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13. Kapitel – Die Folgen meines Entschlusses

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Als ich die Ver­fol­gung des Bur­schen auf­gab, moch­te ich wohl die Ab­sicht ge­habt ha­ben, den gan­zen Weg nach Do­ver zu lau­fen. Sehr bald aber mach­te ich Halt in Kent-Road vor ei­nem klei­nen Hau­se mit ei­nem win­zi­gen Tisch da­vor, in des­sen Mit­te eine große ge­schmack­lo­se Bild­säu­le, die auf ei­ner Mu­schel blies, stand. Hier setz­te ich mich auf eine Tür­stu­fe, ganz er­schöpft und so atem­los, dass ich nicht ein­mal über den Ver­lust mei­nes Kof­fers und mei­ner hal­b­en Gui­nee wei­nen konn­te.

Es war be­reits dun­kel, und ich hör­te die Uhren zehn Uhr schla­gen. Zum Glück war eine Som­mer­nacht und schö­nes Wet­ter. Als ich wie­der zu Atem ge­kom­men, das er­sti­cken­de Ge­fühl in mei­ner Keh­le her­un­ter­ge­würgt hat­te, ging ich wie­der wei­ter. Ich dach­te nicht einen Au­gen­blick dar­an, um­zu­keh­ren.

Es be­un­ru­hig­te mich sehr, dass ich nur drei­ein­halb Pence be­saß, wun­der­bar ge­nug, dass ich an ei­nem Sams­tag­abend über­haupt noch so viel in der Ta­sche hat­te. Ich sah mich schon in der Zei­tung un­ter ei­ner He­cke tot auf­ge­fun­den und schlepp­te mich elend, doch so schnell wie mög­lich fort, bis ich an ei­nem klei­nen La­den vor­bei­kam, wo, aus der Über­schrift zu schlie­ßen, Da­men- und Her­ren­gar­de­ro­be ge­kauft und der höchs­te Preis für Lum­pen, Kno­chen und Kü­chen­ab­fall ge­zahlt wur­de. Der In­ha­ber des La­dens saß in Hemds­är­meln vor der Tür und rauch­te. Vie­le Rö­cke und Ho­sen hin­gen von der nie­de­ren De­cke her­ab, und nur zwei trü­be Ker­zen er­hell­ten das In­ne­re des La­dens. Der Mann sah aus wie ein Ra­che­geist, der alle sei­ne Fein­de auf­ge­henkt hat und sich nun in Ge­müts­ru­he ih­res An­blicks freut.

Die bei Mr. und Mrs. Mi­ca­w­ber er­worb­ne Er­fah­rung sag­te mir, dass sich mir hier ein Mit­tel bie­ten könn­te, um den Hun­ger­tod noch ein we­nig hin­aus­zu­schie­ben. Ich ging in das nächs­te Sei­ten­gäss­chen, zog mei­ne Wes­te aus, nahm sie sau­ber zu­sam­men­ge­rollt un­ter den Arm und kehr­te wie­der zu der La­den­tür zu­rück.

»Sir«, sag­te ich, »ich soll dies um einen an­stän­di­gen Preis ver­kau­fen.«

Mr. Dol­lo­by – die­sen Na­men führ­te das Fir­ma­schild – nahm die Wes­te, lehn­te die Pfei­fe an den Tür­pfos­ten, trat vor mir in den La­den, schneuz­te die bei­den Lich­ter mit den Fin­gern, brei­te­te die Wes­te auf dem La­den­tisch aus und be­trach­te­te sie, hielt sie ge­gen das Licht und sag­te end­lich:

»Was nen­nen Sie denn einen Preis für das klei­ne West­chen?«

»O, das wis­sen Sie wohl am bes­ten«, er­wi­der­te ich be­schei­den.

»Ich kann nicht Käu­fer und Ver­käu­fer zu­gleich sein«, sag­te Mr. Dol­lo­by. »Nen­nen Sie einen Preis.«

»Wür­den acht­zehn Pence –?« sag­te ich nach ei­ni­gem Zö­gern.

Mr. Dol­lo­by roll­te die Wes­te wie­der zu­sam­men und gab sie mir zu­rück. »Ich wür­de mei­ne Fa­mi­lie be­rau­ben«, sag­te er, »wenn ich neun Pence da­für böte.«

Das war eine un­an­ge­neh­me Art zu han­deln, weil sie mich – einen ganz Frem­den – in die un­an­ge­neh­me Lage ver­setz­te, von Mr. Dol­lo­by zu ver­lan­gen, dass er mei­net­we­gen sei­ne Fa­mi­lie be­rau­ben soll­te.

Da mei­ne Not so groß war, sag­te ich, ich woll­te neun Pence neh­men.

Nicht ohne Ge­brumm gab Mr. Dol­lo­by die neun Pence. Ich wünsch­te ihm gute Nacht und ver­ließ den La­den rei­cher um die­se Sum­me und är­mer um eine Wes­te; aber wenn ich die Ja­cke zu­knöpf­te, fühl­te ich es nicht sehr.

Ich sah mit ziem­li­cher Be­stimmt­heit kom­men, dass mei­ne Ja­cke dem­nächst wür­de den­sel­ben Weg ge­hen müs­sen, und dass ich wohl ge­zwun­gen sein wür­de, den größ­ten Teil mei­nes Wegs nach Do­ver in Hemd und Ho­sen zu­rück­zu­le­gen, und mich noch glück­lich schät­zen dürf­te, wenn es mir ge­län­ge, noch in sol­chem Auf­zug hin­zu­kom­men. Trotz­dem mach­te ich mir nicht all­zu viel dar­aus.

Es war mir ein Plan ein­ge­fal­len, wie ich die Nacht ver­brin­gen konn­te, und ich mach­te mich dar­an, ihn zur Aus­füh­rung zu brin­gen. Ich woll­te mich hin­ter die Rück­mau­er mei­ner al­ten Schu­le in eine Ecke, wo frü­her ein Heu­scho­ber stand, le­gen. Ich bil­de­te mir ein, es wäre eine Art Ge­sell­schaft, wenn ich die Schü­ler und das Schlaf­zim­mer, in dem ich im­mer so viel Ge­schich­ten er­zählt, in der Nähe wüss­te, wenn auch nie­mand drin et­was von mei­ner An­we­sen­heit ahn­te.

Ich hat­te einen lan­gen Marsch hin­ter mir und war ganz ab­ge­hetzt, als ich end­lich auf die Ebe­ne von Black­heath hin­aus­kam. Ich fand nach lan­ger Mühe Sa­lem­haus, fand auch den Heu­scho­ber in der Ecke und leg­te mich nie­der, nach­dem ich vor­her um die Mau­er her­um­ge­gan­gen, nach den Fens­tern ge­se­hen und al­les fins­ter und still ge­fun­den hat­te. Nie wer­de ich das Ge­fühl von Ver­las­sen­heit ver­ges­sen, das ich emp­fand, als ich mich das ers­te Mal ohne ein Dach über mei­nem Haupt, nur den Him­mel über mir, nie­der­leg­te.

Aber der Schlaf kam zu mir, wie er zu den Ver­sto­ße­nen kommt, de­nen die Hau­stü­ren ver­schlos­sen sind, und die von den Hun­den an­ge­bellt wer­den. Ich träum­te, ich läge in mei­nem al­ten Schul­bett und fand mich ein­mal auf­recht sit­zend mit Steer­forths Na­men auf der Zun­ge und wild nach den Ster­nen star­rend, die über mir schim­mer­ten. Als mir dann klar­ge­wor­den, wo ich mich zu die­ser un­ge­wöhn­li­chen Stun­de be­fand, über­lief mich ein merk­wür­di­ges Ge­fühl, das mich be­wog, auf­zu­ste­hen und her­um­zu­ge­hen. Der mat­te­re Schim­mer der Ster­ne und das Däm­mern im Os­ten be­ru­hig­ten mich. Da ich noch sehr schläf­rig war, leg­te ich mich wie­der hin und schlum­mer­te ein und fühl­te im Schlaf, wie kalt es war, bis mich die war­men Strah­len der Son­ne und die Früh­glo­cke von Sa­lem­haus weck­ten. Ich wuss­te, dass Steer­forth fort sein muss­te, sonst hät­te ich viel­leicht auf ihn ge­war­tet. Mög­li­cher­wei­se war Tradd­les noch da, doch ich hat­te nicht ge­nug Ver­trau­en auf sei­ne Ver­schwie­gen­heit, um ihm mei­ne Lage an­ver­trau­en zu kön­nen, so sehr ich mich auf sein gu­tes Herz hät­te ver­las­sen dür­fen. So schlich ich mich fort von der Mau­er, als Mr. Cre­akles Jun­gen auf­stan­den, und schlug die stau­bi­ge Stra­ße nach Do­ver ein.

