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4. Kapitel – Ich falle in Ungnade

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Wäre das Zim­mer, wo da­mals mein Bett stand, ein füh­len­des We­sen, möch­te ich es heu­te – wer wohl jetzt dar­in schla­fen mag – zum Zeu­gen an­ru­fen, wie schwer mir das Herz war, als ich ein­trat.

Wie ich die Trep­pe hin­auf­ging, hör­te ich den Hund hin­ter mir drein­bel­len; und drin­nen sah ich die Stu­be mit eben­so frem­den Au­gen an wie sie mich. Ich setz­te mich hin, die klei­nen Hän­de ge­fal­tet, und dach­te nach.

Ich dach­te an die selt­sams­ten Din­ge, an die Form des Zim­mers, an die Sprün­ge in der De­cke, an die Ta­pe­ten an den Wän­den, an die Rip­pen und Fle­cken im Fens­ter­glas, hin­ter de­nen sich die Ge­gen­stän­de drau­ßen ver­zerr­ten und ver­scho­ben, an den Wasch­tisch, der auf drei Bei­nen wa­ckel­te, et­was Un­zu­frie­de­nes hat­te und mich an Mrs. Gum­mid­ge er­in­ner­te.

Ich wein­te die gan­ze Zeit über, dach­te aber kei­nen Au­gen­blick dar­über nach, warum ich wein­te. Ich emp­fand nur das Ge­fühl der Käl­te und Nie­der­ge­schla­gen­heit. In mei­ner Ein­sam­keit fing ich an, mir aus­zu­ma­len, wie schreck­lich ver­liebt ich in die klei­ne Emly sei, und dass man mich von ihr ge­ris­sen habe, wäh­rend sich hier nie­mand um mich küm­mer­te. Das mach­te mich der­art un­glück­lich, dass ich mich in einen Zip­fel der Bett­de­cke wi­ckel­te und mich in Schlaf wein­te.

Hör­te dann je­mand sa­gen, »hier ist er«, und wach­te auf mit glüh­heißem Kopf. Mei­ne Mut­ter und Peg­got­ty hat­ten mich auf­ge­sucht, und eine von bei­den muss­te die Wor­te ge­spro­chen ha­ben.

»Davy«, sag­te mei­ne Mut­ter, »was fehlt dir?«

Ich fühl­te es als et­was sehr Son­der­ba­res, dass sie mich noch fra­gen konn­te, und ant­wor­te­te: »Nichts.« Ich leg­te mich aufs Ge­sicht, da­mit sie mei­ne zit­tern­den Lip­pen nicht sähe, die ihr bes­ser Aus­kunft ge­ge­ben hät­ten.

»Davy«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Davy, mein Kind!«

Kei­ne Wor­te hät­ten mich mehr rüh­ren kön­nen, als dass sie mich ihr Kind nann­te. Ich ver­barg mei­ne Trä­nen in den Kis­sen und dräng­te mei­ne Mut­ter weg, als sie mei­nen Kopf auf­he­ben woll­te.

»Das ist dein Werk, Peg­got­ty, du grau­sa­mes Ding!« schrie mei­ne Mut­ter. »Ich zweifle gar nicht dar­an. Wie kannst du es mit dei­nem Ge­wis­sen ver­ein­ba­ren, mei­nen eig­nen Jun­gen ge­gen mich oder ir­gend­je­mand, den ich lieb habe, auf­zu­het­zen? Was soll das hei­ßen, Peg­got­ty?«

Die arme Peg­got­ty er­hob Hän­de und Au­gen zum Him­mel und ant­wor­te­te nur mit ei­ner Art Pa­ra­phra­se des Tisch­ge­bets, das ich nach dem Es­sen her­zu­sa­gen pfleg­te: »Gott ver­ge­be Ih­nen, Mrs. Cop­per­field, was Sie in die­ser Mi­nu­te ge­sagt ha­ben. Mö­gen Sie es nie­mals ernst­lich be­reu­en!«

»Es ist zum Ver­rückt­wer­den!« rief mei­ne Mut­ter, »noch dazu in mei­nen Flit­ter­wo­chen, wo man den­ken soll­te, mein er­bit­terts­ter Feind müss­te Er­bar­men ha­ben und mir nicht das biss­chen Ruhe und Glück nei­den. Davy, du nichts­nut­zi­ger Jun­ge! Peg­got­ty, du wil­des Ge­schöpf! Ach Gott, ach Gott!« rief sie in ih­rer kin­di­schen Art. »Wie ist die Welt doch wi­der­wär­tig, gra­de wenn man so viel An­ge­neh­mes von ihr er­war­tet!«

Ich fühl­te die Berüh­rung ei­ner Hand, der ich so­gleich an­merk­te, dass sie we­der mei­ner Mut­ter noch Peg­got­ty ge­hör­te, und sprang rasch aus dem Bett. Es war Mr. Murd­sto­nes Hand, der mei­nen Arm fass­te. Ich hör­te, wie er sag­te:

»Was ist das, lie­be Kla­ra, hast du ver­ges­sen? Fes­tig­keit! mei­ne Lie­be!«

»Es tut mir recht leid, Ed­ward«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Ich habe mir alle Mühe ge­ge­ben, aber mir ist so un­be­hag­lich.«

»Wirk­lich!« ant­wor­te­te er. »So bald schon. Das ist ja recht schlimm, Kla­ra.«

»Es ist recht bit­ter, dass es mich jetzt so tref­fen muss«, sag­te mei­ne Mut­ter schmol­lend. »Sehr, sehr bit­ter, nicht wahr!«

Er zog sie an sich, flüs­ter­te ihr et­was ins Ohr und küss­te sie. Als ich sah, wie mei­ne Mut­ter ih­ren Kopf an sei­ne Schul­ter lehn­te und ih­ren Arm um sei­nen Na­cken schlang, da be­griff ich da­mals so gut wie jetzt, dass er ih­rem wei­chen Cha­rak­ter jede be­lie­bi­ge Ge­stalt ge­ben konn­te:

»Geh hin­un­ter, mei­ne Lie­be«, sag­te er. »Da­vid und ich wol­len auch hin­un­ter­kom­men.«

»Mei­ne Gute«, fuhr er mit ei­nem fins­tern Ge­sicht zu Peg­got­ty fort, als er mei­ne Mut­ter an die Tür be­glei­tet und mit ei­nem Ni­cken und ei­nem Lä­cheln ver­ab­schie­det hat­te. »Sie ken­nen doch den Na­men Ih­rer Her­rin!«

»Sie war lan­ge ge­nug mei­ne Her­rin, Sir«, ant­wor­te­te Peg­got­ty, »als dass ich ihn nicht ken­nen soll­te.«

»Das ist rich­tig«, ant­wor­te­te er, »aber mir schi­en es, wie ich die Trep­pe her­auf­kam, als ob Sie sie mit ei­nem Na­men an­re­de­ten, der nicht der ih­ri­ge ist. Sie wis­sen doch, dass sie mei­nen an­ge­nom­men hat. Ver­ges­sen Sie das nicht.«

Mit ei­ni­gen be­sorg­ten Bli­cken auf mich knix­te Peg­got­ty sich aus dem Zim­mer her­aus, ohne zu ant­wor­ten. Sie be­griff, dass sie ge­hen soll­te, und fand kei­nen Vor­wand, um da­zu­blei­ben. Als wir bei­de al­lein wa­ren, mach­te er die Türe zu, setz­te sich auf einen Stuhl, stell­te mich vor sich hin, wäh­rend er mich im­mer noch am Arm fest­hielt, und sah mir un­ver­wandt in die Au­gen. Ich fühl­te mei­nen Blick fest an ihn ge­bannt. Wenn ich mir vor­stel­le, wie wir uns da­mals Auge in Auge ge­gen­über­stan­den, kommt es mir vor, als hör­te ich wie­der mein Herz schnel­ler und lau­ter schla­gen.

»Da­vid«, sag­te er und press­te sei­ne Lip­pen ganz dünn zu­sam­men, »wenn ich einen ei­gen­sin­ni­gen Gaul oder Hund vor mir habe, was glaubst du wohl, tue ich dann mit ihm?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich prü­g­le ihn!«

Ich hat­te ihm mit ei­nem atem­lo­sen Ge­flüs­ter geant­wor­tet, aber in mei­nem Schwei­gen fühl­te ich, dass mein Atem noch kür­zer wur­de.

»Ich haue ihn, dass er sich win­det vor Schmerz. Ich sage mir, ich will den Bur­schen be­zwin­gen, und wenns ihm al­les Blut im Lei­be kos­ten soll­te. Was hast du im Ge­sicht?«

»Schmutz«, sag­te ich.

