­cher Stim­mung in ih­rer Ecke. Peg­got­ty hat­te fröh­lich ihre Ar­beit ge­tan, Ham ein paar wei­ße Was­sers­tie­fel aus­ge­bes­sert, und ich hat­te ih­nen, ne­ben Emly sit­zend, vor­ge­le­sen. Mrs. Gum­mid­ge hat­te nur zu­wei­len ge­seufzt und seit dem Tee die Au­gen nicht auf­ge­schla­gen.

»Nun, Stüer­lüt«, sag­te Mr. Peg­got­ty und setz­te sich. »Wie geit dat?«

Wir alle ant­wor­te­ten freund­lich mit Wort und Blick, nur Mrs. Gum­mid­ge schüt­tel­te den Kopf über ih­rem Strick­strumpf.

»Wo fehlts?« frag­te Mr. Peg­got­ty, »Kopf hoch, Mut­ting!« Mrs. Gum­mid­ge aber schi­en nicht im­stan­de zu sein, sich auf­zu­mun­tern. Sie zog ein al­tes, schwarz­sei­de­nes Ta­schen­tuch her­vor und wisch­te sich die Au­gen, an­statt es je­doch wie­der in die Ta­sche zu ste­cken, be­hielt sie es in der Hand und wisch­te sich noch­mals die Au­gen und leg­te es ne­ben sich, um es im­mer be­reit zu ha­ben.

»Wo fehlts, Alte?« frag­te Peg­got­ty.

»Nichts«, ent­geg­ne­te Mrs. Gum­mid­ge. »Du kommst aus dem ›gu­ten Vor­satz‹ – Danl?«

»Nun, ja, ich mach­te einen Ab­ste­cher heu­te abends in den ›gu­ten Vor­satz‹«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

»Es tut mir leid, dass ich dich im­mer dort­hin trei­be«, sag­te Mrs. Gum­mid­ge.

»Trei­ben! Bei mir brauchts kein Trei­ben«, er­wi­der­te Peg­got­ty la­chend. »Ich geh nur zu gern hin.«

»Sehr gern«, sag­te Mrs. Gum­mid­ge, schüt­tel­te den Kopf und wisch­te sich die Au­gen. »Ja, ja, sehr gern. Es tut mir leid, dass ich dran schuld bin.«

Mr. Peg­got­ty sag­te wei­ter nichts, son­dern bat bloß Mrs. Gum­mid­ge noch ein­mal, den Kopf hoch­zu­hal­ten.

»Ich bin nicht, wie ich sein möch­te«, sag­te Mrs. Gum­mid­ge. »Ich füh­le mein Un­glück und das macht mich un­an­ge­nehm. Ich woll­te, es wäre an­ders, aber ich füh­le nun ein­mal so. Ich woll­te, ich könnt es ver­ges­sen, aber es geht nicht. Ich ma­che das gan­ze Haus un­ge­müt­lich. Ich habe schon den gan­zen Tag lang dei­ner Schwes­ter das Le­ben sau­er ge­macht und Mas­ter Davy dazu.«

Ich wur­de so­fort ge­rührt und rief in großem See­len­schmerz ein lau­tes »Nein, si­cher nicht, Mrs. Gum­mid­ge.«

»Es ist gar nicht recht von mir«, fuhr sie fort, »ich soll­te lie­ber ins Ar­men­haus ge­hen und ster­ben. Wenn mir al­les die Que­re geht und ich al­len der Que­re bin, so will ich auch der Que­re in mei­ne Hei­mat ge­hen. Danl, bes­ser ich gin­ge ins Ar­men­haus und stür­be; dann seid ihr mich los.«

Mit die­sen Wor­ten be­gab sich Mrs. Gum­mid­ge zu Bett. Als sie fort war, sah uns Mr. Peg­got­ty, der bei je­dem Wort nur die tiefs­te Teil­nah­me ge­zeigt hat­te, der Rei­he nach an, nick­te mit dem Kopf und flüs­ter­te: »Sej hett an ehrn Olen dacht.«

Ich ver­stand nicht recht, an was für einen Al­ten Mrs. Gum­mid­ge ge­dacht ha­ben soll­te, bis mir Peg­got­ty, als sie mich zu Bett brach­te, er­klär­te, dass es der se­li­ge Mr. Gum­mid­ge wäre, und dass ihr Bru­der es stets bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten als aus­ge­mach­te Wahr­heit an­näh­me und es stets einen rüh­ren­den Ein­druck auf ihn mach­te.

Noch in der Hän­ge­mat­te hör­te ich ihn zu Ham sa­gen: Sej hett an ehrn Olen dacht! Und wann im­mer sich Mrs. Gum­mid­ge in ähn­li­cher Stim­mung be­fand, hat­te er für sie im­mer die­sel­be Ent­schul­di­gung und im­mer das­sel­be auf­rich­ti­ge Mit­leid.

