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5. Kapitel – Man schickt mich fort

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Wir wa­ren kaum eine Vier­tel­stun­de ge­fah­ren, und mein Ta­schen­tuch war ganz durch­nässt, als der Kut­scher plötz­lich an­hielt.

Als ich hin­aus­sah, brach zu mei­nem Er­stau­nen Peg­got­ty aus ei­ner He­cke her­vor und klet­ter­te in den Wa­gen. Sie schloss mich in die Arme und press­te mich der­ar­tig an ih­ren Schnür­leib, dass mir die Nase weht­at. Nicht ein ein­zi­ges Wort sprach Peg­got­ty. Sie ließ mich mit dem einen Arm los, griff bis an den Ell­bo­gen in ih­ren Rock und hol­te ein paar in Pa­pier ge­wi­ckel­te Ku­chen her­vor, die sie mir in die Ta­sche stopf­te. Ei­nen Geld­beu­tel drück­te sie mir in die Hand. Sie sprach da­bei kein Wort.

Sie press­te mich noch ein letz­tes Mal an ih­ren Schnür­leib, stieg aus und lief da­von, wie ich glau­be und stets ge­glaubt habe, ohne einen ein­zi­gen Knopf an ih­rem Kleid. Ich hob einen der vie­len, die her­um­roll­ten, auf und be­wahr­te ihn lan­ge Zeit als ein teu­res An­den­ken.

Der Fuhr­mann sah mich fra­gend an, ob sie zu­rück­käme. Ich schüt­tel­te den Kopf und sag­te, ich däch­te nicht. »Also los«, rief er sei­nem fau­len Pfer­de zu, das sich dar­auf­hin in Be­we­gung setz­te.

Da ich mich or­dent­lich aus­ge­weint hat­te, fing ich jetzt an zu über­le­gen, dass Trä­nen doch nichts nütz­ten, umso mehr, als we­der Ro­de­rick Ran­dom, noch je­ner Ka­pi­tän der eng­li­schen Flot­te je­mals in schwie­ri­gen La­gen ge­weint hät­ten, so viel ich mich ent­sin­nen konn­te. Als der Fuhr­mann mich so ge­fasst sah, schlug er mir vor, mein Ta­schen­tuch zum Trock­nen dem Pferd auf den Rücken zu le­gen. Ich dank­te ihm und gab es ihm, und merk­wür­dig klein sah es aus, als es dort lag.

Ich hat­te jetzt Muße, die Bör­se zu un­ter­su­chen. Es war ein stei­fer Le­der­beu­tel mit ei­nem Schloss und drin be­fan­den sich drei glän­zen­de Schil­lin­ge, die Peg­got­ty mit Putz­pul­ver po­liert hat­te, da­mit es mich noch mehr freu­en soll­te. Aber sein kost­bars­ter In­halt be­stand aus zwei hal­b­en Kro­nen in ei­nem Stück Pa­pier, wor­auf mit mei­ner Mut­ter Hand­schrift stand: »Für Davy. Mit herz­li­chem Gruß.« Ich war da­von so ge­rührt, dass ich den Fuhr­mann bat, mir wie­der mein Ta­schen­tuch her­ein­zu­rei­chen, aber er mein­te, es gin­ge wohl auch so, und so wisch­te ich mei­ne Au­gen mit dem Rock­är­mel und be­zwang mich.

Es ge­lang mir, wenn mich auch noch hier und da das Schluch­zen riss. Nach ei­ner Wei­le Trot­tes frag­te ich den Fuhr­mann, ob er die gan­ze Rei­se ma­che.

»Wel­che Rei­se?« frag­te er.

»Da­hin«, sag­te ich.

»Wo, da­hin?« frag­te der Fuhr­mann.

»Nun bei Lon­don«, sag­te ich.

»Das Pferd«, sag­te der Fuhr­mann und schlen­ker­te mit dem Zü­gel statt hin­zu­deu­ten, »wäre to­ter als Schwei­ne­fleisch, ehe wir noch halb hin­kämen.«

»Sie fah­ren also nur bis Yar­mouth?« frag­te ich.