Wie ver­schie­den war die­ser Sonn­tag­mor­gen von je­nem da­mals in Yar­mouth. Ich hör­te die Kir­chen­glo­cken läu­ten, als ich mich lang­sam hin­schlepp­te, be­geg­ne­te den sonn­täg­lich ge­klei­de­ten Leu­ten, kam an eine oder zwei Kir­chen vor­bei, in de­nen der Got­tes­dienst ab­ge­hal­ten wur­de, wäh­rend der Büt­tel im küh­len Schat­ten des Ein­gangs saß oder un­ter dem Ei­ben­baum stand und mir miss­trau­isch nachsah. Frie­de und Ruhe des Sonn­tag­mor­gens über­all, nur nicht in mir. Ich kam mir so ver­kom­men vor in mei­nem Schmutz, so be­staubt und mit wir­rem Haar. Ohne das stil­le Bild mei­ner Mut­ter in Ju­gend und Schön­heit, wie sie wei­nend beim Feu­er sitzt und mei­ne Tan­te weich wird ihr ge­gen­über, im Her­zen, hät­te ich kaum den Mut ge­habt, noch bis zum nächs­ten Tag aus­zu­hal­ten. Aber es schweb­te im­mer vor mir her, und ich ging hin­ter ihm drein.

Ich leg­te an die­sem Sonn­tag drei­und­zwan­zig eng­li­sche Mei­len auf der Land­stra­ße zu­rück und es fiel mir nicht leicht, denn ich war das Wan­dern nicht ge­wöhnt. Ich sehe mich bei her­ein­bre­chen­dem Abend über die Brücke von Ro­che­s­ter ge­hen, müde, mit wun­den Fü­ßen und das Brot ver­zeh­rend, das ich mir zum Abendes­sen ge­kauft. Ein oder zwei klei­ne Häu­ser mit der Auf­schrift »Nacht­quar­tier für Rei­sen­de« hat­ten mich wohl ge­lockt, doch ich fürch­te­te, die paar Pence, die ich noch be­saß, aus­zu­ge­ben, und emp­fand noch mehr Angst vor den ver­däch­ti­gen Bli­cken der Strol­che, de­nen ich un­ter­wegs be­geg­net. Ich such­te mir da­her kein an­de­res Dach als den Him­mel, und als ich Chat­ham er­reich­te, das bei Nacht aus­sieht wie ein Traum voll Mau­ern, Zug­brücken und mast­lo­sen Schif­fen mit Ver­de­cken, wie Ar­chen, kroch ich auf eine alte gras­be­wach­se­ne Schan­ze, vor der eine Schild­wa­che auf und ab ging. Hier leg­te ich mich ne­ben eine Ka­no­ne und schlief ge­sund bis zum Mor­gen, glück­lich, von wei­tem die Schrit­te der Schild­wa­chen zu hö­ren.

Am nächs­ten Mor­gen war ich ganz steif, und das Trom­mel­wir­beln und der Schritt der mar­schie­ren­den Trup­pen, die mich rings­um ein­zu­schlie­ßen schie­nen, als ich nach der lan­gen schma­len Stra­ße hin­ab­ging, be­täub­ten mich förm­lich. Ich fühl­te, dass ich die­sen Tag nur eine kur­ze Stre­cke wür­de zu­rück­le­gen kön­nen, wenn ich mir noch et­was Kraft für den letz­ten Teil mei­ner Rei­se auf­spa­ren woll­te. Ich be­schloss da­her vor al­lem den Ver­kauf mei­ner Ja­cke ins Auge zu fas­sen. Ich zog also mei­ne Ja­cke aus, um mich dar­an zu ge­wöh­nen, ohne sie aus­zu­kom­men, nahm sie un­ter den Arm und sah mich nach Tröd­ler­lä­den um.

Es war ein sehr ge­eig­ne­ter Ort für den Ver­kauf ei­ner Ja­cke, denn die »Händ­ler in al­ten Klei­dern« wa­ren sehr zahl­reich und schau­ten in ih­ren La­den­tü­ren nach Kun­den aus. Aber da bei den meis­ten ein oder zwei Of­fi­zier­s­uni­for­men mit Epau­let­ten im La­den­fens­ter hin­gen, schreck­te mich der vor­neh­me Cha­rak­ter die­ser Ge­schäf­te ab, und ich lief lan­ge Zeit her­um, ohne je­mand mei­ne Ware an­zu­bie­ten.

Mei­ne Auf­merk­sam­keit lenk­te sich vor­nehm­lich auf die See­manns­lä­den und sol­che wie Mr. Dol­lo­bys, und end­lich fand ich einen, der mir viel­ver­spre­chend aus­sah, an der Ecke ei­nes schmut­zi­gen Gäss­chens, das an einen ein­ge­zäun­ten grü­nen Fleck vol­ler Bren­nes­seln stieß. An dem Zau­ne hin­gen ein paar alte Ma­tro­sen­an­zü­ge, ei­ni­ge Hän­ge­mat­ten, ros­ti­ge Flin­ten und Süd­wes­ter, und vor dem La­den stan­den meh­re­re Mul­den mit so viel ver­ros­te­ten Schlüs­seln in al­len Grö­ßen, dass man sämt­li­che Tü­ren der Welt hät­te da­mit auf­sper­ren kön­nen.

In die­sen La­den, der nied­rig und klein und eher ver­dun­kelt als er­hellt durch ein mit Klei­dern ver­han­ge­nes Fens­ter­chen war, stieg ich mit klop­fen­dem Her­zen ei­ni­ge Stu­fen hin­ab. Mei­ne Ban­gig­keit wuchs noch, als ein grau­en­haf­ter al­ter Mann, des­sen un­te­re Ge­sichts­hälf­te ganz von ei­nem strup­pi­gen grau­en Bart be­deckt war, aus ei­ner schmut­zi­gen Höh­le im Hin­ter­grund her­vor­stürz­te und mich bei den Haa­ren pack­te. Es war ein schreck­lich an­zu­se­hen­der Mann in ei­ner schmut­zi­gen Fla­nell­wes­te. Er roch ent­setz­lich nach Rum. Sei­ne Bett­stel­le, mit ei­ner zer­knüll­ten und zer­lump­ten Fli­cken­de­cke zu­ge­deckt, stand in der Höh­le, aus der er her­aus­ge­kom­men war. Durch ein zwei­tes klei­nes Fens­ter konn­te man noch ein Bren­nes­sel­feld und einen lah­men Esel se­hen.

»O was brauchst du?« grein­te der alte Mann mit ei­nem wil­den ein­tö­ni­gen Ge­win­sel, »Gott über mei­ne Au­gen und Glie­der, was brauchst du? O über mei­ne Lun­ge und Le­ber, was brauchst du? O goru, o goru!«

So sehr brach­ten mich die­se Wor­te und be­son­ders die Wie­der­ho­lung des letz­ten mir ganz un­be­kann­ten Lau­tes, der wie ein tie­fes Rö­cheln in sei­ner Keh­le klang, aus der Fas­sung, dass ich gar nicht ant­wor­ten konn­te. Im­mer noch hielt mich der alte Mann bei den Haa­ren und wie­der­hol­te:

»O was brauchst du, Gott über mei­ne Au­gen und Glie­der, was brauchst du? O über mei­ne Lun­ge und Le­ber, was brauchst du. O goru!« Er rö­chel­te die Wor­te mit sol­cher Ener­gie aus sich her­aus, dass ihm die Au­gen aus den Höh­len tra­ten.

»Ich woll­te fra­gen«, sag­te ich zit­ternd, »ob Sie eine Ja­cke kau­fen möch­ten?«

»O lass die Ja­cke se­hen«, schrie der alte Mann, »o mei Herz brennt wie Feu­er. Lass se­hen die Ja­cke. Gott über mei­ne Au­gen und Glie­der, zeig her die Ja­cke.«

Da­mit lie­ßen sei­ne zit­tern­den Hän­de, die den Klau­en ei­nes großen Vo­gels gli­chen, mei­ne Haa­re los, und er setz­te eine Bril­le auf, die sei­ne ent­zün­de­ten Au­gen durch­aus nicht ver­schön­te.

»O wie viel für die Ja­cke?« schrie er, nach­dem er sie ge­nau be­trach­tet hat­te. »O goru, wie viel für die Ja­cke?«

»Eine hal­be Kro­ne«, sag­te ich und fass­te wie­der lang­sam Mut.

»O über mei­ne Lun­ge und Le­ber«, schrie der alte Mann. »Nix! O über mei­ne Au­gen. Nix! Gott über mei­ne Glie­der Nix! Acht­zehn Pence! Goru!« Je­des Mal wenn er die­sen Aus­ruf hö­ren ließ, quol­len sei­ne Au­gen aus ih­ren Höh­len, und je­der Satz, den er sprach, hat­te eine Art Me­lo­die, im­mer die­sel­be. Sie glich ei­ner Art Win­des­ge­heul, das lei­se an­fängt, an­steigt und ab­nimmt. Ich kann es mit nichts an­de­rem auf der Welt ver­glei­chen.