Er wuss­te so gut wie ich, dass es Trä­nen­spu­ren wa­ren. Aber wenn er mich zwan­zig­mal ge­fragt hät­te, je­des Mal mit zwan­zig Hie­ben, so glau­be ich doch, mein Kin­der­herz wäre eher ge­bro­chen, ehe ich ihm das ein­ge­stan­den hät­te.

»Du bist recht ge­scheit für dein Al­ter«, sag­te er mit dem erns­ten Lä­cheln, das ihm ei­gen war. »Und ich sehe, du hast mich ganz gut ver­stan­den. Wa­sche dir das Ge­sicht und kom­me mit mir her­un­ter.«

Er deu­te­te auf den Wasch­tisch, der mir wie Mrs. Gum­mid­ge vor­kam, und mach­te eine Be­we­gung mit dem Kopf, ich sol­le so­fort ge­hor­chen. Ich zwei­fel­te da­mals nicht und jetzt noch viel we­ni­ger, dass er mich ohne das ge­rings­te Er­bar­men zu Bo­den ge­schla­gen ha­ben wür­de, wenn ich ge­zö­gert hät­te.

»Mei­ne lie­be Kla­ra«, sag­te er, als er mit mir in das Wohn­zim­mer trat, im­mer noch mei­nen Arm fest­hal­tend, »ich hof­fe, du wirst jetzt kei­nen Ver­druss mehr ha­ben. Wir wer­den uns­re ju­gend­li­chen Lau­nen schon ab­le­gen und uns bes­sern.«

Gott hel­fe mir, ich hät­te für mein gan­zes Le­ben ge­bes­sert wer­den kön­nen, ich wäre ein ganz an­de­rer Mensch ge­wor­den durch ein ein­zi­ges freund­li­ches Wort da­mals. Ein Wort der Er­mu­ti­gung und Er­klä­rung und des Mit­ge­fühls für mei­ne kind­li­che Un­wis­sen­heit, des Will­komms in der Hei­mat, eine Ver­si­che­rung, dass das alte müt­ter­li­che Haus noch ganz das­sel­be sei, hät­ten mich zu ei­nem ge­hor­sa­men Sohn ge­macht, an­statt dass ich jetzt Ge­hor­sam heu­chel­te, – hät­ten mich ihn ach­ten ge­lehrt an­statt has­sen. Mir kam es so vor, als ob es mei­ner Mut­ter leid täte, mich so scheu und fremd im Zim­mer ste­hen zu se­hen. Und dass sie mir mit sor­gen­vol­len Bli­cken folg­te, als ich nach mei­nem Stuh­le schlich. Das Wort aber wur­de nicht ge­spro­chen, und die Zeit dazu war vor­über.

Wir speis­ten alle drei al­lein am Tisch. Er schi­en mei­ne Mut­ter sehr gern zu ha­ben, – ich fürch­te fast, er war mir des­halb nicht we­ni­ger zu­wi­der, – und sie war sehr zärt­lich zu ihm. Aus sei­nen Re­den merk­te ich, dass eine äl­te­re Schwes­ter von ihm an­kom­men soll­te und bei uns blei­ben. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon da­mals oder erst spä­ter er­fuhr, dass er einen Ge­schäfts­an­teil an ei­ner Wein­hand­lung in Lon­don be­saß, – schon von Groß­va­ters Zei­ten her, – an der sei­ne Schwes­ter in glei­cher Wei­se be­tei­ligt war; je­den­falls kann ich es gleich hier be­mer­ken.

Nach dem Es­sen, als wir vor dem Feu­er sa­ßen und ich dar­über nachsann, wie ich zu Peg­got­ty flüch­ten könn­te, da­bei aber nicht den Mut hat­te, zu ent­schlüp­fen, fuhr ein Wa­gen an der Gar­ten­tür vor, und er ging hin­aus, um den Be­such zu emp­fan­gen.

Mei­ne Mut­ter folg­te ihm. Ich ging schüch­tern hin­ter ihr drein, da dreh­te sie sich in der Stu­ben­tür um, drück­te mich im Dun­keln ans Herz, wie frü­her, und flüs­ter­te mir zu, ich sol­le mei­nen neu­en Va­ter lie­ben und ihm ge­hor­sam sein.

Sie tat das so has­tig und ge­heim­nis­voll, als ob es ein Un­recht wäre, aber mit großer Zärt­lich­keit. Dann zog sie mich hin­ter sich her in den Gar­ten, wo er stand. Dort ließ sie mich wie­der los und leg­te ih­ren Arm in den sei­nen.

Miss Murd­sto­ne war an­ge­kom­men, eine fins­ter aus­se­hen­de Dame, schwarz wie ihr Bru­der, dem sie in Ge­sicht und Stim­me sehr glich. Sie hat­te star­ke, bu­schi­ge Au­gen­brau­en, die über ih­rer großen Nase fast zu­sam­mens­tie­ßen, als woll­ten sie den Ba­cken­bart er­set­zen, den ihr Ge­schlecht ihr ver­sagt hat­te.

Sie brach­te ein paar un­nach­gie­bi­ge, schwar­ze Kof­fer mit, auf de­ren De­ckeln mit har­ten Mes­singnä­geln ihr Mo­no­gramm stand. Um den Kut­scher zu be­zah­len, hol­te sie ihr Geld aus ei­ner har­ten, stäh­ler­nen Bör­se. Sie trug die Bör­se in ei­nem wah­ren Ker­ker von Strick­beu­tel, der ihr an ei­ner schwe­ren Ket­te am Arm hing und wie ein Ge­biss schloss. Ich hat­te bis da­hin noch nie eine so durch und durch me­tal­li­sche Dame ge­se­hen wie Miss Murd­sto­ne.

Sie wur­de mit vie­len Zei­chen des Will­kom­mens in die Stu­be ge­führt, und dort er­kann­te mei­ne Mut­ter sie in al­ler Form als neue nahe Ver­wand­te an.

Dann blick­te mich Miss Murd­sto­ne an und sag­te:

»Ist das dein Jun­ge, Schwä­ge­rin?«

Mei­ne Mut­ter be­jah­te.

»Im All­ge­mei­nen«, sag­te Miss Murd­sto­ne, »kann ich Jun­gen nicht lei­den. Wie gehts dir, Jun­ge?«

Un­ter die­sen er­mu­ti­gen­den Um­stän­den ant­wor­te­te ich, dass es mir gut gin­ge und ich das­sel­be von ihr hoff­te, aber mit so we­nig Wär­me, dass Miss Murd­sto­ne mich mit den zwei Wor­ten ab­fer­tig­te:

»Kei­ne Ma­nie­ren.«

Nach­dem sie dies mit großer Be­stimmt­heit aus­ge­spro­chen, wünsch­te sie auf ihr Zim­mer ge­führt zu wer­den, das von der Zeit an für mich zu ei­nem Ort des Grau­ens und der Furcht wur­de, weil die bei­den schwar­zen Kof­fer stets ver­schlos­sen dort stan­den und eine Men­ge klei­ner Stahl­fes­seln und Kett­chen, mit de­nen sich Miss Murd­sto­ne zu ver­schö­nern pfleg­te, in furcht­ge­bie­ten­den Rei­hen über dem Spie­gel hin­gen.

So viel ich her­aus­be­kom­men konn­te, war sie in der Ab­sicht ge­kom­men, Gu­tes zu stif­ten, und sie trug sich nicht mit dem Ge­dan­ken, je­mals wie­der weg­zu­ge­hen. Schon am nächs­ten Mor­gen fing sie an, mei­ner Mut­ter zu »hel­fen«, und ging den gan­zen Tag in der Vor­rats­kam­mer aus und ein, um al­les zu­recht­zu­set­zen und die alte Ord­nung um­zu­stür­zen.

Ihre her­vor­ste­chends­te Ei­gen­schaft schi­en mir die zu sein, dass sie be­stän­dig arg­wöhn­te, die Dienst­mäd­chen hiel­ten ir­gend­wo im Hau­se einen Mann ver­bor­gen. Von die­sem Wahn be­ses­sen, tauch­te sie zu den un­ge­wöhn­lichs­ten Zei­ten in den Koh­len­kel­ler und öff­ne­te fast nie die Tür dunk­ler Schrän­ke, ohne sie zu­gleich wie­der zu­zu­schla­gen, im Glau­ben, dass sie »ihn« er­wi­scht hät­te.