»Stimmt«, sag­te der Fuhr­mann. »Dort brin­ge ich Sie zur Post­kut­sche und die bringt Sie nach – wos eben ist.«

Da das für den Fuhr­mann, der Mr. Bar­kis hieß, bei sei­nem phleg­ma­ti­schen und we­nig ge­sprä­chi­gen Tem­pe­ra­ment eine sehr lan­ge Rede war, bot ich ihm als Zei­chen mei­ner Er­kennt­lich­keit einen Ku­chen an, den er auf einen Bis­sen ver­schlang, ge­ra­de wie ein Ele­fant, und der auf sein brei­tes Ge­sicht nicht mehr Ein­druck mach­te, als er auf das ei­nes Ele­fan­ten ge­macht hät­te.

»Hat sie den ge­ba­cken?« frag­te Mr. Bar­kis, der im­mer vor­wärts­ge­beugt auf sei­nem Sit­ze hock­te, auf je­des Knie einen Arm ge­stützt.

»Peg­got­ty, mei­nen Sie, Sir?«

»Hm«, sag­te Mr. Bar­kis. »Sie.«

»Ja, sie backt alle un­se­re Ku­chen und kocht für uns.«

»Wahr­haf­tig!«

Er spitz­te den Mund, als woll­te er pfei­fen, aber er pfiff nicht. Er saß da und ziel­te nach den Ohren des Pfer­des, als sähe er dort et­was ganz Be­son­de­res. So saß er eine ge­rau­me Zeit. End­lich sag­te er: »Kei­ne Schät­ze?«

»Sag­ten Sie Plätz­chen, Mr. Bar­kis?« Ich dach­te, er woll­te noch et­was zu es­sen ha­ben und hät­te auf die­se Art Er­fri­schung an­ge­spielt.

»Schät­ze«, sag­te Mr. Bar­kis. »Schät­ze! Nie­mand geht mit ihr?«

»Mit Peg­got­ty?«

»Hm. Mit ihr.«

»O nein, sie hat nie­mals einen Schatz ge­habt.«

»Wahr­haf­tig!?«

Wie­der spitz­te er den Mund zum Pfei­fen, aber wie­der pfiff er nicht, son­dern ziel­te nach den Ohren des Pfer­des.

»Sie macht also die Ap­fel­tor­ten und be­sorgt die Kü­che, was?« frag­te er nach ei­ner lan­gen Pau­se des Nach­den­kens.

Ich be­jah­te.

»Gut. Ich will Ih­nen was sa­gen; schrei­ben Sie ihr ’leicht?«

»Ich schrei­be je­den­falls an sie.«

»Hm«, sag­te er und wand­te mir lang­sam sei­ne Au­gen zu. »Gut. Wenn Sie ihr schrei­ben, sa­gen Sie ihr, dass Bar­kis will. Ja?«

»Dass Bar­kis will?« frag­te ich un­schul­dig. »Ist das al­les?«

»Ja­woll«, sag­te er nach­denk­lich. »Ja­woll. Bar­kis will.«

»Aber Sie sind doch mor­gen wie­der zu­rück in Blun­der­sto­ne, Mr. Bar­kis«, sag­te ich, und mei­ne Stim­me beb­te ein we­nig bei dem Ge­dan­ken, dass ich dann so weit fort sein wür­de, »und könn­ten Ihre Bot­schaft doch sel­ber viel bes­ser aus­rich­ten.«

Da er aber die­sen Vor­schlag mit ei­nem Ruck sei­nes Kop­fes zu­rück­wies und sei­nen ers­ten Wunsch mit tiefs­tem Ernst wie­der­hol­te: »Bar­kis will«, über­nahm ich be­reit­wil­lig den Auf­trag. Spä­ter nach­mit­tags, wäh­rend wir im Gast­hof in Yar­mouth auf die Post­kut­sche war­te­ten, ließ ich mir einen Bo­gen Pa­pier und ein Tin­ten­fass brin­gen und schrieb fol­gen­den Brief an Peg­got­ty: »Mei­ne lie­be Peg­got­ty. Ich bin hier glück­lich an­ge­kom­men. Bar­kis will. Vie­le herz­li­che Grü­ße an Mama. Dein ge­treu­er Davy. Nach­schrift. Es ist mir noch­mals auf­ge­tra­gen wor­den: Bar­kis will.«