»Gut«, sag­te ich, froh, den Han­del ab­ge­schlos­sen zu ha­ben, »ich will acht­zehn Pence neh­men.«

»Gott über mei­ne Le­ber!« schrie der alte Mann und warf die Ja­cke in ein Fach, »raus aus dem La­den. Ach Gott über mei­ne Lun­ge. Raus aus dem La­den. Ach mei­ne Au­gen und Glie­der! Goru! Kein Geld. Mach mer en Tausch.«

Nie in mei­nem Le­ben bin ich so er­schro­cken ge­we­sen, aber ich sag­te schüch­tern, dass ich Geld brauch­te, und dass mir nichts an­de­res nüt­zen könn­te. Dass ich je­doch sei­nem Wunsch ge­mäß drau­ßen dar­auf­war­ten woll­te und kei­ne Eile hät­te. Ich ging also hin­aus und setz­te mich in eine Ecke in den Schat­ten. Und ich saß dort so vie­le Stun­den, dass der Schat­ten Son­nen­schein und der Son­nen­schein wie­der Schat­ten wur­de, und im­mer noch auf mein Geld war­te.

Ich glau­be, so einen be­trun­ke­nen Ver­rück­ten gibt es in die­sem Ge­schäfts­zweig nicht wie­der. Dass er in der Nach­bar­schaft wohl be­kannt war und in dem Ruf stand, sich dem Teu­fel ver­kauft zu ha­ben, er­fuhr ich bald durch die Gas­sen­jun­gen, die fort­wäh­rend um den La­den her­um­spran­gen, ihm das zu­brüll­ten und ihn auf­for­der­ten, sein Gold zu zei­gen.

»Du bist gar nicht arm, Char­ley, wie du dich stellst! Zeig dein Gold her. Zeig das Gold her, für das du dich dem Teu­fel ver­kauft hast. Komm doch, s ist in der Ma­trat­ze ein­ge­näht, Char­ley! Schneid sie auf und zeig uns das Gold!« Dies und vie­le Aner­bie­tun­gen, ihm ein Mes­ser zu lei­hen, brach­ten den Tröd­ler der­ma­ßen auf, dass der gan­ze Tag eine Rei­hen­fol­ge von Aus­fäl­len sei­ner­seits war, auf die die Jun­gen stets die Flucht er­grif­fen. Manch­mal hielt er mich in sei­ner Wut für einen der Jun­gen und stürz­te schäu­mend auf mich los, als woll­te er mich in Stücke rei­ßen. Recht­zei­tig be­sann er sich aber im­mer wie­der und zog sich schleu­nigst in den La­den zu­rück und warf sich auf sein Bett, wie ich aus dem Klang sei­ner Stim­me schloss, wenn er in sei­ner dem Win­des­ge­heul ähn­li­chen Me­lo­die wie irr­sin­nig das Lied von Nel­sons Tod brüll­te, mit ei­nem »O« vor je­der Stro­phe und un­zäh­li­gen Go­rus da­zwi­schen.

Als wäre das noch nicht schlimm ge­nug für mich, brach­ten mich die Jun­gen we­gen mei­ner Ge­duld und Aus­dau­er in ir­gend­ei­ne Ver­bin­dung mit dem Eta­blis­se­ment, zu­mal ich nur halb an­ge­zo­gen war, be­war­fen mich mit Stei­nen und miss­han­del­ten mich den gan­zen Tag über.

Der alte Mann mach­te vie­le Ver­su­che, mich zu be­we­gen, in einen Tausch ein­zu­wil­li­gen. Ein­mal kam er mit ei­ner An­gel­ru­te her­aus, dann mit ei­ner Fie­del, mit ei­nem Schlapp­hut und end­lich mit ei­ner Flö­te. Aber ich wi­der­stand al­len sei­nen An­ge­bo­ten und blieb in Verzweif­lung sit­zen. Je­des Mal fleh­te ich ihn mit den Trä­nen in den Au­gen um mein Geld oder mei­ne Ja­cke an. End­lich fing er an, mich halb­pen­ny­wei­se zu be­zah­len und brauch­te so zwei vol­le Stun­den zu ei­nem Schil­ling.

»O mei­ne Au­gen und Glie­der!« schrie er dann nach ei­ner lan­gen Pau­se in grau­en­haf­ter Art aus dem La­den her­aus­schie­lend. »Willst du für zwei Pence mehr ge­hen?«

»Ich kann nicht«, sag­te ich, »ich muss ver­hun­gern.«

»O mei­ne Lun­ge und Le­ber. Willst du für drei Pence ge­hen?«

»Ich wür­de um­sonst ge­hen«, sag­te ich, »wenn ich könn­te. Aber ich brau­che das Geld jäm­mer­lich nö­tig.«

»O go-ru!« Es war ganz un­be­schreib­lich, wie er die­ses letz­te Rö­cheln her­vors­tieß, als er jetzt hin­ter der Tür­pfos­te her­vor­lug­te, dass man nur den al­ten schlau­en Kopf se­hen konn­te. »Willst du für vier Pence ge­hen?«

Ich war so hung­rig und müde, dass ich ein­wil­lig­te und das Geld nicht ohne Zit­tern aus sei­ner Klaue nahm. Dann ging ich kurz vor Son­nen­un­ter­gang hung­ri­ger und durs­ti­ger als ich je ge­we­sen mei­nes We­ges. Für drei Pence stärk­te ich mich bald voll­kom­men und hin­k­te, jetzt bes­se­rer Lau­ne, sie­ben Mei­len wei­ter.

Mein Bett in die­ser Nacht war wie­der ein Heu­scho­ber, ich wusch mir die Füße in ei­nem Bach und ver­band sie, so gut es ging, mit ein paar küh­len­den Blät­tern. Den nächs­ten Mor­gen führ­te mich der Weg durch Hop­fen­fel­der und Ob­st­an­la­gen. Die Jah­res­zeit war schon so weit vor­ge­rückt, dass über­all rei­fe Äp­fel hin­gen, und an ei­ni­gen Or­ten stan­den die Pflücker schon bei der Ar­beit. Ich fand al­les wun­der­schön und be­schloss, die Nacht in dem Hop­fen­gar­ten zu schla­fen. Die lan­gen Rei­hen von Stan­gen mit den an­mu­tig sich win­den­den Blät­tern ka­men mir wie eine ge­müt­li­che Ge­sell­schaft vor.

Die Land­strei­cher schie­nen an die­sem Tage ge­fähr­li­cher als je und flö­ßten mir einen Schre­cken ein, dass ich heu­te noch dar­an den­ken muss. Ei­ni­ge von ih­nen, wild aus­se­hen­de Rauf­bol­de, die mich beim Vor­bei­ge­hen an­starr­ten, blie­ben manch­mal ste­hen und rie­fen mir zu, um­zu­keh­ren, und war­fen mir, wenn ich aus­riss, Stei­ne nach. Ich er­in­ne­re mich noch an einen jun­gen Bur­schen, nach sei­nem Fell­ei­sen und Koh­len­be­cken zu schlie­ßen, ein Kes­sel­fli­cker, der ein Frau­en­zim­mer bei sich hat­te. Er stier­te mich an und rief mir dann mit so fürch­ter­li­cher Stim­me nach, zu­rück­zu­kom­men, dass ich ste­hen­blieb und mich um­sah.

»Komm her, wenn man dich ruft«, sag­te der Kes­sel­fli­cker, »oder ich schlit­ze dir dei­nen jun­gen Bauch auf.«

Ich hielt es für das bes­te, um­zu­keh­ren. Als ich nä­her kam und den Kes­sel­fli­cker durch freund­li­che Bli­cke zu be­sänf­ti­gen such­te, be­merk­te ich, dass das Weib ein blau­ge­schla­ge­nes Auge hat­te.

»Wo gehst du hin«, frag­te der Kes­sel­fli­cker und pack­te mich mit sei­ner ge­schwärz­ten Hand an der Brust.

»Ich gehe nach Do­ver.«

»Wo kommst du her?« frag­te er wei­ter und pack­te mich noch fes­ter.

»Ich kom­me von Lon­don.«

»Was hast du für ein Hand­werk? Bist du ein Dieb?«

»N-ein«, sag­te ich.

»Nicht? Bei G-? Wenn du mit Ehr­lich­keit bei mir prah­len willst«, sag­te der Kes­sel­fli­cker, »haue ich dir das Dach ein!«

Mit sei­ner frei­en Hand mach­te er eine Be­we­gung, als woll­te er mich nie­der­schla­gen, und mus­ter­te mich dann vom Kopf bis zu den Fü­ßen.