Ob­gleich durch­aus nichts Lus­ti­ges sonst an Miss Murd­sto­ne war, glich sie doch in punc­to Früh­auf­ste­hen ei­ner Ler­che. Sie war auf den Bei­nen, wie ich heu­te noch glau­be, um nach dem Mann zu su­chen, ehe sich noch ir­gen­det­was im Hau­se reg­te. Peg­got­ty hul­dig­te der An­sicht, dass sie stets nur mit ei­nem Auge schlie­fe. Ich konn­te mich die­sem Glau­ben nicht an­schlie­ßen, seit ich selbst ver­sucht und her­aus­ge­fun­den hat­te, dass so et­was nicht mög­lich ist.

Schon am ers­ten Mor­gen nach ih­rer An­kunft stand sie früh auf und klin­gel­te beim ers­ten Hah­nen­schrei. Als mei­ne Mut­ter zum Früh­stück her­un­ter­kam, gab ihr Miss Murd­sto­ne eine Art Schna­bel­hieb auf die Wan­ge – das war bei ihr die kus­s­ähn­li­che Be­we­gung – und sag­te: »Nun, lie­be Kla­ra, du weißt, ich bin her­ge­kom­men, um dir al­les ab­zu­neh­men. Du bist viel zu hübsch und ge­dan­ken­los«, – mei­ne Mut­ter er­rö­te­te, lach­te aber und schi­en die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung nicht übel zu neh­men – »als dass dir Pf­lich­ten auf­er­legt wer­den dür­fen, die ich er­fül­len kann. Wenn du so gut sein willst, mir die Schlüs­sel zu über­ge­ben, mei­ne Lie­be, so will ich al­les das in Zu­kunft sel­ber be­sor­gen.«

Von die­ser Zeit an be­hielt Miss Murd­sto­ne die Schlüs­sel den Tag über in ih­rem Beu­tel und die Nacht über un­ter ih­rem Kopf­kis­sen; mei­ne Mut­ter hat­te nicht mehr da­mit zu tun als ich selbst.

Mei­ne Mut­ter ließ sich ihre Herr­schaft nicht rau­ben, ohne vor­her einen lei­sen Ver­such von Wi­der­stand zu ma­chen. Ei­nes Abends, als Miss Murd­sto­ne ih­rem Bru­der ge­wis­se Haus­hal­tungs­plä­ne ent­wi­ckelt hat­te und er sei­ne Zu­stim­mung gab, fing mei­ne Mut­ter plötz­lich an zu wei­nen und sag­te, man hät­te sie doch wohl auch zu Rate zie­hen kön­nen.

»Kla­ra«, sag­te Mr. Murd­sto­ne streng, »Kla­ra, ich bin er­staunt über dich!«

»Du hast gut von er­staunt sein spre­chen, Ed­ward«, rief mei­ne Mut­ter, »und von Fes­tig­keit, aber das wür­dest du dir auch nicht ge­fal­len las­sen.«

Fes­tig­keit, muss ich be­mer­ken, war die große Ei­gen­schaft, auf der bei­de, Mr. und Miss Murd­sto­ne, fuß­ten. Ich weiß nicht, wel­chen Na­men ich da­mals da­für ge­wählt hät­te, aber ich be­griff ge­nau, dass es nur eine an­de­re Be­zeich­nung für Ty­ran­nei war und für eine ge­wis­se fins­te­re, an­ma­ßen­de, teuf­li­sche Lau­ne, die in den bei­den steck­te. Das Glau­bens­be­kennt­nis, wür­de ich jetzt mich aus­drücken, Mr. Murd­sto­nes lau­te­te: Ich bin fest, nie­mand soll in der Welt so fest sein wie ich, nie­mand über­haupt fest, und al­les soll sich vor mei­ner Fes­tig­keit beu­gen. Miss Murd­sto­ne war die eine Aus­nah­me. Sie durf­te fest sein, aber nur aus ver­wandt­schaft­li­chen Rück­sich­ten und in ei­nem un­ter­ge­ord­ne­ten und tri­but­pflich­ti­gen Grad. Mei­ne Mut­ter war die zwei­te Aus­nah­me. Sie konn­te und durf­te fest sein und muss­te es, aber nur im Er­tra­gen der Fes­tig­keit der bei­den an­de­ren.

»Es ist sehr hart«, sag­te mei­ne Mut­ter, »dass ich in mei­nem eig­nen Haus –«

»In mei­nem eig­nen Hau­se?!« wie­der­hol­te Mr. Murd­sto­ne. »Kla­ra!«

»Un­serm eig­nen Hau­se, mei­ne ich«, stot­ter­te mei­ne Mut­ter ganz er­schro­cken, – »ich hof­fe, du weißt, was ich mei­ne, Ed­ward, es ist sehr hart, dass ich in dei­nem eig­nen Hau­se nicht ein Wort über häus­li­che An­ge­le­gen­hei­ten sa­gen darf. Ich habe si­cher sehr gut haus­ge­hal­ten, ehe wir hei­ra­te­ten. Ich habe Be­wei­se«, setz­te sie schluch­zend hin­zu. »Frag nur Peg­got­ty, ob es nicht recht gut ging, als man mir nicht drein­re­de­te.«

»Ed­ward«, sag­te Miss Murd­sto­ne, »ma­chen wir der Sa­che ein Ende. Ich rei­se mor­gen ab!«

»Jane Murd­sto­ne!« don­ner­te Mr. Murd­sto­ne, »wirst du schwei­gen! Was un­ter­stehst du dich!«

Miss Murd­sto­ne zog ihr Ta­schen­tuch aus dem Ker­ker und hielt es vor die Au­gen.

»Kla­ra«, fuhr er fort, »du set­zest mich in Er­stau­nen! Ja. Ich fand Be­frie­di­gung in dem Ge­dan­ken, eine un­er­fah­re­ne und harm­lo­se Per­son zu hei­ra­ten und ih­ren Cha­rak­ter zu bil­den und ihr et­was von der Fes­tig­keit und Ent­schie­den­heit zu ge­ben, die ihr feh­len. Aber wenn Jane Murd­sto­ne so gü­tig ist, mir dar­in bei­zu­ste­hen, und mei­net­we­gen eine Stel­lung gleich der ei­ner Haus­häl­te­rin über­nimmt und da­für so schlech­ten Dank ern­tet –«

»O bit­te, bit­te, Ed­ward!« rief mei­ne Mut­ter. »Sag nicht, dass ich un­dank­bar bin. Ich bin si­cher nicht un­dank­bar, das hat mir noch nie­mand ge­sagt. Ich habe vie­le Feh­ler, aber nicht die­sen. Bit­te, sage das nicht, Lieb­ling!«

»Wenn Jane Murd­sto­ne, sage ich«, fuhr er fort, nach­dem er mei­ne Mut­ter hat­te aus­re­den las­sen, »da­für Un­dank ern­tet, so füh­le ich mei­ne Ge­füh­le er­kal­ten.«

»Lieb­ling, bit­te, sag das nicht«, fleh­te mei­ne Mut­ter kläg­lich. »O bit­te, Ed­ward, ich kann das nicht er­tra­gen. Wie ich auch im­mer sein mag, ich bin nach­gie­big und dank­bar. Ich weiß, ich bin es, bin nach­gie­big und dank­bar. Ich wür­de es nicht sa­gen, wenn ich es nicht ge­wiss wüss­te. Frag nur Peg­got­ty. Sie wird es ge­wiss be­stä­ti­gen.«

»Blo­ße Schwä­che fällt bei mir nicht ins Ge­wicht, Kla­ra«, ent­geg­ne­te er. »Du ver­schwen­dest nur dei­ne Wor­te.«

»Komm, lass uns wie­der gut sein«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Ich könn­te nicht le­ben in Käl­te und Un­freund­lich­keit um mich her­um. Es tut mir so herz­lich leid. Ich habe sehr vie­le Feh­ler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Ed­ward, dass du mit dei­nem star­ken Cha­rak­ter dir Mühe gibst, mich zu bes­sern. Jane, ich will dir nicht mehr wi­der­spre­chen. Es wür­de mir das Herz bre­chen, wenn du nur dar­an däch­test, uns zu ver­las­sen –« mei­ne Mut­ter konn­te nicht wei­ter­spre­chen vor lau­ter Rüh­rung.