Als ich Mr. Bar­kis noch im Wa­gen mein Ver­spre­chen ge­ge­ben hat­te, ver­fiel er wie­der in sein tie­fes Schwei­gen, und ich, ganz er­mat­tet von den letz­ten Er­eig­nis­sen, leg­te mich auf einen Sack im Wa­gen und schlief ein. Ich schlief ge­sund, bis wir in Yar­mouth an­ka­men, das mir von dem Gast­hof aus, vor dem wir hiel­ten, so neu und selt­sam vor­kam, dass ich so­gleich die stil­le Hoff­nung auf­gab, hier je­mand von Mr. Peg­got­tys Fa­mi­lie oder viel­leicht gar die klei­ne Emly selbst zu tref­fen.

Die Post­kut­sche stand, über und über glän­zend, im Hofe, aber noch wa­ren kei­ne Pfer­de vor­ge­spannt, und sie sah in die­sem Zu­stan­de aus, als wäre nichts un­wahr­schein­li­cher, als dass sie je nach Lon­don fah­ren könn­te. Ich frag­te mich, was wohl aus mei­nem Kof­fer wer­den soll­te, den Mr. Bar­kis auf das Pflas­ter ge­setzt hat­te, und aus mir, als eine Frau aus ei­nem Bo­gen­fens­ter, an dem Ge­flü­gel und Fleisch­stücke auf­ge­han­gen wa­ren, her­aus­sah und frag­te:

»Ist das der jun­ge Herr aus Blun­der­sto­ne?«

»Ja, Ma’am«, sag­te ich.

»Wie hei­ßen Sie?« frag­te die Frau.

»Cop­per­field, Ma’am«, sag­te ich.

»Stimmt nicht. Für Cop­per­field ist nichts be­stellt.«

»Vi­el­leicht für Murd­sto­ne«, sag­te ich.

»Wenn Sie Mas­ter Murd­sto­ne sind, warum sa­gen Sie da zu­erst einen an­de­ren Na­men?«

Ich er­klär­te ihr den Zu­sam­men­hang, wor­auf sie eine Glo­cke zog und rief: »Wil­liam, bring ihn ins Früh­stücks­zim­mer.« Aus der Kü­che am an­de­ren Ende des Ho­fes kam ein Kell­ner her­aus­ge­rannt und schi­en sehr er­staunt, als er bloß mich sah.

Es war ein sehr ge­räu­mi­ges Zim­mer mit ver­schie­de­nen großen Land­kar­ten an den Wän­den. Ich setz­te mich scheu mit der Müt­ze in der Hand auf die Ecke des Stuh­les, der der Tür am nächs­ten stand, und als der Kell­ner für mich einen Tisch deck­te, muss ich ganz rot vor Be­schei­den­heit ge­wor­den sein.

Er brach­te mir ei­ni­ge Ko­te­let­ten mit Ge­mü­se und nahm den De­ckel in so hef­ti­ger Wei­se her­un­ter, dass ich glaub­te, ich hät­te ihn ir­gend­wie be­lei­digt. Aber ich be­ru­hig­te mich wie­der, als er mir den Stuhl an den Tisch schob und sehr leut­se­lig sag­te: »Nun, Sechs­fuß­hoch, kom­men Sie her.«

Ich dank­te ihm und setz­te mich an den Tisch, fand es aber sehr schwer, mit Mes­ser und Ga­bel zu han­tie­ren, ohne mich zu be­sprit­zen. Wäh­rend­des­sen stand er mir ge­gen­über und wand­te kein Auge von mir und mach­te mich im­mer schreck­lich er­rö­ten, wenn ich sei­nem Blick be­geg­ne­te.

Nach­dem er mir bis zum zwei­ten Ko­te­lett zu­ge­se­hen, sag­te er:

»Es ist auch eine hal­be Pin­te Ale für Sie be­stellt. Wol­len Sie sie jetzt ha­ben?«

Ich dank­te und sag­te: »Ja.« Hier­auf goss er das Bier aus ei­nem Krug in ein großes Glas und hielt es ge­gen das Licht.