»Hast du Geld für eine Kan­ne Bier bei dir? Wenn dus hast, her­aus da­mit, be­vor ich mirs hole.«

Ich wür­de es ge­wiss her­aus­ge­holt ha­ben, hät­te ich nicht den Blick der Frau be­merkt, die hin­ter ihm kaum merk­lich den Kopf schüt­tel­te und ihre Lip­pen zu ei­nem »Nein« ver­zog.

»Ich bin sehr arm«, sag­te ich mit ei­nem Ver­such zu lä­cheln, »und habe kein Geld.«

»Was soll das hei­ßen?« sag­te der Kes­sel­fli­cker und sah mich so scharf an, dass ich schon fürch­te­te, er sähe das Geld in mei­ner Ta­sche.

»Herr!« stam­mel­te ich.

»Was soll das hei­ßen«, sag­te der Kes­sel­fli­cker, »dass du mei­nes Bru­ders Sei­den­hals­tuch trägst! Her da­mit!« und schon hat­te er es mir vom Hal­se ge­ris­sen und es der Frau zu­ge­wor­fen.

Das Weib brach in ein Ge­läch­ter aus, als ob sie das für einen Spaß hiel­te und warf es mir wie­der hin und nick­te wie­der und ver­zog ihre Lip­pen zu dem Wor­te: »Fort.«

Ehe ich noch ge­hor­chen konn­te, riss mir der Kes­sel­fli­cker das Tuch mit sol­cher Ge­walt aus der Hand, dass ich zur Sei­te flog wie eine Fe­der. Dann wand­te er sich mit ei­nem Fluch zu der Frau und schlug sie zu Bo­den. Ich sehe sie jetzt noch vor mir, wie sie rück­lings auf die Stei­ne hin­stürzt und dort liegt, den Hut vom Kopf ge­ris­sen und das Haar ganz weiß vom Staub. Wie ich mich aus der Fer­ne um­schaue, sitzt sie am Stra­ßen­rand und wischt mit dem Zip­fel ih­res Schals das Blut aus dem Ge­sicht, wäh­rend der Kes­sel­fli­cker un­be­küm­mert wei­ter­geht.

Die­ses Aben­teu­er ent­setz­te mich so, dass ich spä­ter mich im­mer ver­steck­te, wenn ich Leu­te sol­chen Schla­ges kom­men sah und oft ein Stück zu­rück­lau­fen muss­te, was mei­ne Rei­se sehr ver­län­ger­te. Aber in die­sen und an­de­ren Be­dräng­nis­sen auf mei­ner Wan­de­rung hielt mich das Fan­ta­sie­bild von mei­ner Tan­te und mei­ner Mut­ter auf­recht. Nie wich es von mir. Ich sah es zwi­schen den Hop­fen­stan­gen, als ich mich nie­der­leg­te; es stand bei mir früh am Mor­gen und blieb bei mir den gan­zen Tag.

Es hat sich seit­dem für im­mer mit der son­nig hel­len Stra­ße von Can­ter­bu­ry und sei­nen al­ten Häu­sern und To­ren und sei­ner al­ten grau­en Ka­the­dra­le in mei­ner See­le ver­bun­den.

Als ich end­lich auf die öden wei­ten Dü­nen bei Do­ver kam, ver­gol­de­te es mir den ein­sa­men An­blick der Ge­gend mit ei­nem Hoff­nungs­strahl, und erst, als ich das große Ziel mei­ner Rei­se er­reicht und am sechs­ten Tag nach mei­ner Flucht wirk­lich den Fuß in die Stadt setz­te, wich es von mir. Dann, – selt­sam ge­nug, – als ich mit zer­ris­se­nen Schu­hen, stau­big, sonn­ver­brannt und nur halb be­klei­det in der so lan­ger­sehn­ten Stadt stand, schi­en es wie ein Traum­ge­sicht zu ver­schwin­den und ließ mich hilf­los und ent­mu­tigt al­lein.

Ich er­kun­dig­te mich nach mei­ner Tan­te zu­erst bei den Schif­fern und er­hielt die ver­schie­dens­ten Aus­künf­te. Der eine sag­te, sie woh­ne auf dem süd­li­chen Leucht­turm und hät­te sich dort den Ba­cken­bart ver­brannt, ein an­de­rer, sie sei an der großen Boje drau­ßen vor dem Ha­fen an­ge­bun­den, und man kön­ne sie nur bei Stau­was­ser be­su­chen. Ein drit­ter, dass sie we­gen Kin­der­dieb­stahl im Mai­dsto­ne­ker­ker ein­ge­sperrt sei. Ein vier­ter, sie sei wäh­rend des letz­ten Sturms auf ei­nem Be­sen nach Calais ge­rit­ten. Die Drosch­ken­kut­scher, bei de­nen ich mich dann er­kun­dig­te, wa­ren eben­so spa­ßig und we­nig re­spekt­voll, und die La­den­in­ha­ber, de­nen mein Aus­se­hen nicht ge­fiel, ant­wor­te­ten meis­tens, ohne über­haupt mei­ne Fra­ge an­zu­hö­ren, sie hät­ten nichts für mich.

Ich fühl­te mich un­glück­li­cher und ent­mu­tig­ter als je­mals, seit ich fort­ge­lau­fen. Mein Geld war zu Ende, ich hat­te nichts mehr zu ver­kau­fen, war hung­rig, durs­tig und er­schöpft und schi­en mei­nem Ziel fer­ner zu sein als in Lon­don.

Der Mor­gen war über mei­nen Nach­fra­gen ver­gan­gen, und ich saß auf den Stu­fen vor ei­nem lee­ren La­den an ei­ner Stra­ßen­e­cke und ging mit mir zu Rate, ob ich nach den an­de­ren Or­ten, die mir Peg­got­ty ge­schrie­ben hat­te, wan­dern soll­te, als ein Drosch­ken­kut­scher vor­bei­fuhr und sei­ne Pfer­de­de­cke ver­lor. Ich reich­te sie ihm auf den Bock, und et­was Gut­mü­ti­ges in dem Ge­sicht des Man­nes er­mu­tig­te mich, ihn zu fra­gen, ob er nicht wis­se, wo Miss Trot­wood woh­ne. Ich hat­te die Fra­ge schon so oft ge­stellt, dass sie mir fast auf den Lip­pen erstarb.

»Trot­wood?« sag­te er. »Lass mal se­hen. Ich ken­ne doch den Na­men! Alte Dame?«

»Ja«, sag­te ich, »ziem­lich.«

»Ziem­lich steif im Rücken«, sag­te er und setz­te sich sehr ge­ra­de.

»Ja«, sag­te ich, »ich glau­be wohl.«

»Trägt einen Strick­beu­tel? Strick­beu­tel mit viel Platz drin. Ist mür­risch und fährt einen scharf an?«

Ich ließ den Mut sin­ken ob die­ser Schil­de­rung, die un­zwei­fel­haft auf mei­ne Tan­te pass­te.

»Also hör mal«, sag­te er, »wenn du dort hin­auf­gehst«, er wies mit sei­ner Peit­sche nach dem Hü­gel, »und rechts hin­auf­gehst bis zu ein paar Häu­sern am Meer, kannst du Ge­nau­e­res über sie er­fah­ren. Ich glau­be nicht, dass sie et­was gibt. Da ist ein Pen­ny für dich.«

Ich nahm die Gabe dank­bar an und kauf­te mir Brot da­für. Ich aß es un­ter­wegs und ging in der Rich­tung, bis ich an die Häu­ser kam. Ich trat in einen klei­nen La­den und bat, ob man nicht so gut sein woll­te, mir zu sa­gen, wo Miss Trot­wood woh­ne. Ich wen­de­te mich an einen Mann hin­ter dem La­den­tisch, der eine Tüte Reis für ein Mäd­chen ab­wog, da dreh­te sich die­ses um.

»Mei­ne Herr­schaft? Was willst du bei ihr?«

»Ich möch­te mit ihr spre­chen, bit­te.«

»Das heißt, du willst sie an­bet­teln«, ent­geg­ne­te das Mäd­chen.

»Nein«, sag­te ich, »wahr­haf­tig nicht.« Dann fiel mir plötz­lich ein, dass ich doch ei­gent­lich zu kei­nem an­de­ren Zweck kam, schwieg ver­wirrt und fühl­te, wie ich rot wur­de.

Die Zofe mei­ner Tan­te, denn das muss­te sie wohl sein, leg­te den Reis in ein klei­nes Körb­chen und ver­ließ den La­den, mit der Wei­sung, ich sol­le ihr fol­gen, wenn ich wis­sen wol­le, wo Miss Trot­wood woh­ne. Ich war so auf­ge­regt, dass mir die Knie schlot­ter­ten.

Ich folg­te dem jun­gen Mäd­chen, und wir ka­men sehr bald zu ei­nem sehr hüb­schen Häu­schen mit ent­zücken­den Bo­gen­fens­tern. Da­vor lag ein klei­ner Gar­ten voll Blu­men, sorg­fäl­tig ge­pflegt und herr­lich duf­tend.