So gin­gen die vier­zehn Tage rasch da­hin ohne an­de­re Ver­än­de­rung, als den Wech­sel von Ebbe und Flut, der auch die Stun­den, wo Mr. Peg­got­ty und Ham gin­gen und ka­men, ver­schob.

Hat­te Ham nichts zu tun, be­glei­te­te er uns manch­mal an den Ha­fen und zeig­te uns die Boo­te und Schif­fe, und ein- oder zwei­mal ru­der­te er uns spa­zie­ren. Ich weiß nicht, wie es kommt, warum so oft ge­ra­de ein un­be­deut­sa­mes Bild im­mer an ei­nem Na­men am längs­ten haf­ten bleibt. Nie höre oder lese ich den Na­men Yar­mouth, ohne an einen ge­wis­sen Sonn­tag­mor­gen am Stran­de er­in­nert zu wer­den, wo die Glo­cken in der Kir­che läu­te­ten, die klei­ne Emly sich auf mei­nen Arm stütz­te, Ham nach­läs­sig Stei­ne ins Was­ser warf, und die Son­ne drau­ßen über dem Meer müh­se­lig durch den di­cken Ne­bel drang, und die Schif­fe sich uns so un­deut­lich zeig­ten, als wä­ren sie ihre eig­nen Schat­ten.

End­lich kam der Tag der Heim­rei­se. Die Tren­nung von Mr. Peg­got­ty und Mrs. Gum­mid­ge konn­te ich noch ver­win­den. Aber der Ab­schied von der klei­nen Emly zer­riss mir das Herz. Wir gin­gen Arm in Arm nach dem Wirts­haus, wo der Fuhr­mann an­spann­te, und un­ter­wegs ver­sprach ich ihr zu schrei­ben. Die­ses Ver­spre­chen lös­te ich spä­ter mit ei­nem Auf­wand von Buch­sta­ben ein, die grö­ßer wa­ren als die, mit de­nen man Mie­t­an­zei­gen zu schrei­ben pflegt. Wir fühl­ten uns ganz ver­nich­tet durch den Ab­schied, und wenn ich je in mei­nem Le­ben in mei­nem Her­zen eine un­be­schreib­li­che Lee­re emp­fun­den habe, so war es an je­nem Tag.

Die gan­ze Zeit mei­nes Be­suchs über war ich un­dank­bar ge­gen mein müt­ter­li­ches Haus ge­we­sen und hat­te we­nig oder nicht dar­an ge­dacht. Aber kaum wen­de­te ich mei­ne Schrit­te ihm wie­der zu, so wies auch schon vor­wurfs­voll mein ju­gend­li­ches Ge­wis­sen mit stand­haf­tem Fin­ger dort­hin, und ich fühl­te trotz der Ban­gig­keit des Ab­schieds, dass es mei­ne Hei­mat und Mut­ter, mei­ne Trös­te­rin und Freun­din war. Je nä­her wir dem Zie­le ka­men und je ver­trau­ter mir die Um­ge­bung wur­de, de­sto stär­ker wuchs mei­ne Sehn­sucht, in ihre Arme zu ei­len. Peg­got­ty, an­statt die­sen Drang zu tei­len, such­te ihn, wenn auch sanft, in mir eher zu hem­men, und sah ver­le­gen und ver­stimmt drein.

Trotz der Lang­sam­keit und Lau­nen­haf­tig­keit des Pfer­des lang­ten wir doch end­lich in Krä­hen­horst-Blun­der­sto­ne an. Ich sehe noch den kal­ten, grau­en Nach­mit­tag mit dem dun­keln, reg­ne­ri­schen Him­mel vor mir.

Die Tür ging auf und ich er­war­te­te, halb la­chend, halb wei­nend vor Er­regt­heit mei­ne Mut­ter zu se­hen. Aber nicht sie, son­dern eine mir frem­de Die­ne­rin trat her­aus.

»Ach, Peg­got­ty!« sag­te ich trau­rig. »Ist sie noch nicht wie­der zu Hau­se?«

»Ja, ja, Mas­ter Davy«, sag­te Peg­got­ty, »wart ein biss­chen, Mas­ter Davy, und ich wer­de dir et­was sa­gen.«

Teils aus Auf­re­gung, teils aus na­tür­li­chem Un­ge­schick mach­te Peg­got­ty beim Heraus­stei­gen aus dem Wa­gen die selt­sams­ten Ma­nö­ver, aber ich fühl­te mich zu ent­mu­tigt und be­trof­fen, um ihr et­was dar­über zu sa­gen. Als sie glück­lich drau­ßen war, nahm sie mich bei der Hand, führ­te mich zu mei­ner Ver­wun­de­rung in die Kü­che und schloss die Tür.