»Mei­ner Seel«, sag­te er, »s scheint eine gan­ze, gan­ze Men­ge, was?«

»Ja, es scheint eine gan­ze Men­ge«, ant­wor­te­te ich lä­chelnd, denn ich war ganz ent­zückt, dass er zu mir so freund­lich war. Er war ein Mann mit zwin­kern­den Au­gen und sin­ni­gem Ge­sicht, und das Haar stand ihm zu Ber­ge. Wie er den Arm in die Sei­te ge­stemmt hat­te und das Glas ge­gen das Licht hielt, sah er je­doch ganz ge­müt­lich aus.

»Ges­tern war ein Gent­le­man hier«, fing er wie­der an, »ein großer, star­ker Gent­le­man, der hieß Ober­nie­der­sä­ger. Ken­nen Sie ihn viel­leicht?«

»Nein«, sag­te ich, »ich glau­be nicht.«

»Kur­ze Ho­sen und Ga­ma­schen, breit­krem­pi­gen Hut, sche­cki­ges Hals­tuch«, sag­te der Kell­ner.

»Nein«, sag­te ich ge­drückt. »Ich habe nicht das Ver­gnü­gen.«

»Er kehr­te hier ein«, sag­te der Kell­ner und sah im­mer noch durch das Glas, »be­stell­te auch Ale, trotz­dem ich ihm ab­riet, trank es und war tot auf der Stel­le. War zu alt für ihn. Es soll­te nicht aus­ge­schenkt wer­den. Das ist die Sa­che.«

Der tra­gi­sche Vor­fall mach­te mich ganz be­stürzt und ich sag­te, ich wür­de ein Glas Was­ser vor­zie­hen.

»Ja, se­hen Sie«, sag­te der Kell­ner, im­mer noch mit dem einen Auge durch das Glas spä­hend, das an­de­re hat­te er zu­ge­macht, »uns­re Leu­te se­hens nicht gern, wenn et­was be­stellt wird und ste­hen bleibt. Neh­mens übel. Aber ich wills trin­ken, wenn Sie er­lau­ben. Bin dran ge­wöhnt und Ge­wohn­heit kann al­les. Ich glau­be nicht, dass es mir scha­det, wenn ich den Kopf zu­rück­le­ge und es rasch hin­un­ter­gie­ße. Was?«

Ich er­wi­der­te, ich wäre ihm sehr ver­pflich­tet, wenn er es trän­ke und es ihm nicht scha­den wür­de. Sonst aber möge er es ja nicht tun. Als er den Kopf zu­rück­leg­te und es rasch hin­un­ter­goss, er­fass­te mich eine schreck­li­che Angst, er könn­te das Schick­sal des be­dau­erns­wer­ten Mr. Ober­nie­der­sä­ger tei­len und tot zu Bo­den fal­len. Aber es tat ihm nichts. Im Ge­gen­teil, es schi­en ihn nur er­frischt zu ha­ben.

»Was ha­ben wir denn da?« sag­te er und fuhr dann mit ei­ner Ga­bel in mei­ne Schüs­sel. »Doch nicht Ko­te­let­ten?«

»Ko­te­let­ten«, sag­te ich.

»Gott be­wah­re!« rief er aus. »Ich wuss­te gar nicht, dass es Ko­te­let­ten sind. Ein Ko­te­lett ist das bes­te ge­gen das Bier. Ist das ein Glück, was?«

Da­mit nahm er ein Ko­te­lett, den Kno­chen in die eine Hand und eine Kar­tof­fel in die an­de­re, und ver­schlang bei­de zu mei­ner größ­ten Be­frie­di­gung mit au­ßer­or­dent­li­chem Ap­pe­tit. Dann nahm er noch ein Ko­te­lett und noch eine Kar­tof­fel und noch ein Ko­te­lett und noch eine Kar­tof­fel. Hier­auf brach­te er mir einen Pud­ding, setz­te ihn auf den Tisch und schi­en ein paar Au­gen­bli­cke ganz in Ge­dan­ken zu ver­sin­ken.