»Jane Murd­sto­ne«, sag­te Mr. Murd­sto­ne zu sei­ner Schwes­ter, »har­te Wor­te sind zwi­schen uns sel­ten. Es ist nicht mei­ne Schuld, dass heut abend ein so un­ge­wöhn­li­ches Er­eig­nis statt­ge­fun­den hat. Ich wur­de von je­mand an­ders dazu ge­bracht. Aber es ist auch nicht dei­ne Schuld, auch dich hat je­mand in eine schie­fe Lage ge­bracht. Wir wol­len bei­de trach­ten, es zu ver­ges­sen. Und da dies«, füg­te er nach die­sen groß­mü­ti­gen Wor­ten hin­zu, »kein pas­sen­des Bild ist für den Kna­ben, so geh zu Bett, Da­vid.«

Ich konn­te kaum die Türe fin­den, so voll Trä­nen stan­den mei­ne Au­gen. Ich fühl­te mei­ner Mut­ter Schmerz so tief mit; ich schlich hin­aus und tapp­te im Dun­keln die Trep­pe hin­auf in mein Zim­mer, ohne nur das Herz zu ha­ben, Peg­got­ty gute Nacht zu sa­gen oder mir eine Ker­ze von ihr ge­ben zu las­sen. Als sie viel­leicht eine Stun­de spä­ter nach mir sah, wach­te ich auf, und sie sag­te mir, mei­ne Mut­ter sei sehr be­trübt zu Bett ge­gan­gen, und Mr. und Miss Murd­sto­ne sä­ßen noch un­ten al­lein.

Am nächs­ten Mor­gen ging ich et­was frü­her als ge­wöhn­lich hin­un­ter und hör­te, wie drin­nen mei­ne Mut­ter Miss Murd­sto­ne de­mü­tigst um Ver­zei­hung bat. Die Dame ver­zieh ihr, und es fand eine voll­stän­di­ge Aussöh­nung statt. Nie wie­der spä­ter hör­te ich mei­ne Mut­ter über ir­gen­det­was eine Mei­nung äu­ßern, ehe sie sich nicht zu­vor an Miss Murd­sto­ne ge­wen­det oder in sich­re Er­fah­rung ge­bracht hat­te, was ihre An­sicht sei; und nie wie­der sah ich Miss Murd­sto­ne in üb­ler Lau­ne nach dem Beu­tel grei­fen, als ob sie die Schlüs­sel her­aus­neh­men und sie mei­ner Mut­ter zu­rück­ge­ben woll­te, ohne dass die­se nicht in die schreck­lichs­te Angst ge­ra­ten wäre.

Das dunkle Blut, das in den Adern der Murd­sto­nes floss, gab auch ih­rer Re­li­gi­on et­was Fins­te­res und Stren­ges. Ich habe seit­dem oft dar­über nach­ge­dacht, ob die­se Ei­gen­schaft nicht eine not­wen­di­ge Fol­ge war von Mr. Murd­sto­nes Fes­tig­keit, die ihm nie­mals er­lau­ben woll­te, ir­gend­je­mand von der strengs­ten Stra­fe frei­zu­spre­chen. Sei dem, wie es woll­te, ich kann mich noch recht gut der fins­tern und erns­ten Ge­sich­ter er­in­nern, mit de­nen wir zum Got­tes­dienst zu ge­hen pfleg­ten, und des ver­än­der­ten Ein­drucks, den die Kir­che auf mich mach­te.

Wie­der kommt der ge­fürch­te­te Sonn­tag, und ich mar­schie­re zu­erst in den al­ten Bet­stuhl, wie ein be­wach­ter Sträf­ling zu ei­nem Ge­fan­ge­nen­got­tes­dienst. Dicht hin­ter mir folgt Miss Murd­sto­ne in ei­nem schwar­zen Samt­kleid, das aus ei­nem Lei­chen­tuch ge­macht zu sein scheint. Dann kommt mei­ne Mut­ter, dann ihr Gat­te. Peg­got­ty geht nicht mehr mit wie frü­her. Wie­der höre ich Miss Murd­sto­ne die Re­spon­so­ri­en mur­meln und auf alle dro­hen­den Wor­te mit grau­sa­mem Be­ha­gen be­son­dern Nach­druck le­gen. Wie­der sehe ich ihre dunklen Au­gen in der Kir­che um­her­schwei­fen, wenn sie sagt »elen­de Sün­der«, als wenn sie die gan­ze Ge­mein­de in die­sem Na­men ein­schlie­ßen wol­le. Wie­der wer­fe ich ver­stoh­le­ne Bli­cke auf mei­ne Mut­ter, die ihre Lip­pen schüch­tern flüs­ternd be­wegt, wäh­rend das Sum­men der bei­den in ih­ren Ohren brummt wie fer­nes Donner­grol­len. Dann über­kommt mich eine plötz­li­che Furcht, ob nicht viel­leicht Mr. und Miss Murd­sto­ne recht ha­ben und un­ser gu­ter Pfar­rer un­recht, und dass alle En­gel im Him­mel Ra­cheen­gel sein könn­ten. Wenn ich einen Fin­ger rüh­re oder ein Mus­kel mei­nes Ge­sichts schlaff wird, stößt mich Miss Murd­sto­ne mit ih­rem Ge­bet­buch, dass mich die Sei­te schmerzt.

Und auf dem Heim­weg be­mer­ke ich, wie die Nach­barn mich und mei­ne Mut­ter an­se­hen und uns nach­bli­cken und mit­ein­an­der flüs­tern. Und wie die drei Arm in Arm ge­hen und ich al­lein hin­ter ih­nen drein, fol­ge ich die­sen Bli­cken und fra­ge mich, ob mei­ner Mut­ter Gang wirk­lich nicht mehr so leicht ist und ob das hei­te­re Glück ih­rer Schön­heit nicht schon ganz trüb ge­wor­den. Ich fra­ge mich, ob die Nach­barn wohl auch dar­an den­ken, wie wir bei­de frü­her nach Hau­se gin­gen, und ich zer­bre­che mir den Kopf dar­über den gan­zen lang­sam sich hin­schlep­pen­den trü­ben Tag.

Von Zeit zu Zeit war da­von die Rede ge­we­sen, mich in eine Kost­schu­le zu schi­cken. Mr. und Miss Murd­sto­ne hat­ten es an­ge­regt, und mei­ne Mut­ter hat­te na­tür­lich bei­ge­stimmt. Nichts­de­sto­we­ni­ger kam es vor­läu­fig noch nicht dazu. Vor­läu­fig hat­te ich zu Hau­se Lehr­stun­den.

Wer­de ich die­sen Un­ter­richt wohl je ver­ges­sen? Dem Na­men nach stand ihm mei­ne Mut­ter vor, in Wirk­lich­keit aber Mr. Murd­sto­ne und sei­ne Schwes­ter, die im­mer zu­ge­gen wa­ren und dar­in eine güns­ti­ge Ge­le­gen­heit sa­hen, mei­ner Mut­ter Lek­tio­nen in der Fes­tig­keit zu er­tei­len, die un­ser bei­der Le­ben ver­gif­te­te.

Ich glau­be, nur das war der Grund, wes­halb ich vor­läu­fig zu Hau­se be­hal­ten wur­de. Ich hat­te gut und wil­lig ge­lernt, als mei­ne Mut­ter und ich noch al­lein mit­ein­an­der leb­ten. Ich kann mich noch un­deut­lich er­in­nern, wie ich auf ih­rem Schoß das Al­pha­bet lern­te. Noch heu­te, wenn ich auf die fet­ten, schwar­zen Buch­sta­ben in ei­ner Fi­bel sehe, tritt mir die ver­wir­ren­de Neu­heit ih­rer Ge­stal­ten und die be­hä­bi­ge Ge­müt­lich­keit des »O, Q und S« ganz so vor die Au­gen wie da­mals. Aber sie er­in­nern mich an kein Ge­fühl des Wi­der­wil­lens oder des Ekels. Im Ge­gen­teil, es ist mir, als ob ich auf ei­nem Blu­men­pfad bis zum Kro­ko­dil­buch ge­wan­delt sei, und als ob mich die sanf­te Wei­se und Stim­me mei­ner Mut­ter auf dem gan­zen Wege ge­stärkt hät­ten.

Aber der fei­er­li­che Un­ter­richt, der spä­ter kam, steht vor mir, wie der Tod mei­nes See­len­frie­dens, wie eine täg­li­che, jäm­mer­li­che Pla­ge und kum­mer­vol­les Elend.

Die Lek­tio­nen wa­ren sehr lang, sehr zahl­reich, sehr schwer – ei­ni­ge voll­kom­men un­ver­ständ­lich für mich – und ver­wirr­ten mich meis­tens eben­so sehr, wie ver­mut­lich mei­ne Mut­ter.

Ich will ein­mal in der Erin­ne­rung so einen Mor­gen durch­ge­hen:

Ich tre­te nach dem Früh­stück mit mei­nen Bü­chern, ei­nem Schreib­heft und ei­ner Schie­fer­ta­fel ein. Mei­ne Mut­ter sitzt an ih­rem Schreib­tisch und ist be­reit für mich, aber nicht halb so be­reit wie Mr. Murd­sto­ne in sei­nem Lehn­stuhl am Fens­ter (wenn er auch vor­gibt, ein Buch zu le­sen) oder wie Miss Murd­sto­ne, die in der Nähe mei­ner Mut­ter sitzt und Stahl­per­len auf­rei­ht.