»Hier wohnt Miss Trot­wood«, sag­te das Mäd­chen. »Jetzt weißt dus. Wei­ter kann ich dir nichts sa­gen.«

Mit die­sen Wor­ten eil­te sie ins Haus, wie um die Verant­wort­lich­keit für mein Er­schei­nen ab­zu­schüt­teln, und ließ mich am Gar­ten­tor ste­hen. Ich sah trost­los auf das Wohn­zim­mer­fens­ter hin, wo ein halb zu­rück­ge­zo­gner Mus­selin­vor­hang, ein großer runder grü­ner Schirm oder Fä­cher auf dem Fens­ter­brett, ein klei­ner Tisch und ein Arm­stuhl mich ah­nen lie­ßen, dass mei­ne Tan­te in die­sem Au­gen­blick in großer Stren­ge dort saß.

Mei­ne Schu­he be­fan­den sich in ei­nem kläg­li­chen Zu­stand. Die Soh­len wa­ren stück­wei­se los­ge­löst, und das Ober­le­der, bald hier; bald dort ge­platzt, hat­te die Form ei­nes Schu­hes ver­lo­ren. Mein Hut; der mir auch als Nacht­müt­ze ge­dient, war so zer­drückt und ver­bo­gen, dass es jede alte stiel­lo­se Pfan­ne auf ei­nem Mist­hau­fen er­folg­reich mit ihm auf­ge­nom­men hät­te. Mein Hemd und mei­ne Ho­sen, schmut­zig und fle­ckig von Hit­ze, Tau, Gras und dem ken­ti­schen Kalk­bo­den, auf dem ich ge­schla­fen, und au­ßer­dem zer­ris­sen, wä­ren im­stan­de ge­we­sen, eine Vo­gel­scheu­che in mei­ner Tan­te Gar­ten ab­zu­ge­ben.

So stand ich in der Türe. Mein Haar hat­te, seit ich Lon­don ver­las­sen, we­der Kamm noch Bürs­te ge­se­hen. In Ge­sicht, an Hals und Hän­den hat­ten mich Luft und Son­ne dun­kel­braun ge­brannt. Von Kopf bis zu den Fü­ßen mit Kalk und Staub weiß ge­pu­dert, sah ich aus, als ob ich aus ei­nem Kal­kofen käme. In die­sem Auf­zug, und mei­nes Aus­se­hens mir sehr wohl be­wusst, soll­te ich mich also mei­ner ge­stren­gen Tan­te vor­stel­len.

Die an­dau­ern­de Ruhe hin­ter dem Wohn­stu­ben­fens­ter ließ mich schlie­ßen, dass sie nicht drin­nen sei. Ich wen­de­te mei­ne Au­gen zu den Fens­tern im ers­ten Stock und sah einen freund­lich aus­se­hen­den Herrn mit blü­hen­dem Ge­sicht und grau­em Haar, der auf ko­mi­sche Wei­se ein Auge zu­kniff, mir meh­re­re Male mit dem Kopf zu­nick­te, mich an­lach­te und wie­der ver­schwand.

Ich war schon so­wie­so au­ßer Fas­sung ge­nug, aber die­ses Be­neh­men raub­te mir den letz­ten Rest von Mut. Ich stand eben im Be­griff, mich wie­der fort­zu­schlei­chen und mir zu über­le­gen, was am bes­ten zu tun sei, als eine Dame, über ihre Müt­ze ein Ta­schen­tuch ge­bun­den, mit Gar­ten­hand­schu­hen, ei­ner Gar­ten­schür­ze und in der Hand ein großes Mes­ser aus dem Hau­se trat. Ich er­kann­te in ihr so­fort Miss Betsey nach der Art, wie sie aus dem Hau­se stelz­te. Genau so war sie nach der Er­zäh­lung mei­ner Mut­ter auch in un­serm Gar­ten her­um­stol­ziert.

»Fort!« sag­te Miss Betsey und schüt­tel­te den Kopf und fuhr mit dem Mes­ser durch die Luft, als ob sie ein Ko­te­lett her­aus­schnei­den woll­te.

»Fort! Kei­ne Jun­gen hier!«

Ich sah ihr zu, das Herz auf der Zun­ge, wie sie in eine Ecke des Gar­tens ging und sich bück­te, um et­was aus­zu­gra­ben. Dann, ohne einen Fun­ken Mut in mir, aber mit de­sto mehr Verzweif­lung, trat ich lei­se ein, stell­te mich ne­ben sie und be­rühr­te sie mit dem Fin­ger.

»Wenn Sie ge­stat­ten wür­den, Ma’am«, fing ich an.

Sie fuhr zu­sam­men und blick­te auf.

»Wenn Sie ge­stat­ten wür­den, Tan­te!«

»Eh«, rief Miss Betsey mit ei­nem Ton des Er­stau­nens aus, wie ich nie einen ähn­li­chen ge­hört hat­te.

»Wenn Sie ge­stat­ten wür­den, Tan­te, ich bin Ihr Nef­fe!«

»O Gott!« sag­te mei­ne Tan­te und setz­te sich mit­ten im Gar­ten­weg hin.

»Ich bin Da­vid Cop­per­field aus Blun­der­sto­ne in Suf­folk, wo Sie an dem Abend, als ich ge­bo­ren wur­de, mei­ne lie­be Mut­ter be­such­ten. Ich bin seit ih­rem Tode sehr un­glück­lich ge­we­sen. Man hat mich ver­nach­läs­sigt und nichts ge­lehrt, ich war auf mich selbst an­ge­wie­sen und wur­de zu ei­ner Ar­beit ver­wen­det, die gar nicht für mich pass­te. Des­we­gen bin ich fort­ge­lau­fen zu Ih­nen. Gleich am An­fang wur­de ich be­raubt und muss­te den gan­zen Weg zu Fuß ge­hen und habe in kei­nem Bett ge­schla­fen, seit ich auf der Rei­se bin.«

Hier war es mit mei­ner Fas­sung zu Ende und mit ei­ner Hand­be­we­gung, mit der ich ihre Auf­merk­sam­keit auf mei­nen zer­lump­ten Zu­stand len­ken woll­te, als Be­weis, was ich ge­lit­ten, brach ich in ein bit­ter­li­ches Wei­nen aus.

Mei­ne Tan­te, aus de­ren Ge­sicht je­der an­de­re Aus­druck als Ver­wun­de­rung ge­wi­chen war, saß, mich groß an­star­rend, auf dem Kies­weg, bis ich zu wei­nen an­fing. Dann stand sie in großer Hast auf, pack­te mich beim Kra­gen und schlepp­te mich in das Wohn­zim­mer. Ihr ers­tes war hier, einen ho­hen Schrank auf­zu­schlie­ßen, ver­schie­de­ne Fla­schen her­aus­zu­neh­men und mir aus je­der et­was in den Mund zu gie­ßen. Sie muss blind drauf­los ge­grif­fen ha­ben, denn ich weiß ge­wiss, dass ich Anis­was­ser, An­cho­vissau­ce und Sala­tes­sig ge­schmeckt habe. Als ich selbst nach dem Ge­nuss die­ser Stär­kungs­mit­tel noch im­mer ganz au­ßer Fas­sung war und von Schluch­zen ge­schüt­telt wur­de, leg­te sie mich auf das Sofa, steck­te mir einen Schal un­ter den Kopf, das Ta­schen­tuch von ih­rem Kopf un­ter mei­ne Füße, da­mit ich nicht den Über­zug be­schmut­zen konn­te, und setz­te sich hin­ter den be­reits er­wähn­ten grü­nen Schirm. Ihr Ge­sicht konn­te ich nicht se­hen, ich hör­te nur, wie sie von Zeit zu Zeit ei­ni­ge »Gott sei uns gnä­dig!« wie Flin­ten­schüs­se her­vors­tieß.

Nach ei­ner Wei­le klin­gel­te sie.

»Ja­net«, sag­te sie, als das Mäd­chen her­ein­kam. »Geh hin­auf, emp­fiehl mich Mr. Dick und sage ihm, ich möch­te ihn ger­ne spre­chen.«

Ja­net mach­te er­staun­te Au­gen, als sie mich ganz steif auf dem Sofa lie­gen sah, denn ich ge­trau­te mich nicht, eine Be­we­gung zu ma­chen, um nicht mei­ne Tan­te zu er­zür­nen, – und ging dann hin­aus, um ih­ren Auf­trag aus­zu­füh­ren. Mei­ne Tan­te mar­schier­te, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab, bis der Herr, der mich aus dem obe­ren Fens­ter an­ge­zwin­kert hat­te, la­chend her­ein­trat.