»Wie ist die Pas­te­te?« frag­te er, wie aus ei­nem Traum er­wa­chend.

»Es ist Pud­ding«, gab ich zur Ant­wort.

»Pud­ding?« rief er aus. »Gott be­wah­re! Wirk­lich!« und ge­nau­er hin­bli­ckend: »Es ist doch nicht etwa Blät­ter­pud­ding?«

»Ja, es ist Blät­ter­pud­ding.«

»Was? Blät­ter­pud­ding?« sag­te er und nahm einen Ess­löf­fel. »Das ist ja mein Lieb­lings­pud­ding. Ist das nicht ein Glück? Komm, Klei­ner, wol­len mal se­hen, wer das meis­te kriegt.«

Er be­kam wirk­lich das meis­te. Er bat mich mehr als ein­mal, ich möch­te mich doch dazu hal­ten, aber das Miss­ver­hält­nis sei­nes Ess­löf­fels zu mei­nem Tee­löf­fel, sei­ner Fer­tig­keit zu mei­ner, sei­nes Ap­pe­tits zu mei­nem Ap­pe­tit be­wirk­ten, dass ich schon bei den ers­ten Bis­sen weit zu­rück­b­lieb und kei­ne Aus­sicht mehr hat­te, ihn wie­der ein­zu­ho­len. Ich glau­be, ich habe nie­mals je­mand einen Pud­ding mit so viel Ge­nuss es­sen se­hen; und er lach­te, als er fer­tig war, als ob sei­ne Freu­de noch fort­dau­er­te.

Da er so freund­lich und so ge­fäl­lig war, bat ich ihn um Fe­der, Tin­te und Pa­pier, um an Peg­got­ty zu schrei­ben.

Er brach­te es nicht nur so­gleich, son­dern war auch so freund­lich, mir über die Ach­sel zu se­hen, wäh­rend ich schrieb. Als ich fer­tig war, frag­te er mich, wo ich zur Schu­le gin­ge.

Ich sag­te: »Bei Lon­don«, denn ich wuss­te wei­ter nichts.

»Gott be­wah­re!« sag­te er und schau­te sehr trau­rig drein. »Das tut mir leid.«

»Wa­rum?« frag­te ich ihn.

»Ach mein Gott«, sag­te er und schüt­tel­te den Kopf, »das ist die Schu­le, wo sie dem Jun­gen die Rip­pen zer­bra­chen. Zwei Rip­pen. Es war ein klei­ner Jun­ge. Er war etwa – war­ten Sie mal – wie alt sind Sie un­ge­fähr?«

Ich sag­te ihm: »Zwi­schen acht und neun Jah­re.«

»Das ist gra­de sein Al­ter. Er war acht Jah­re und sechs Mo­na­te, als sie ihm die ers­te Rip­pe bra­chen, acht Jah­re und acht Mo­na­te alt, als sie ihm die zwei­te Rip­pe zer­bra­chen. Und dann war es aus mit ihm.«

Ich konn­te we­der mir noch dem Kell­ner ver­heh­len, dass das ein recht un­an­ge­neh­mer Vor­fall sei, und forsch­te, wo­durch es denn ge­sche­hen wäre. Sei­ne Ant­wort klang durch­aus nicht er­mu­ti­gend für mich, denn sie be­stand aus zwei schreck­li­chen Wor­ten: »Durch Stri­xe.«

Das Bla­sen des Po­storns auf dem Hof ver­an­lass­te mich, auf­zu­ste­hen, und mit ei­nem aus Stolz und Ängst­lich­keit ge­misch­ten Ge­fühl, im Be­sitz ei­ner Bör­se zu sein, frag­te ich, ob noch et­was zu be­zah­len wäre.

»Ein Bo­gen Brief­pa­pier«, sag­te er. »Ha­ben Sie schon ein­mal einen Bo­gen Brief­pa­pier ge­kauft?«

Ich konn­te mich nicht er­in­nern.