Der blo­ße An­blick der bei­den wirkt auf mich, dass ich mer­ke, wie die Wor­te, die ich mir mit so un­end­li­cher Mühe ein­ge­prägt habe, mir alle ent­fal­len und ge­hen, ich weiß nicht wo­hin. Ne­ben­bei ge­sagt, möch­te ich üb­ri­gens wirk­lich ger­ne wis­sen, wo sie ei­gent­lich hin­ge­hen.

Ich rei­che das ers­te Buch mei­ner Mut­ter. Es ist eine Gram­ma­tik, viel­leicht ein Ge­schichts- oder Geo­gra­fie­buch. Ich wer­fe noch einen letz­ten Blick auf die Sei­te, wie ein Er­trin­ken­der, wäh­rend ich ihr das Buch hin­hal­te, und fan­ge an im Ga­lopp auf­zu­sa­gen, um fer­tig zu wer­den, so­lan­ge ich noch al­les frisch im Kop­fe habe.

Ich sto­cke bei ei­nem Wort, Mr. Murd­sto­ne blickt auf.

Ich wer­de rot, wer­fe ein hal­b­es Dut­zend Wor­te ver­wirrt durch­ein­an­der und blei­be ste­cken. Ich füh­le, mei­ne Mut­ter wür­de mir das Buch zei­gen, wenn sie es wag­te, aber sie wagt es nicht und sagt sanft:

»O Davy, Davy!«

»Kla­ra«, sagt Mr. Murd­sto­ne, »sei fest mit dem Jun­gen. Sag nicht Davy, Davy! Das ist kin­disch. Ent­we­der kann er sei­ne Lek­ti­on oder er kann sie nicht.«

»Er kann sie nicht«, fällt Miss Murd­sto­ne mit grau­en­er­re­gen­dem Nach­druck ein.

»Ich fürch­te wirk­lich, er kann sie nicht«, sagt mei­ne Mut­ter.

»Nun dann, Kla­ra«, er­wi­dert Miss Murd­sto­ne, »soll­test du ihm das Buch zu­rück­ge­ben und ihm das sa­gen.«

»Ja, ge­wiss«, stimmt mei­ne Mut­ter bei. »Das woll­te ich tun, lie­be Jane. Also Davy, ver­such es noch ein­mal und mach es gut.«

Ich ge­hor­che dem ers­ten Teil der Er­mah­nung und ver­su­che es noch ein­mal; mit dem zwei­ten Teil bin ich nicht so glück­lich, denn ich ma­che es sehr schlecht. Ich blei­be ste­cken, frü­her noch als vor­hin, an ei­ner Stel­le, die ich eben noch gut kann­te, und hal­te inne, um nach­zu­den­ken. Aber ich kann nicht an die Auf­ga­be den­ken, ich muss dar­an den­ken, wie viel El­len Spit­zen auf Miss Murd­sto­nes Hau­be sein mö­gen oder was Mr. Murd­sto­nes Schlaf­rock ge­kos­tet oder an an­de­re al­ber­ne Din­ge, die mich nichts an­ge­hen! Mr. Murd­sto­ne macht die un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, die ich schon lan­ge er­war­tet habe. Miss Murd­sto­ne tut das­sel­be. Mei­ne Mut­ter blickt un­ter­wür­fig nach ih­nen hin, klappt das Buch zu und legt es bei­sei­te als einen Rück­stand, der nach­ge­holt wer­den muss, wenn die an­de­ren Auf­ga­ben be­en­det sind.

Bald liegt ein gan­zer Stoß sol­cher Rück­stän­de da und wächst an wie eine La­wi­ne. Je hö­her er wird, umso ver­na­gel­ter wer­de ich. Der Fall ist so hoff­nungs­los, dass ich das Ge­fühl habe, in ei­nem tie­fen Sumpf von Un­sinn her­um­zu­wa­ten, und je­den Ge­dan­ken wie­der her­aus­zu­be­kom­men auf­ge­be und mich mei­nem Schick­sal über­las­se. Die ver­zwei­fel­te Angst, mit der mei­ne Mut­ter und ich ein­an­der an­se­hen, ist wirk­lich trüb­sin­nig. Aber der Haupt­schlag kommt, wenn mei­ne Mut­ter sich un­be­ob­ach­tet glaubt und mir das Stich­wort durch eine Be­we­gung der Lip­pen zu ver­ra­ten sucht. In die­sem Au­gen­blick sagt Miss Murd­sto­ne, die bloß dar­auf ge­war­tet hat, mit tiefer war­nen­der Stim­me:

»Kla­ra!«

Mei­ne Mut­ter fährt zu­sam­men, wech­selt die Far­be und lä­chelt schüch­tern. Mr. Murd­sto­ne steht von sei­nem Stuhl auf, wirft mir das Buch an den Kopf oder schlägt es mir um die Ohren und schiebt mich bei den Schul­tern zur Tür hin­aus.

Wenn die Stun­den aus sind, kommt erst das Schlimms­te in Ge­stalt ei­nes ent­setz­li­chen Re­chenexem­pels. Das ist für mich be­son­ders er­fun­den und wird mir durch Mr. Murd­sto­ne münd­lich über­lie­fert. Es fängt an:

»Wenn ich in einen Kä­se­la­den gehe und kau­fe fünf­tau­send dop­pel­te Glou­ces­ter­kä­se zu vier und ei­nem hal­b­en Pen­ny – au­gen­blick­lich zahl­bar« – Miss Murd­sto­nes Züge wer­den über­glück­lich bei die­ser Wen­dung – und so wei­ter und so wei­ter. Bis Mit­tag brü­te ich über die­sen Kä­sen ohne Re­sul­tat oder Er­leuch­tung, und wenn ich dann durch Ab­wi­schen der mit Schie­fer be­schmutz­ten Fin­ger an mei­nem schweiß­trie­fen­den Ge­sicht einen Mu­lat­ten aus mir ge­macht habe, be­kom­me ich ein Stück­chen Brot ohne But­ter zu mei­nen Kä­sen und bin für den Abend in Un­gna­de ge­fal­len.

Nach so vie­len Jah­ren scheint es mir, als ob mei­ne un­glück­li­chen Stu­di­en im­mer den­sel­ben Ver­lauf ge­nom­men hät­ten. Ich wäre sehr gut vor­wärts­ge­kom­men ohne die Murd­sto­nes, aber ihr Ein­fluss auf mich war wie der ban­nen­de Blick, den zwei Schlan­gen auf einen ar­men klei­nen Vo­gel rich­ten.

Selbst wenn ich ziem­lich gut durch die Mor­ge­n­ar­bei­ten kam, hat­te ich nicht viel mehr ge­won­nen als die freie Zeit des Mit­ta­ges­sens, denn Miss Murd­sto­ne konn­te mich nie un­be­schäf­tigt se­hen; und wenn ich un­vor­sich­ti­ger­wei­se mer­ken ließ, dass ich ge­ra­de nichts zu tun hat­te, so lenk­te sie ih­res Bru­ders Auf­merk­sam­keit auf mich, in­dem sie sag­te: »Lie­be Kla­ra, es geht nichts über die Ar­beit, – gib dei­nem Jun­gen et­was auf.« Und das hat­te stets zur Fol­ge, dass ich so­fort über eine neue Ar­beit ge­duckt wur­de. Von Zer­streu­un­gen mit an­de­ren Kin­dern mei­nes Al­ters war kaum die Rede, denn dem fins­tern Pu­ri­ta­nis­mus der Murd­sto­nes er­schie­nen alle Kin­der wie eine Brut klei­ner Vi­pern. Als ob nie­mals ein Kind in die Mit­te der Jün­ger ge­stellt wor­den wäre!

Die na­tür­li­che Fol­ge die­ser viel­leicht sechs Mo­na­te oder noch län­ger fort­ge­setz­ten Be­hand­lungs­wei­se war, dass ich ganz stumpf, ver­stockt und schwer von Be­grif­fen wur­de. Nicht we­nig trug dazu bei, dass ich mich täg­lich mehr mei­ner Mut­ter ent­frem­det fühl­te. Ich glau­be, wenn mir nicht ein glück­li­cher Um­stand ge­hol­fen hät­te, ich wäre blöd­sin­nig ge­wor­den.