»Mr. Dick«, sag­te mei­ne Tan­te, »sei­en Sie jetzt kein Narr. Nie­mand kann ge­schei­ter sein als Sie, wenn Sie wol­len. Also bit­te, nur so ver­nünf­tig wie mög­lich!«

Der Gent­le­man mach­te so­gleich ein erns­tes Ge­sicht und sah mich an, als woll­te er mich bit­ten, nur ja nichts von der Sze­ne vor­hin am Fens­ter zu ver­ra­ten.

»Mr. Dick«, fuhr mei­ne Tan­te fort, »Sie ha­ben mich ein­mal Da­vid Cop­per­field er­wäh­nen hö­ren. Tun Sie jetzt nicht, als ob Sie kein Ge­dächt­nis hät­ten, denn Sie und ich wis­sen das bes­ser.«

»Da­vid Cop­per­field«, sag­te Mr. Dick, der sich mei­ner trotz­dem nicht zu er­in­nern schi­en, »Da­vi­d Cop­per­field? Ach ja, rich­tig. Da­vid. Stimmt.«

»Also«, sag­te mei­ne Tan­te, »dies ist sein Sohn. Er wäre sei­nem Va­ter so ähn­lich wie mög­lich, wenn er nicht sei­ner Mut­ter so gli­che.«

»Sein Sohn«, sag­te Mr. Dick, »Da­vids Sohn? Wirk­lich?«

»Ja«, fuhr mei­ne Tan­te fort, »er hat hüb­sche Sa­chen an­ge­stellt. Er ist da­von­ge­lau­fen. Ach, sei­ne Schwes­ter, Betsey Trot­wood, wäre nie da­von­ge­lau­fen.«

Mei­ne Tan­te schüt­tel­te mit Ent­schie­den­heit den Kopf voll Ver­trau­en auf den Cha­rak­ter und das Be­tra­gen des Mäd­chens, das nie ge­bo­ren wor­den war.

»O Sie glau­ben, sie wäre nie da­von­ge­lau­fen?« sag­te Mr. Dick.

»Ach Gott, der Mann!« rief mei­ne Tan­te är­ger­lich. »Was er wie­der re­det. Ich weiß doch, dass sie es nie ge­tan ha­ben wür­de, sie wür­de mit ih­rer Pa­tin bei­sam­men ge­we­sen sein, und wir hät­ten ein­an­der sehr lieb ge­habt. Von wo, zum Kuckuck, hät­te sei­ne Schwes­ter, Betsey Trot­wood, fort­lau­fen sol­len und wo­hin denn?«

»Nir­gends«, sag­te Mr. Dick.

»No also«, er­wi­der­te mei­ne Tan­te, durch die Ant­wort be­sänf­tigt.

»Wie kön­nen Sie so zer­streut sein, Dick, wo Ihr Ver­stand so scharf ist wie die Lan­zet­te ei­nes Chir­ur­gen. Jetzt se­hen Sie hier den jun­gen Da­vid Cop­per­field, und die Fra­ge, die ich Ih­nen vor­le­ge, ist, was soll ich mit ihm an­fan­gen?«

»Was Sie mit ihm an­fan­gen sol­len«, frag­te Mr. Dick ver­le­gen und kratz­te sich hin­ter den Ohren. »An­fan­gen sol­len?«

»Ja«, sag­te mei­ne Tan­te mit ei­nem erns­ten Blick und den Zei­ge­fin­ger in die Höhe hal­tend. »Ich brau­che einen ver­nünf­ti­gen Rat.«

»Hm, wie wäre es«, sag­te Mr. Dick nach­denk­lich und mich mit lee­rem Blick an­se­hend, »ich wür­de –« mein An­blick schi­en ihm plötz­lich einen Ge­dan­ken ein­zu­flö­ßen – und er er­gänz­te rasch: »ich wür­de ihn wa­schen.«

»Ja­net«, sag­te mei­ne Tan­te und dreh­te sich mit ei­nem stil­len Tri­umph, den ich da­mals noch nicht ver­stand, um: »Mr. Dick hat im­mer recht. Hei­ze das Bad.«

Ob­gleich ich das größ­te In­ter­es­se an dem Ge­spräch hat­te, konn­te ich mich doch nicht ent­hal­ten, wäh­rend des­sel­ben mei­ne Tan­te, Mr. Dick und Ja­net ge­nau zu be­ob­ach­ten und mich im Zim­mer um­zu­se­hen.

Mei­ne Tan­te war eine große Dame mit stren­gen Zü­gen, aber durch­aus nicht bös aus­se­hend. Es lag eine Un­beug­sam­keit in ih­rem Ge­sicht, in ih­rer Stim­me, ih­rem An­zug und in ih­rer Hal­tung, dass ich mir den Ein­druck er­klä­ren konn­te, den sie auf ein so sanf­tes Ge­schöpf, wie mei­ne Mut­ter ge­we­sen, ge­macht hat­te. Aber ihre Züge schie­nen eher hübsch als häss­lich, wenn auch hart und streng; be­son­ders fiel mir ihr leb­haf­tes blit­zen­des Auge auf. Ihr Haar, schon ziem­lich er­graut, war un­ter ei­ner un­ter dem Kinn zu­ge­bund­nen Art Nacht­müt­ze in zwei glei­che Tei­le ge­teilt. Ihr Kleid, la­ven­del­far­big und äu­ßerst sau­ber, war knapp ge­schnit­ten, als wünsch­te sie so we­nig wie mög­lich von ihm be­hin­dert zu sein. Es schi­en mir ei­gent­lich ein Reit­kleid zu sein, von dem man die Schlep­pe ab­ge­schnit­ten hat­te. Sie trug an der Sei­te eine gold­ne Her­ren­uhr, nach Form und Grö­ße zu schlie­ßen und der Ket­te und den Sie­geln dar­an, um den Hals einen Lei­nen­strei­fen wie einen Hemd­kra­gen und an den Hand­ge­len­ken Din­ger wie Man­schet­ten.

Mr. Dick hat­te grau­es Haar und ein blü­hen­des Ge­sicht, wie be­reits er­wähnt. Den Kopf trug er son­der­bar ge­beugt, aber nicht we­gen des Al­ters, und sei­ne großen Au­gen stan­den weit her­vor und hat­ten einen ei­gen­tüm­li­chen wäs­se­ri­gen Glanz, was mich zu­sam­men mit sei­nem zer­streu­ten We­sen, sei­ner Un­ter­wür­fig­keit ge­gen mei­ne Tan­te und sei­ner kin­di­schen Freu­de, wenn sie ihn lob­te, auf den Ge­dan­ken brach­te, er müs­se ein we­nig ver­rückt sein, ob­gleich ich mir dann nicht er­klä­ren konn­te, wie er hier­her kam. Er war wie ein schlich­ter Gent­le­man mit wei­tem grau­em Mor­gen­rock, Wes­te und wei­ßen Ho­sen be­klei­det, trug sei­ne Uhr und sein Geld lose in der Ta­sche und klim­per­te da­mit, als ob er sehr stolz dar­auf wäre.

Ja­net, ein hüb­sches fri­sches Mäd­chen, etwa neun­zehn oder zwan­zig Jah­re alt, schi­en ein wah­res Mus­ter von Net­tig­keit zu sein. Spä­ter er­fuhr ich, dass sie eine aus der Rei­he der weib­li­chen Schütz­lin­ge war, die mei­ne Tan­te nach und nach mit der Ab­sicht in Dienst ge­nom­men, Män­ner­fein­din­nen aus ih­nen zu ma­chen, die aber am Schluss ge­wöhn­lich Bä­cker ge­hei­ra­tet hat­ten.

Das Zim­mer sah eben­so sau­ber aus wie Ja­net und mei­ne Tan­te. Wenn ich nur einen Au­gen­blick dar­an den­ke, rie­che ich wie­der die See­luft, ver­mischt mit dem Duf­te der Blu­men, sehe die alt­mo­di­schen und glän­zend po­lier­ten Mö­bel mei­ner Tan­te, ih­ren ge­weih­ten Tisch und Stuhl, den großen run­den Schirm im Bo­gen­fens­ter ste­hen, den mit Läu­fern be­deck­ten Tep­pich, die Kat­ze, den Kes­sel­stän­der, die zwei Ka­na­ri­en­vö­gel, die Punsch­bow­le, ge­füllt mit trock­nen Ro­sen­blät­tern, den ho­hen Schrank mit sei­nen Fla­schen und Töp­fen und wun­der­voll ge­gen al­les ab­ste­chend mein stau­bi­ges Ich auf dem Sofa.