»Ist sehr teu­er. Von we­gen die Steu­er«, sag­te er. »Drei Pence. So wer­den wir hier be­steu­ert! Sonst wei­ter nichts. Bloß der Kell­ner noch. Die Tin­te kos­tet nichts, bei der set­ze ich zu.«

»Was möch­ten Sie – was soll ich – wie viel hät­te ich – was gibt man wohl dem Kell­ner, bit­te?« stam­mel­te ich und wur­de rot.

»Wenn ich kei­ne Fa­mi­lie be­sä­ße und die Fa­mi­lie nicht die Po­cken hät­te«, sag­te der Kell­ner, »wür­de ich nicht sechs Pence neh­men. Wenn ich kei­nen al­ten Vat­tern nicht hät­te und eine lüb­li­che Schwes­ter« – hier wur­de der Kell­ner sehr auf­ge­regt – »möch­te ich kei­nen Pfen­nig nicht neh­men. Wenn ich eine gute Stel­le hät­te hier und gut be­han­delt wür­de, wür­de ich selbst Trink­geld ge­ben an­statt eins zu neh­men, aber ich lebe von Ab­fall und schla­fe auf Koh­len –«, hier brach er in Trä­nen aus. Mich er­griff sei­ne un­glück­li­che Lage sehr und ich fühl­te, dass ein Trink­geld von we­ni­ger als neun Pence eine wah­re Bru­ta­li­tät und Her­zens­här­te wäre. Da­her gab ich ihm einen mei­ner drei blan­ken Schil­lin­ge, den er mit großer De­mut und Ehr­er­bie­tung ent­ge­gen­nahm und gleich dar­auf mit dem Dau­men­na­gel auf sei­ne Echt­heit un­ter­such­te.

Ich ge­riet ei­ni­ger­ma­ßen in Ver­le­gen­heit, als ich beim Ein­stei­gen in die Post­kut­sche be­merk­te, dass ich im Ver­dacht stand das gan­ze Mit­ta­ges­sen al­lein auf­ge­ges­sen zu ha­ben. Ich hör­te näm­lich die Frau aus dem Bo­gen­fens­ter sa­gen: »Neh­men Sie das Kind in acht, Ge­org, sonst platzt es.« Und die Dienst­mäd­chen ka­men her­aus, staun­ten mich an und be­ki­cher­ten mich wie ein jun­ges Na­tur­wun­der.

Mein un­glück­li­cher Freund, der Kell­ner, der sich von sei­ner Be­trüb­nis voll­stän­dig er­holt hat­te, teil­te, ohne im Ge­rings­ten ver­le­gen zu schei­nen, die all­ge­mei­ne Ver­wun­de­rung. Wenn ich ei­ni­ger­ma­ßen Ver­dacht ge­gen ihn fass­te, so ent­stand es wahr­schein­lich da­durch. Aber ich glau­be, dass ich bei mei­ner ju­gend­li­chen Ar­g­lo­sig­keit und der na­tür­li­chen Ach­tung, die ein Kind vor hö­he­rem Al­ter hat, selbst da­mals kein erns­tes Miss­trau­en ge­gen ihn heg­te.

Im­mer­hin är­ger­te ich mich ein biss­chen, dass ich so, ohne es zu ver­die­nen, zur Ziel­schei­be des Spot­tes zwi­schen dem Po­stil­lon und dem Schaff­ner wur­de. Sie sag­ten, dass die Kut­sche hin­ten zu schwer wür­de, wenn ich dort säße, und es wäre vor­teil­haf­ter, wenn ich in der Ge­päck­ab­tei­lung reis­te. Als die Fa­bel von mei­nem Ap­pe­tit un­ter den Au­ßen­pas­sa­gie­ren ruch­bar wur­de, mach­ten auch sie ihre Spä­ße über mich und frag­ten mich, ob in der Schu­le für mich für zwei oder für drei Brü­der be­zahlt wür­de, ob ein be­son­de­rer Kon­trakt ab­ge­schlos­sen wor­den sei, oder ob ich wie je­der an­de­re be­zahl­te, und noch der­glei­chen ver­gnüg­li­che Fra­gen mehr.