Und das war fol­gen­der. Mein Va­ter hat­te eine klei­ne Bü­cher­samm­lung in ei­ner Dach­stu­be ne­ben mei­nem Schlaf­raum, um die sich nie­mand küm­mer­te, hin­ter­las­sen. Aus die­sem ge­seg­ne­ten klei­nen Stüb­chen ka­men Ro­de­rick Ran­dom, Pe­re­gri­ne Pick­le, Hum­phrey Clin­ker, Tom Jo­nes, der Land­pre­di­ger von Wa­ke­field, Don Qui­cho­te, Gil Blas und Ro­bin­son Cru­soe – eine glor­rei­che Schar – zu mir, um mir Ge­sell­schaft zu leis­ten. Sie er­hiel­ten mei­ne Fan­ta­sie le­ben­dig – und mei­ne Hoff­nung auf et­was über die­sen Ort und die­se Zeit hin­aus; sie und Tau­send­und­ei­ne Nacht und die per­si­schen Mär­chen brach­ten mir kei­nen Scha­den, denn was in ei­ni­gen von ih­nen Schäd­li­ches sein moch­te, war für mich nicht da; ich ver­stand nichts da­von. Es ist mir nur un­be­greif­lich, wo­her ich in­mit­ten mei­nes Ho­ckens und Brü­tens über schwie­ri­ge­re The­men die Zeit nahm, alle die­se Bü­cher zu le­sen. Es ist mir jetzt wun­der­bar, wie es für mich in mei­nen klei­nen und doch so großen Lei­den tröst­lich sein konn­te, dass ich die Rol­len mei­ner Lieb­ling­s­cha­rak­tere in die­sen Ge­schich­ten auf mich über­trug und Mr. und Miss Murd­sto­ne mit al­len schlech­ten be­dach­te. Eine gan­ze Wo­che lang war ich Tom Jo­nes in Kin­der­ge­stalt. Die Rol­le Ro­de­rick Ran­doms habe ich wohl einen Mo­nat lang ge­spielt.

Ich fraß förm­lich ein paar Bän­de Rei­se­be­schrei­bun­gen, ich weiß nicht mehr, wel­che, und ta­ge­lang bin ich in der obe­ren Re­gi­on des Hau­ses heim­lich um­her­ge­streift, be­waff­net mit dem Mit­tel­stück ei­nes al­ten Stie­fel­hol­zes, als Ka­pi­tän Sound­so von der kö­nig­lich bri­ti­schen Flot­te, der von Wil­den be­droht war und sein Le­ben so teu­er wie mög­lich ver­kau­fen woll­te. Nie­mals ver­lor der Ka­pi­tän sei­ne Wür­de, wenn ihm die la­tei­ni­sche Gram­ma­tik um die Ohren ge­schla­gen wur­de. Ich litt wohl dar­un­ter, der Ka­pi­tän aber blieb Ka­pi­tän und ein Held trotz al­ler Gram­ma­ti­ken, al­ler le­ben­den und to­ten Spra­chen.

Das bil­de­te mei­nen ein­zi­gen und be­stän­di­gen Trost. Wenn ich dar­an den­ke, steht mir ein Som­mer­abend vor Au­gen, wo die Kin­der drau­ßen auf dem Kirch­hof spiel­ten und ich auf dem Bet­te saß und auf Tod und Le­ben drauf­los­las. Jede Scheu­ne in der Nach­bar­schaft, je­der Stein in der Kir­che, je­der Fuß­breit des Fried­hofs stan­den in mei­ner See­le in Ver­bin­dung mit die­sen Bü­chern und ver­tra­ten die Stel­le ei­nes in ih­nen be­rühmt ge­w­ord­nen Or­tes. Ich habe ge­se­hen, wie Tom Pi­pes den Kirch­turm hin­auf­klet­ter­te, habe Strab mit dem Schnapp­sack auf dem Rücken be­ob­ach­tet, wie er an der Git­ter­pfor­te am Zaun aus­ruh­te, und ich weiß, dass Com­mo­do­re Trun­ni­on sei­ne Klub­sit­zung mit Mr. Pick­le in der Gast­stu­be un­se­rer klei­nen Dorf­schen­ke ab­hielt. So war ich da­mals ge­ar­tet, als das Er­eig­nis ein­trat, von dem ich jetzt be­rich­ten will.

Ei­nes Mor­gens, als ich mit mei­nen Bü­chern in das Wohn­zim­mer trat, be­merk­te ich, dass mei­ne Mut­ter sehr ängst­lich aus­sah und Miss Murd­sto­ne sehr fest, wäh­rend Mr. Murd­sto­ne et­was um das un­te­re Ende ei­nes Rohr­stockes wi­ckel­te. Es war ein ge­schmei­di­ges und schäch­ti­ges Rohr, das er in der Hand wipp­te und durch die Luft sau­sen ließ, als ich her­ein­kam.

»Ich sage dir doch, Kla­ra«, be­merk­te Mr. Murd­sto­ne, »ich selbst bin oft durch­ge­hau­en wor­den.«

»Ge­wiss, selbst­ver­ständ­lich«, sag­te Miss Murd­sto­ne.

»Ge­wiss, lie­be Jane«, stam­mel­te mei­ne Mut­ter de­mü­tig. »Aber – aber meinst du, dass es Ed­ward gut­ge­tan hat?«

»Glaubst du, dass es Ed­ward ge­scha­det hat, Kla­ra?« frag­te Mr. Murd­sto­ne ernst.

»Das ist der sprin­gen­de Punkt«, sag­te sei­ne Schwes­ter.

»Ge­wiss, lie­be Jane«, wei­ter sag­te mei­ne Mut­ter nichts mehr.

Mich be­schlich das Ge­fühl, dass sich das Zwie­ge­spräch auf mich be­zö­ge. Und ich such­te und be­geg­ne­te Mr. Murd­sto­nes Blick.

»Nun, Da­vid?« sag­te er und sein Auge blitz­te. »Du musst dich heu­te viel mehr in acht neh­men als ge­wöhn­lich.« Er hieb wei­ter mit dem Rohr durch die Luft, und nach­dem er die­se Vor­be­rei­tung be­en­digt hat­te, leg­te er es mit aus­drucks­vol­lem Blick ne­ben sich hin und nahm ein Buch zur Hand.

Nur für den Be­ginn war dies eine gute Auf­fri­schung mei­ner Geis­tes­ge­gen­wart. Dann fühl­te ich, wie die Wor­te mir beim Auf­sa­gen ent­schwan­den, nicht ein­zeln oder zei­len­wei­se, son­dern gleich gan­ze Sei­ten lang. Ich ver­such­te mei­ne Ge­dan­ken wie­der ein­zu­fan­gen, aber es war, als ob sie Schlitt­schu­he an­hät­ten und mit un­auf­halt­sa­mer Ge­schwin­dig­keit weg­g­lit­ten.

Wir fin­gen schlecht an und fuh­ren noch schlech­ter fort. Ich war her­ein­ge­kom­men mit dem Be­wusst­sein, dass ich mich heu­te so­gar aus­zeich­nen wür­de, denn ich glaub­te recht gut vor­be­rei­tet zu sein, aber es stell­te sich als voll­stän­di­ger Irr­tum her­aus. Ein Buch nach dem an­de­ren ver­mehr­te den Hau­fen der Rück­stän­de, und Miss Murd­sto­ne wand­te die gan­ze Zeit über den Blick nicht von uns. Und als wir end­lich zu den fünf­tau­send Kä­sen ka­men, – er mach­te an die­sem Tage Rohr­stö­cke dar­aus –, fing mei­ne Mut­ter zu wei­nen an.

»Kla­ra!« sag­te Miss Murd­sto­ne mit war­nen­der Stim­me.

»Ich füh­le mich nicht ganz wohl, mei­ne lie­be Jane, glau­be ich«, sag­te mei­ne Mut­ter.

Ich sah Mr. Murd­sto­ne fei­er­lich sei­ner Schwes­ter zu­win­ken, als er auf­stand, das Rohr nahm und sag­te:

»Nun, Jane, wir kön­nen kaum er­war­ten, dass Kla­ra mit un­er­schüt­ter­li­cher Fes­tig­keit den Är­ger und die Qual trägt, die Da­vid ihr heu­te ver­ur­sacht hat. Das wür­de sto­isch sein. Kla­ra hat sich sehr ge­fes­tigt und ist viel stär­ker ge­wor­den, aber wir kön­nen kaum so viel von ihr er­war­ten. Da­vid, wir wol­len jetzt bei­de hin­auf­ge­hen.«

Als er mich aus der Türe zog, rann­te mei­ne Mut­ter auf uns zu. Miss Murd­sto­ne sag­te: »Kla­ra! Bist du denn ganz när­risch!« und trat da­zwi­schen. Ich sah, wie sich mei­ne Mut­ter die Ohren zu­hielt, und hör­te sie wei­nen.