»Peg­got­ty«, sag­te ich, hef­tig er­schro­cken, »was ist denn?«

»Du mei­ne Güte, nichts ist, mein lie­ber Davy«, ant­wor­te­te sie und setz­te eine mög­lichst hei­te­re Mie­ne auf.

»Es ist et­was ge­sche­hen, ich weiß es, wo ist Mama?«

»Wo Mama ist, Davy?« wie­der­hol­te Peg­got­ty.

»Ja. Wa­rum ist sie uns nicht ent­ge­gen­ge­kom­men? Und wes­halb sind wir hier her­ein­ge­gan­gen? Ach Peg­got­ty!«

Mei­ne Au­gen stan­den voll Trä­nen und mir war zum Um­sin­ken.

»Mein Gott, der gute Jun­ge!« rief Peg­got­ty und hielt mich auf­recht. »Was ist dir? Sprich, mein Herz­blatt!«

»Sie ist doch nicht tot? Nicht tot? Peg­got­ty?«

»Nein«, schrie Peg­got­ty mit er­staun­li­cher Kraft in der Stim­me. Dann setz­te sie sich nie­der, fing an zu keu­chen und sag­te, ich hät­te sie fürch­ter­lich er­schreckt.

Um das wie­der­gutz­u­ma­chen, fiel ich ihr um den Hals, stell­te mich dann vor sie hin und sah sie mit ban­ger Er­war­tung an.

»Ja, schau, Lieb­ling, ich hät­te dirs schon frü­her sa­gen sol­len, aber ich fand kei­ne Ge­le­gen­heit dazu. Ich hät­te es längst tun sol­len, aber ich konn­te mich partuh« – das war im­mer der Stell­ver­tre­ter in Peg­got­tys Wört­er­heer für »durch­aus« – »nicht dazu ent­schlie­ßen.«

»Wei­ter Peg­got­ty«, sag­te ich noch mehr er­schreckt als vor­her.

»Mas­ter Davy«, sag­te Peg­got­ty und knüpf­te ihr Hut­band mit zit­tern­den Hän­den auf – sie war ganz au­ßer Atem: –

»Was meinst du? Du hast einen Papa be­kom­men.«

Ich fuhr zu­sam­men und wur­de blass. Ein Et­was – ich weiß nicht was –, das mit dem Grab auf dem Kirch­hof und der Au­fer­ste­hung der To­ten zu­sam­men­hing, schi­en mich wie ein gif­ti­ger Hauch zu strei­fen.

»Ei­nen neu­en«, sag­te Peg­got­ty.

»Ei­nen neu­en?« wie­der­hol­te ich.

Peg­got­ty schluck­te, als ob ihr et­was Har­tes im Hal­se ste­cken ge­blie­ben wäre, reich­te mir die Hand und sag­te:

»Komm, du musst ihn se­hen –«

»Ich will ihn nicht se­hen.«

»– und dei­ne Mama.«

Ich wi­der­stand nicht län­ger, und wir gin­gen so­gleich in das Empfangs­zim­mer, wo sie mich ver­ließ.

An der einen Sei­te des Ka­mins saß mei­ne Mut­ter, an der an­de­ren Mr. Murd­sto­ne. Mei­ne Mut­ter ließ ihre Ar­beit sin­ken und stand rasch auf, aber, wie es mir schi­en, furcht­sam.

»Lie­be Kla­ra«, sag­te Mr. Murd­sto­ne, »den­ke dar­an! Be­herr­sche dich, im­mer be­herr­sche dich! Davy, mein Jun­ge, wie geht es dir?«

Ich gab ihm die Hand. Nach ei­nem Au­gen­blick der Un­ent­schlos­sen­heit ging ich zu mei­ner Mut­ter und küss­te sie; sie küss­te mich wie­der, klopf­te mir sanft auf die Schul­ter und nahm wie­der ihre Ar­beit zur Hand. Ich konn­te ihn nicht an­se­hen, ich konn­te sie nicht an­se­hen, ich wuss­te be­stimmt, dass er uns bei­de an­sah, und ich ging ans Fens­ter und blick­te hin­aus auf ein paar Stau­den, die ihre Köp­fe in der Käl­te hän­gen lie­ßen.

So­bald ich mich weg­drücken konn­te, schlich ich die Trep­pe hin­auf. Mein lie­bes, al­tes Schlaf­zim­mer war ganz an­ders ge­wor­den, und ich muss­te weit hin­ten schla­fen. Ich ging wie­der hin­un­ter, um ir­gen­det­was zu fin­den, das sich nicht ver­än­dert hät­te, so fremd schi­en mir al­les, und trat auf den Hof hin­aus. Schnell schreck­te ich zu­rück, denn die lee­re Hun­de­hüt­te war jetzt von ei­nem großen Hund be­wohnt, der eine tie­fe Stim­me und schwar­ze Haa­re hat­te – wie er – und grim­mig an sei­ner Ket­te riss, um über mich her­zu­fal­len.

David Copperfield

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