Aber das Schlimms­te an der Sa­che war, dass ich wuss­te, ich wür­de mich schä­men, bei der nächs­ten Hal­te­stel­le et­was zu es­sen, und dass ich mit dem sehr knap­pen Mit­ta­ges­sen im Ma­gen die gan­ze Nacht wür­de hun­gern müs­sen, zu­mal ich in der Eile mei­ne Ku­chen im Gast­haus ver­ges­sen hat­te.

Mei­ne Be­fürch­tun­gen tra­fen ein. Als wir abends an ei­nem neu­en Wirts­haus an­hiel­ten, konn­te ich es nicht über mich brin­gen, am Nachtes­sen teil­zu­neh­men, ob­gleich ich großen Ap­pe­tit hat­te, son­dern setz­te mich an den Ka­min und sag­te, ich äße nichts. Aber auch das ret­te­te mich nicht vor Spä­ßen, denn ein hei­se­rer Herr mit ei­nem ro­hen Ge­sicht, der un­ter­wegs die gan­ze Zeit über aus ei­ner But­ter­brot­schach­tel ge­ges­sen hat­te, au­ßer wenn er ge­ra­de aus ei­ner Fla­sche trank, ver­glich mich mit ei­ner Rie­sen­schlan­ge, die auf ein­mal so viel ver­schlingt, dass es lan­ge Zeit vor­hält. Bei die­sen Wor­ten mach­te er einen hef­ti­gen An­griff auf das ge­koch­te Rind­fleisch.

Wir wa­ren um drei Uhr nach­mit­tags von Yar­mouth ab­ge­fah­ren und soll­ten in Lon­don um acht Uhr am nächs­ten Mor­gen an­kom­men. Es war Hoch­som­mer­wet­ter und ein sehr schö­ner Abend. Als wir durch ein Dorf fuh­ren, mal­te ich mir aus, wie die Häu­ser wohl in­nen aus­sä­hen und was für Leu­te drin wohn­ten. Und als die Jun­gen hin­ter uns her­lie­fen und sich eine Stre­cke weit an den Wa­gen klam­mer­ten, hät­te ich sie gern ge­fragt, ob wohl ihre Vä­ter noch leb­ten und sie zu Hau­se glück­lich wä­ren.

Viel ging mir im Kopf her­um und nicht am we­nigs­ten die Schu­le, in die ich ein­tre­ten soll­te. Von Zeit zu Zeit dach­te ich auch an die Hei­mat und an Peg­got­ty und trach­te­te, mir mei­ne Emp­fin­dun­gen vor­zu­stel­len, ehe ich noch Mr. Murd­sto­ne ge­bis­sen hat­te. Ich kam da­mit nicht zu­recht; es schi­en mir seit­dem eine Ewig­keit ver­gan­gen zu sein.

Die Nacht war nicht so schön wie der Abend, es wur­de kühl. Und da man mich zwi­schen zwei Her­ren – den mit dem ro­hen Ge­sicht und einen an­de­ren – ge­setzt hat­te, da­mit ich nicht her­un­ter­fie­le, so er­stick­ten mich die bei­den fast, wenn sie ein­sch­lie­fen und mich ganz zu­deck­ten. Sie quetsch­ten mich manch­mal so sehr, dass ich mir nicht mehr hel­fen konn­te und ru­fen muss­te: »Ach, bit­te, bit­te«, was ih­nen gar nicht an­ge­nehm war, weil es sie auf­weck­te. Mir ge­gen­über saß eine ält­li­che Dame in ei­nem großen Pelz­man­tel, die im Fins­tern wie ein Heu­scho­ber aus­sah. Die­se Dame hat­te einen Korb bei sich und wuss­te lan­ge Zeit da­mit nichts an­zu­fan­gen, bis sie her­aus­fand, dass er we­gen mei­ner kur­z­en Bei­ne un­ter mei­nen Sitz ge­hö­re. Er be­läs­tig­te mich so sehr, dass ich ganz un­glück­lich dar­über war, aber wenn ich mich nur ein biss­chen rühr­te, und das Glas, das im Korb lag, klap­pern mach­te, stieß sie mich hef­tig mit dem Fuß und sag­te: »So sitz doch still. Dei­ne Kno­chen sind jung ge­nug, soll­te ich mei­nen.«