Er führ­te mich in mein Zim­mer, lang­sam und fei­er­lich; ich weiß be­stimmt, es mach­te ihm Freu­de, die Exe­ku­ti­on so förm­lich zu ge­stal­ten – und als wir oben an­ge­kom­men wa­ren, klemm­te er plötz­lich mei­nen Kopf un­ter sei­nen Arm.

»Mr. Murd­sto­ne! Sir!« schrie ich auf. »O bit­te, schla­gen Sie mich nicht. Ich habe mir sol­che Mühe beim Ler­nen ge­ge­ben, Sir, aber ich kann es nicht auf­sa­gen, wenn Sie und Miss Murd­sto­ne da­bei sind. Ich kann es wirk­lich nicht!«

»Kannst du wirk­lich nicht, Da­vid?« frag­te er. »Wir wol­lens mal ver­su­chen.«

Er hielt mei­nen Kopf fest wie in ei­nem Schraub­stock. Aber ich ent­wand mich doch noch, und es ge­lang mir, ihn einen Au­gen­blick auf­zu­hal­ten. Nur einen Au­gen­blick, denn gleich dar­auf ver­setz­te er mir einen hef­ti­gen Schlag. In dem­sel­ben Au­gen­blick er­hasch­te ich sei­ne Hand mit mei­nem Mund und biss sie durch und durch. Es zuckt mir jetzt noch in den Zäh­nen, wenn ich dar­an den­ke.

Er schlug mich dann, als ob er mich tot­peit­schen woll­te. Durch all den Lärm, den wir mach­ten, hör­te ich die an­de­ren die Trep­pe her­auf­ren­nen und auf­schrei­en – ich hör­te mei­ne Mut­ter auf­schrei­en – und Peg­got­ty. Dann war er fort, und die Tür war von au­ßen ver­schlos­sen. Und ich lag fie­ber­heiß und zer­ris­sen und wund auf dem Bo­den und ras­te in ohn­mäch­ti­ger Wut.

Ich weiß mich gut zu er­in­nern, welch un­na­tür­li­che Stil­le im gan­zen Haus herrsch­te, als ich wie­der ru­hig wur­de. Ich kann mich gut ent­sin­nen, als Schmerz und Lei­den­schaft sich leg­ten, wie schlecht ich mir vor­kam.

Ich saß lan­ge Zeit lau­schend da, aber es war kein Laut zu ver­neh­men. Ich raff­te mich vom Bo­den auf und sah mein Ge­sicht im Spie­gel so ver­schwol­len und ent­stellt, dass ich mich ent­setz­te. Die Strie­men wa­ren wund und hart, und ich muss­te auf­schrei­en, wenn ich mich rühr­te. Aber sie wa­ren nichts ge­gen mein Schuld­be­wusst­sein. Es las­te­te schwer auf mei­ner Brust, wie wenn ich der schlimms­te Ver­bre­cher ge­we­sen wäre.

Es fing an zu dun­keln, und ich mach­te das Fens­ter zu, – ich hat­te die gan­ze Zeit über mit dem Kopf auf dem Fens­ter­brett ge­le­gen und ab­wech­selnd ge­weint, halb ge­schla­fen oder ge­dan­ken­los hin­aus­ge­se­hen, – als sich der Schlüs­sel her­um­dreh­te und Miss Murd­sto­ne mit Brot, Fleisch und Milch her­ein­trat. Ohne ein Wort zu spre­chen, setz­te sie es auf den Tisch und starr­te mich wäh­rend­des­sen un­un­ter­bro­chen mit größ­ter Fes­tig­keit an, ent­fern­te sich dann und schloss die Türe hin­ter sich zu.

Noch lan­ge saß ich im Dun­keln da und grü­bel­te, ob sonst noch je­mand kom­men wer­de. Als das für die­sen Abend un­wahr­schein­lich wur­de, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furcht­sam zu fra­gen, was jetzt wohl mit mir ge­sche­hen wür­de. War es ein Ver­bre­chen, das ich be­gan­gen hat­te? Wür­de man mich ver­haf­ten und ins Ge­fäng­nis ste­cken, mich am Ende gar hän­gen?!

Ich wer­de nie das Er­wa­chen am nächs­ten Mor­gen ver­ges­sen: Im ers­ten Au­gen­blick froh und hei­ter, war ich plötz­lich durch die er­wa­chen­de Erin­ne­rung wie nie­der­ge­schmet­tert. Miss Murd­sto­ne er­schi­en wie­der, ehe ich mich er­hob, sag­te mir mit kur­z­en Wor­ten, dass ich eine hal­be Stun­de, aber nicht län­ger, spa­zie­ren­ge­hen dürf­te, und ver­schwand. Sie ließ dies­mal die Türe of­fen, da­mit ich von der Er­laub­nis Ge­brauch ma­chen könn­te.

Ich tat es und je­den fol­gen­den Mor­gen mei­ner Ge­fan­gen­schaft, die fünf Tage dau­er­te. Wenn ich mei­ne Mut­ter al­lein hät­te se­hen kön­nen, wäre ich vor ihr auf die Knie ge­fal­len und hät­te sie um Ver­zei­hung ge­be­ten, aber ich be­kam nie­mand zu Ge­sicht, au­ßer Miss Murd­sto­ne. Eine Aus­nah­me bil­de­te nur die Zeit des Abend­ge­be­tes in der Wohn­stu­be; dort­hin führ­te mich Miss Murd­sto­ne, und ich muss­te wie ein jun­ger Sträf­ling an der Tür ste­hen blei­ben, wäh­rend alle ihre Plät­ze ein­nah­men; und ehe sie sich er­ho­ben, führ­te mich mei­ne Ker­ker­meis­te­rin mit großer Fei­er­lich­keit wie­der ins Ge­fäng­nis. Ich be­merk­te, dass mei­ne Mut­ter, am al­ler­wei­tes­ten von mir ent­fernt, ihr Ge­sicht von mir ab­ge­wandt hielt, und dass Mr. Murd­sto­nes Hand mit ei­nem großen lei­ne­nen Tuch ver­bun­den war.

Wie ent­setz­lich lang mir die­se fünf Tage wur­den, kann ich nicht be­schrei­ben. Sie neh­men in mei­ner Erin­ne­rung den Raum von Jah­ren ein. Die Span­nung, mit der ich al­len Vor­komm­nis­sen im Hau­se lausch­te, das Klin­geln, das Öff­nen und Schlie­ßen von Tü­ren, das Mur­meln von Stim­men, die Schrit­te auf den Trep­pen, das La­chen, Pfei­fen und Sin­gen drau­ßen, das mir in mei­ner Ein­sam­keit und Ver­sto­ßen­heit furcht­ba­rer er­schi­en, als al­les an­de­re, das un­ge­wis­se Schlei­chen der Stun­den, be­son­ders des Nachts, wenn ich in dem Glau­ben auf­wach­te, es sei schon Mor­gen, wäh­rend die Fa­mi­lie noch nicht zu Bett ge­gan­gen war und ich noch die gan­ze lan­ge Nacht vor mir hat­te, – die quä­len­den Träu­me mit ih­rem Alp­drücken, – die Wie­der­kehr von Mor­gen, Mit­tag, Nach­mit­tag und Abend, wo die Jun­gen drau­ßen auf dem Kirch­hof spiel­ten, und ich sie vom Hin­ter­grund des Zim­mers aus be­ob­ach­te­te, weil ich mich schäm­te, mich wie ein Ge­fan­ge­ner am Fens­ter zu zei­gen, – das fremd­ar­ti­ge Ge­fühl, dass ich mich nie spre­chen hör­te, – die flüch­ti­gen Pau­sen schnell ent­schwin­den­der Er­leich­te­rung, die mit dem Es­sen und Trin­ken kam und wie­der ging, der Re­gen ei­nes Abends mit sei­nem fri­schen Duft, wie er im­mer dich­ter und dich­ter wur­de zwi­schen mir und der Kir­che, bis er und die her­ein­bre­chen­de Nacht mich in ei­ner Fins­ter­nis von Furcht und Reue zu er­sti­cken droh­ten, – al­les das scheint Jah­re statt Tage ge­dau­ert zu ha­ben, so le­ben­dig und tief hat es sich mir ein­ge­prägt.