Ja­net war fort­ge­gan­gen, um das Bad zu hei­zen, als zu mei­nem größ­ten Schre­cken mei­ne Tan­te plötz­lich ganz starr vor Ent­rüs­tung wur­de und nach Luft schnap­pend auf­schrie:

»Ja­net! Esel!«

So­fort kam Ja­net die Trep­pe her­auf­ge­sprun­gen, als ob das Haus in Flam­men stün­de, stürz­te auf einen klei­nen Ra­sen­fleck vor dem Haus hin­aus und ver­scheuch­te zwei von Da­men ge­rit­te­ne Esel, die ge­wagt hat­ten, ihre Hufe auf den Ra­sen zu set­zen, wäh­rend mei­ne Tan­te ihr auf dem Fuß folg­te, den Zaum ei­nes drit­ten Esels, auf dem ein Kind saß, er­griff, das Tier um­dreh­te, es zur Sei­te zog und dem un­glück­li­chen Jun­gen, der den Esel ge­führt und die hei­li­ge Stel­le zu ent­wei­hen sich un­ter­stan­den hat­te, eins hin­ter die Ohren gab. Bis heu­te weiß ich nicht, ob mei­ne Tan­te ein Recht auf die­sen Ra­sen­fle­cken be­saß, aber je­den­falls hat­te sie es sich in den Kopf ge­setzt, und das ge­nüg­te ihr. Es war in ih­ren Au­gen eine große Un­tat, die nach be­stän­di­ger Ahn­dung ver­lang­te, wenn ein Esel die­sen jung­fräu­li­chen Fleck be­trat. Moch­te sie in wel­cher Be­schäf­ti­gung im­mer be­grif­fen und die Un­ter­hal­tung noch so in­ter­essant sein, der An­blick ei­nes Esels gab dem Gang ih­rer Ge­dan­ken so­fort eine an­de­re Rich­tung und un­ver­züg­lich stürz­te sie auf ihn los. Krü­ge voll Was­ser und Töp­fe stan­den an ge­hei­men Plät­zen be­reit, um die Füh­rer der Esel zu be­gie­ßen, Stö­cke lau­er­ten hin­ter den Tü­ren, Aus­fäl­le wur­den zu al­len Stun­den ge­macht und un­un­ter­bro­chen wü­te­te der Krieg. Vi­el­leicht war al­les das eine an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung für die Jun­gen, und wahr­schein­lich mach­te es den Klü­gern un­ter den Eseln, die die Sa­che durch­schau­ten, in der ih­nen eig­nen Hart­nä­ckig­keit eine be­son­de­re Freu­de, ge­ra­de des­halb die­sen Weg zu be­tre­ten.

Drei­mal, ehe das Bad fer­tig war, wur­de Lärm ge­schla­gen und beim letz­ten und ver­zwei­felts­ten ge­riet mei­ne Tan­te in ein Ge­fecht mit ei­nem fünf­zehn­jäh­ri­gen Bur­schen mit sand­gel­bem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gar­ten­tür sto­ßen muss­te, ehe er zu be­grei­fen schi­en, worum es sich han­del­te. Die­se Un­ter­bre­chun­gen ka­men mir umso lä­cher­li­cher vor, als sie mir ge­ra­de Fleisch­brü­he ein­flö­ßte, – sie hat­te sich of­fen­bar ein­ge­re­det, ich stün­de dicht vor dem Hun­ger­to­de und dürf­te an­fangs nur in klei­nen Quan­ti­tä­ten Nah­rung zu mir neh­men. In Er­war­tung des Löf­fels hielt ich noch den Mund of­fen, da leg­te sie das Be­steck auf den Tel­ler, rief: »Ja­net! Esel!« und eil­te hin­aus zum Kamp­fe.

Das Bad war eine wah­re Er­qui­ckung für mich. Das Schla­fen im Frei­en hat­te mir Glie­der­schmer­zen ge­macht, und ich fühl­te mich so matt, dass ich kaum fünf Mi­nu­ten hin­ter­ein­an­der wach blei­ben konn­te. Als ich mich ge­ba­det, zog ich, das heißt, sie zo­gen mir – näm­lich mei­ne Tan­te und Ja­net – ein Hemd und ein Paar Ho­sen Mr. Dicks an und wi­ckel­ten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Pa­ket aus und es war mir schreck­lich heiß. Da mich über­dies ein Ge­fühl von Mat­tig­keit und Schläf­rig­keit über­wäl­tig­te, schlum­mer­te ich bald auf dem Sofa ein. Vi­el­leicht träum­te ich wie­der von dem Bil­de; ich er­wach­te mit der Vor­stel­lung, dass mei­ne Tan­te sich über mich ge­beugt, mir das Haar aus dem Ge­sicht ge­stri­chen, mei­nen Kopf be­que­mer ge­legt und mich dann lan­ge be­trach­tet hät­te. Die Wor­te »hüb­scher Jun­ge« oder »ar­mer Jun­ge« schie­nen mir auch noch in den Ohren zu klin­gen, aber sonst war bei mei­nem Er­wa­chen nichts da, das mich hät­te glau­ben ma­chen kön­nen, mei­ne Tan­te hät­te ge­spro­chen, denn sie saß un­be­weg­lich am Bo­gen­fens­ter und blick­te hin­ter dem grü­nen Schirm her­vor aufs Meer hin­aus. Wir aßen, bald nach­dem ich er­wacht war, zu Mit­tag. Ein ge­bra­te­nes Huhn und ein Pud­ding ka­men auf den Tisch; ich selbst sah auch aus wie ein tran­chier­ter Vo­gel und konn­te mei­ne Arme nur mit großer Schwie­rig­keit be­we­gen. Aber da mei­ne Tan­te mich selbst ein­ge­wi­ckelt hat­te, durf­te ich mich doch nicht be­kla­gen! Die gan­ze Zeit über lag es mir sehr am Her­zen, zu er­fah­ren, was sie mit mir an­zu­fan­gen ge­den­ke. Aber sie nahm ihre Mahl­zeit in tiefs­tem Schwei­gen ein, nur manch­mal sah sie mich an und rief aus »Gott er­bar­me sich un­ser!« Und das war gar nicht ge­eig­net, mei­ne Be­sorg­nis­se zu ver­scheu­chen.

Nach­dem das Tisch­tuch ent­fernt war, kam Sher­ry, und ich er­hielt auch ein Glas. Mei­ne Tan­te schick­te wie­der nach Mr. Dick, der uns dann Ge­sell­schaft leis­te­te und so klug dreinsah, wie er nur konn­te, als sie ihn auf­for­der­te, mei­ner Ge­schich­te zu­zu­hö­ren, die sie durch eine Rei­he von Fra­gen aus mir her­aus­lock­te. Wäh­rend mei­ner Er­zäh­lung wand­te sie kein Auge von Mr. Dick, der, wie ich glau­be, sonst ein­ge­schla­fen wäre. Wenn er sich ver­lei­ten ließ, zu lä­cheln, wies ihn ein Stirn­run­zeln mei­ner Tan­te in sei­ne Schran­ken zu­rück.

»Was nur dem ar­men un­glück­li­chen Baby ein­ge­fal­len sein muss, dass sie noch ein­mal hei­ra­te­te«, sag­te mei­ne Tan­te, als ich fer­tig war. »Ich kann es nicht be­grei­fen.«

»Vi­el­leicht hat sie sich in ih­ren zwei­ten Mann ver­liebt«, mein­te Mr. Dick.

»Ver­liebt?« wie­der­hol­te mei­ne Tan­te. »Was re­den Sie da? Zu wel­chem Zweck?«

»Vi­el­leicht«, sim­pel­te Mr. Dick, nach­dem er ein we­nig nach­ge­dacht, »viel­leicht tat sie es zu ih­rem Ver­gnü­gen.«

»Zu ih­rem Ver­gnü­gen! Na­tür­lich! Ein Mords­ver­gnü­gen für das arme Baby, ihr schlich­tes Herz ei­nem Schwei­ne­hund zu schen­ken, der sie in je­der Art ent­täusch­te. Was hat sie sich ei­gent­lich da­bei ge­dacht, möch­te ich gern wis­sen? Sie hat­te doch schon einen Mann ge­habt, hat­te Da­vid Cop­per­field be­gra­ben, der von Kind­heit an Wach­s­pup­pen nach­lief, be­saß ein Kind – was brauch­te sie mehr?«

Mr. Dick schüt­tel­te ge­heim­nis­voll den Kopf, als kön­ne er sich über die­sen Punkt nicht klar­wer­den.

»Sie brach­te es nicht ein­mal fer­tig, ein Kind zu krie­gen wie an­de­re Leu­te«, sag­te mei­ne Tan­te. »Wo ist die­ses Kin­des Schwes­ter Betsey Trot­wood ge­blie­ben? Kam ein­fach nicht! Re­den Sie nichts!«

Mr. Dick schi­en ganz er­schro­cken zu sein.