In der letz­ten Nacht mei­ner Haft wach­te ich auf und hör­te mei­nen Na­men flüs­tern. Ich rich­te­te mich im Bett auf, brei­te­te mei­ne Arme im Dun­keln aus und frag­te:

»Bist dus, Peg­got­ty?«

Es kam nicht so­gleich eine Ant­wort. Aber nicht lan­ge dar­auf hör­te ich wie­der mei­nen Na­men in ei­nem so ge­heim­nis­vol­len und schau­ri­gen Ton, dass ich vor Schre­cken wahr­schein­lich ohn­mäch­tig ge­wor­den wäre, hät­te ich nicht plötz­lich be­grif­fen, dass er durch das Schlüs­sel­loch kom­men müs­se. Ich tapp­te mich zur Tür, leg­te den Mund an das Schlüs­sel­loch und flüs­ter­te:

»Bist dus, lie­be Peg­got­ty?«

»Ja, mein ein­zi­ger lie­ber Davy. Sei so lei­se wie eine Maus, sonst hört uns die Kat­ze.«

Ich ver­stand so­gleich, dass Miss Murd­sto­ne ge­meint war, und fühl­te die Not­wen­dig­keit der Vor­sicht, denn ihr Zim­mer stieß dicht an mei­nes.

»Was macht Mama, lie­be Peg­got­ty? Ist sie sehr böse auf mich?«

Ich konn­te hö­ren, dass Peg­got­ty lei­se vor der Tür wein­te, – wie ich, ehe sie ant­wor­ten konn­te:

»Nein, nicht sehr.«

»Was wird mit mir ge­sche­hen, lie­be Peg­got­ty? Weißt du es?«

»Schu­le. Bei Lon­don«, war Peg­got­tys Ant­wort. Sie muss­te es noch ein­mal wie­der­ho­len, denn sie hat­te es das ers­te Mal in mei­nen Hals hin­ein­ge­spro­chen, weil ich ver­gaß, den Mund vom Schlüs­sel­loch weg­zu­neh­men und das Ohr dar­an­zu­le­gen. Ihre Wor­te kit­zel­ten mich sehr, aber ver­ste­hen konn­te ich sie nicht.

»Wann, Peg­got­ty?«

»Mor­gen.«

»Hat des­halb Miss Murd­sto­ne mei­ne Klei­der aus der Kom­mo­de ge­nom­men?«

»Ja«, sag­te Peg­got­ty. »Kof­fer.«

»Wer­de ich Mama nicht mehr wie­der­se­hen?«

»Ja«, sag­te Peg­got­ty. »Mor­gen früh.« Dann leg­te sie ihre Lip­pen dicht an das Schloss und sprach die fol­gen­den Wor­te so ge­fühl­voll und in­nig, wie sie wohl nie durch ein Schlüs­sel­loch mit­ge­teilt wor­den sind, und stieß je­den Satz ab­ge­bro­chen mit ei­nem krampf­haf­ten klei­nen Ruck her­vor:

»Lie­ber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herz­lich – mit dir bin, wie frü­her, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr lie­be, mein lie­bes Her­zen­spüpp­chen, – son­dern bloß weil ich glau­be, es ist bes­ser für dich – und für je­mand an­ders. Davy, mein Lieb­ling, hörst du mich? Kannst du hö­ren?«

»Ja-a-a-a, Peg­got­ty«, schluchz­te ich.

»Du mein Her­zens­kind«, flüs­ter­te Peg­got­ty mit un­end­li­chem Mit­leid. »Ich will dir nur sa­gen, du darfst mich nie­mals ver­ges­sen. Auch ich will dich nie­mals ver­ges­sen. Und ich will dei­ne Mama, Davy, so in acht neh­men, wie ich dich in acht ge­nom­men habe. Und ich wer­de sie nie ver­las­sen. Der Tag wird noch kom­men, wo sie gern ih­ren ar­men Kopf ih­rer dum­men, mür­ri­schen, al­ten Peg­got­ty wie­der auf den Arm le­gen wird. Ich wer­de dir schrei­ben, mein Lieb­ling. Wenn ich auch kein Ge­lehr­ter bin, und ich will – ich will –« Peg­got­ty fing an, das Schlüs­sel­loch zu küs­sen, da sie mich nicht küs­sen konn­te.

»Ich dan­ke dir, mei­ne lie­be Peg­got­ty«, sag­te ich. »Ich dan­ke, dan­ke dir. Willst du mir nur eins ver­spre­chen, Peg­got­ty? Wirst du Mr. Peg­got­ty und der klei­nen Emly und Mrs. Gum­mid­ge und Ham sa­gen, dass ich nicht so schlecht bin, wie sie viel­leicht den­ken, und dass ich sie alle von Her­zen grü­ßen las­se, be­son­ders die klei­ne Emly? Willst du so gut sein, Peg­got­ty?«

Die gute See­le ver­sprach mirs, und wir küss­ten bei­de das Schlüs­sel­loch mit der größ­ten Zärt­lich­keit, – ich strei­chel­te es mit der Hand, ent­sin­ne ich mich noch, als ob es ihr ehr­li­ches Ge­sicht ge­we­sen wäre, – und trenn­ten uns. Seit die­ser Nacht wuchs in mir ein Ge­fühl für Peg­got­ty, das ich nicht recht be­schrei­ben kann. Sie er­setz­te mir nicht mei­ne Mut­ter, nie­mand hät­te das kön­nen, aber sie füll­te eine Lee­re in mei­nem Her­zen aus, die sich über ihr schloss, und ich fühl­te et­was für sie, was ich nie für ein an­de­res mensch­li­ches We­sen emp­fun­den habe. Es misch­te sich das Ge­fühl des Ko­mi­schen wohl un­ter mei­ne Zärt­lich­keit, und den­noch kann ich mir nicht vor­stel­len, wie ich den Schmerz er­tra­gen hät­te, wenn sie ge­stor­ben wäre.

Früh­mor­gens er­schi­en Miss Murd­sto­ne wie ge­wöhn­lich und sag­te mir, dass ich in die Schu­le ge­schickt wür­de, was mich durch­aus nicht so über­rasch­te, wie sie wohl an­ge­nom­men hat­te. Sie sag­te mir auch, dass ich hin­un­ter­kom­men soll­te in die Wohn­stu­be zum Früh­stück. Dort fand ich mei­ne Mut­ter sehr blass und mit ro­ten Au­gen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tief­be­weg­ter See­le um Ver­zei­hung.

»O Davy!« sag­te sie, »dass du je­mand weh tun konn­test, den ich lie­be. Ver­su­che dich zu bes­sern, bete dar­um, dass du bes­ser wer­dest. Ich ver­zei­he dir, aber ich bin voll Kum­mer, Davy, dass du ein so bö­ses Herz hast.«

Sie hat­ten ihr ein­ge­re­det, dass ich ein ver­wor­fe­nes Ge­schöpf wäre, und das schmerz­te sie mehr als mein Fort­ge­hen. Auf mich mach­te es einen tie­fen Ein­druck.

Ich ver­such­te mein Ab­schieds­früh­stück zu es­sen, aber die Trä­nen tröp­fel­ten auf mein But­ter­brot und in mei­nen Tee.

Ich sah, wie mei­ne Mut­ter mich von Zeit zu Zeit an­blick­te und dann auf Miss Murd­sto­ne sah und die Au­gen nie­der­schlug oder weg­schau­te.

»Ist Mas­ter Cop­per­fields Kof­fer da?« frag­te Miss Murd­sto­ne, als drau­ßen der Wa­gen vor­fuhr. Ich sah mich nach Peg­got­ty um, aber we­der sie noch Mr. Murd­sto­ne er­schi­en. Mein al­ter Be­kann­ter, der Fuhr­mann, stand an der Tür, nahm den Kof­fer und hob ihn auf den Wa­gen.

»Kla­ra!« sag­te Miss Murd­sto­ne in war­nen­dem Ton.

»Ich bin be­reit, lie­be Jane«, sag­te mei­ne Mut­ter. »Leb wohl, Davy, du gehst zu dei­nem eig­nen Bes­ten. Leb wohl, mein Kind, du wirst in den Fei­er­ta­gen nach Hau­se kom­men und ein bes­se­rer Jun­ge sein.«

»Kla­ra!« wie­der­hol­te Miss Murd­sto­ne.

»Ge­wiss, mei­ne lie­be Jane«, ant­wor­te­te mei­ne Mut­ter und hielt mei­ne Hand noch im­mer fest. »Ich ver­zei­he dir, mein lie­ber Jun­ge. Gott seg­ne dich!«

»Kla­ra!« wie­der­hol­te Miss Murd­sto­ne. Sie hat­te die Güte, mich zum Wa­gen zu füh­ren und mir un­ter­wegs zu sa­gen, sie hof­fe, ich wür­de in mich ge­hen, ehe es ein schlim­mes Ende mit mir näh­me, und dann stieg ich in den Wa­gen und das fau­le Pferd trot­te­te mit mir da­von.

David Copperfield

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