»Der klei­ne Dok­tor mit dem seit­wärts ge­neig­ten Kopf, Jel­lips oder wie er sonst hieß, wozu war er denn da? Er konn­te nichts, als wie ein Rot­kehl­chen, das er üb­ri­gens ist, sa­gen: ’s ist ein Kna­be. Ein Kna­be! Ha, über die Dumm­heit die­ses gan­zen Ge­schlechts!«

Über die Hef­tig­keit die­ses Aus­rufs er­schrak Mr. Dick au­ßer­or­dent­lich und, wenn ich die Wahr­heit sa­gen soll, ich eben­falls.

»Und dann, noch nicht ge­nug da­mit, und als ob sie die­ses Kin­des Schwes­ter Betsey Trot­wood noch nicht ge­nü­gend im Licht ge­stan­den hät­te«, sag­te mei­ne Tan­te, »hei­ra­tet sie zum zwei­ten Mal, geht hin und hei­ra­tet einen Mör­der – oder so et­was der­glei­chen – und steht die­sem Kind auch noch im Licht. Die na­tür­li­che Fol­ge ist, was je­der, bloß ein Baby nicht, hät­te vor­aus­se­hen kön­nen, dass der Jun­ge her­um­va­ga­bun­diert. Er ist, noch be­vor er auf­wächst, ei­nem Kain so ähn­lich wie mög­lich.«

Mr. Dick sah mich hart an.

»Und dann ist das Frau­en­zim­mer mit dem heid­nischen Na­men da«, sag­te mei­ne Tan­te, »die muss na­tür­lich auch hei­ra­ten. Weil sie noch nicht ge­nug von dem Un­glück ge­se­hen hat, das bei so et­was her­aus­kom­men muss. Sie hei­ra­tet auch, wie das Kind er­zählt. Ich hof­fe bloß, mei­ne Tan­te schüt­tel­te den Kopf, – dass ihr Gat­te ei­ner von der Prü­gel­sor­te ist, von de­nen man im­mer in der Zei­tung liest, und sie or­dent­lich ver­haut.«

Das konn­te ich von mei­ner al­ten Kinds­frau nicht mit an­hö­ren und ver­si­cher­te mei­ner Tan­te, dass sie sich be­stimmt irre, Peg­got­ty sei die bes­te, treues­te, hin­ge­hends­te und auf­op­fernds­te Freun­din und Die­ne­rin von der Welt. Ich sag­te, dass sie im­mer mich und mei­ne Mut­ter von Her­zen ge­liebt, – mei­ner Mut­ter ster­ben­des Haupt ge­stützt habe, und dass mei­ne Mut­ter ih­ren letz­ten dank­ba­ren Kuss auf ihr Ge­sicht drück­te. Und da mich die Erin­ne­rung an die bei­den so sehr er­schüt­ter­te, konn­te ich nicht aus­re­den und er­zäh­len, wie Peg­got­tys Haus auch mein Haus sei, dass al­les, was sie be­sä­ße, mein sei, und dass ich nur mit Rück­sicht auf ihre be­schei­de­ne Stel­lung und aus Furcht, ihr Un­ge­le­gen­hei­ten zu ma­chen, nicht bei ihr Schutz ge­sucht habe. Trä­nen er­stick­ten mei­ne Stim­me, und ich leg­te mein Ge­sicht auf den Tisch.

»Schon gut, schon gut«, sag­te mei­ne Tan­te, »das Kind hat ganz recht, wenn es zu de­nen hält, die ihm bei­ge­stan­den ha­ben. – Ja­net! Esel!«

Ich bin über­zeugt, ohne das Da­zwi­schen­tre­ten die­ser un­glück­se­li­gen Esel wä­ren wir jetzt zu ei­ner Auss­pra­che ge­kom­men, denn mei­ne Tan­te hat­te mir die Hand auf die Schul­tern ge­legt, und ich war eben im Be­grif­fe, da­durch er­mu­tigt, sie zu um­ar­men und ih­ren Schutz an­zu­fle­hen. Aber die Un­ter­bre­chung und die Auf­re­gung, in die sie durch den Kampf drau­ßen ge­riet, mach­ten vor­der­hand al­len sanf­te­ren Ge­füh­len ein Ende und ver­an­lass­ten mei­ne Tan­te, sich in höchs­ter Ent­rüs­tung ge­gen Mr. Dick über ih­ren Ent­schluss aus­zu­las­sen, bei den Lan­des­ge­set­zen Hil­fe zu su­chen und sämt­li­che Esels­ei­gen­tü­mer von Do­ver zu ver­kla­gen.

Nach dem Tee setz­ten wir uns ans Fens­ter, – wie ich aus dem ge­spann­ten Ge­sicht mei­ner Tan­te schloss – um auf neue Ein­dring­lin­ge zu lau­ern. Dann als es dämm­rig wur­de, brach­te Ja­net Lich­ter und ein Poch­brett und ließ die Vor­hän­ge her­un­ter.

»Jetzt, Mr. Dick«, sag­te mei­ne Tan­te mit erns­tem Blick und em­por­ge­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger, »will ich Ih­nen eine an­de­re Fra­ge vor­le­gen. Se­hen Sie das Kind an.«

»Da­vids Sohn?« frag­te Mr. Dick mit auf­merk­sa­mem und be­stürz­tem Ge­sicht.

»Ganz rich­tig«, ent­geg­ne­te mei­ne Tan­te, »Da­vids Sohn. Was wür­den Sie jetzt mit ihm ma­chen?«

»Mit Da­vids Sohn ma­chen?« frag­te Mr. Dick.

»Ja«, er­wi­der­te mei­ne Tan­te, »mit Da­vids Sohn.«

»O«, sag­te Mr. Dick. »Ja. Mit ihm ma­chen – ich wür­de ihn zu Bett brin­gen.«

»Ja­net!« rief mei­ne Tan­te mit der­sel­ben tri­um­phie­ren­den Mie­ne, die ich schon ein­mal an ihr ent­deckt hat­te. »Mr. Dick rät uns im­mer das bes­te. Wenn das Bett fer­tig ist, wol­len wir Da­vid hin­auf­brin­gen.« Auf Ja­nets Äu­ße­rung, dass al­les be­reit sei, wur­de ich hin­auf­ge­führt, freund­lich, aber wie eine Art Ge­fan­ge­ner. Mei­ne Tan­te ging vor­aus, und Ja­net be­schloss den Zug.

Der ein­zi­ge Um­stand, der mir Hoff­nung ein­flö­ßte, war, dass Ja­net auf die Fra­ge mei­ner Tan­te, wo­her plötz­lich so ein bran­di­ger Ge­ruch kom­me, ant­wor­te­te, sie habe un­ten in der Kü­che aus mei­nem Hemd Zun­der ge­brannt. Über­dies la­gen in mei­nem Zim­mer sonst kei­ne Klei­der au­ßer den ver­rück­ten Sa­chen, in die man mich ein­ge­wi­ckelt hat­te. Als man mich mit ei­ner klei­nen Ker­ze, die, wie mir mei­ne Tan­te sag­te, ge­nau fünf Mi­nu­ten bren­nen wür­de und nicht län­ger, al­lein ge­las­sen, hör­te ich, wie sie drau­ßen die Türe zu­schlos­sen. Ich dach­te dar­über nach und kam zu dem Schluss, dass mei­ne Tan­te mich wahr­schein­lich im Ver­dacht hat­te, es sei eine üble Ge­wohn­heit von mir, da­von­zu­lau­fen, und da­ge­gen Vor­keh­run­gen traf.

Das Zim­mer, au­ßer­or­dent­lich freund­lich, lag oben im Hau­se mit der Aus­sicht auf das Meer hin­aus, auf das der Mond jetzt glän­zend schi­en. Ich sag­te mein Nacht­ge­bet her und blieb, als die Ker­ze aus­ge­brannt war, noch sit­zen und blick­te auf das mond­be­schie­ne­ne Was­ser hin, als könn­te ich dar­in mein Schick­sal le­sen oder mei­ne Mut­ter mit ih­rem Kind auf den Licht­strah­len vom Him­mel her­ab­stei­gen und mich mit ih­rem lieb­li­chen Ant­litz, wie einst, an­bli­cken se­hen.

Das fei­er­li­che Ge­fühl wich all­mäh­lich ei­ner Emp­fin­dung der Dank­bar­keit und der Ruhe, die mir der An­blick des weiß­ver­han­ge­nen Bet­tes und viel­mehr noch die Rast in dem wei­ßen Pfühl mit den schnee­wei­ßen Lei­nen ein­flö­ßte. Ich er­in­ne­re mich, dass ich an alle die ein­sa­men Orte dach­te, wo ich un­ter dem Nacht­him­mel ge­schla­fen, und be­te­te, Gott möge mich nie wie­der ob­dach­los wer­den und nie der Ob­dach­lo­sen ver­ges­sen las­sen. Ich er­in­ne­re mich, wie ich dann auf dem sil­ber­nen Däm­mer­schim­mer des Mond­lich­tes in die Welt der Träu­me hin­über­g­litt.

David Copperfield

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