End­lich ging die Son­ne auf, und jetzt fin­gen mei­ne Ge­fähr­ten an ru­hi­ger zu schla­fen. Von den Schwie­rig­kei­ten, un­ter de­nen sie sich die gan­ze Nacht mit schreck­li­chem Äch­zen und Schnar­chen hin­durch­ge­kämpft hat­ten, kann man sich kei­nen Be­griff ma­chen. Als die Son­ne hö­her stieg, wur­de ihr Schlaf lei­ser, und end­lich wach­te ei­ner nach dem an­de­ren auf. Ich muss­te mich sehr wun­dern, dass nie­mand ein­ge­ste­hen woll­te, er hät­te ge­schla­fen, son­dern mit größ­ter Ent­rüs­tung die­sen Vor­wurf zu­rück­wies. Ich kann es noch heu­te nicht be­grei­fen, wes­halb wir von al­len mensch­li­chen Schwä­chen die am we­nigs­ten zu­ge­ben wol­len, in ei­nem Wa­gen ein­ge­schla­fen zu sein.

Wie wun­der­bar kam mir Lon­don vor, als ich es in der Ent­fer­nung er­blick­te, mir vor­stell­te, dass Aben­teu­er wie die mei­ner Lieb­lings­hel­den dort täg­lich vor­kämen, und mir dun­kel aus­mal­te, dass es rei­cher an Wun­dern und Ver­bre­chen sein müss­te als je­der an­de­re Ort der Welt. Wir nä­her­ten uns der Stadt all­mäh­lich und lang­ten zur rich­ti­gen Zeit an ei­nem Gast­haus in Whi­techa­pel an, von dem ich nicht mehr weiß, ob es der »Blaue Och­se« oder der »Blaue Eber« war. Ir­gend­ein blau­es Et­was war es, und sein Ab­bild war auf die Rück­sei­te der Kut­sche ge­malt.

Als der Schaff­ner her­un­ter­stieg, fiel sein Blick auf mich, und er frag­te zum Fens­ter des Ein­schrei­be­bü­ros hin­ein:

»War­tet hier je­mand auf einen Kna­ben na­mens Murd­sto­ne aus Blun­der­sto­ne in Suf­folk?«

Nie­mand ant­wor­te­te.

»Bit­te, Sir, ver­su­chen Sie es mit Cop­per­field«, sag­te ich und sah rat­los hin­ab.

»War­tet hier je­mand auf einen Kna­ben na­mens Murd­sto­ne aus Blun­der­sto­ne in Suf­folk, der sich aber zu dem Na­men Cop­per­field be­kennt und ab­ge­holt wer­den soll?« frag­te der Schaff­ner. »Heda! Ist nie­mand da?«

Nein. Es war nie­mand da. Ich sah mich ängst­lich um, aber auf nie­mand der Um­ste­hen­den mach­te die Nach­fra­ge den ge­rings­ten Ein­druck, au­ßer höchs­tens auf einen ein­äu­gi­gen Mann in Ga­ma­schen, der den Rat gab, mir ein Mes­sin­g­hals­band an­zu­le­gen und mich im Stal­le an­zu­bin­den.

Man brach­te eine Lei­ter, und ich stieg erst nach der Dame hin­un­ter, die ei­nem Heu­scho­ber ähn­lich sah, da ich mich nicht zu rüh­ren wag­te, bis sie ih­ren Korb weg­ge­nom­men hat­te. Der Wa­gen war jetzt leer von Rei­sen­den. Die Ge­päck­stücke wa­ren bald her­un­ter­ge­holt, die Pfer­de aus­ge­spannt, und die Kut­sche wur­de von ein paar Haus­knech­ten zur Sei­te ge­scho­ben.

Noch im­mer er­schi­en nie­mand, um den staub­be­deck­ten Kna­ben aus Blun­der­sto­ne in Suf­folk ab­zu­ho­len. Noch ver­las­se­ner als Ro­bin­son, dem we­nigs­tens nie­mand zu­sah, als er ein­sam war, be­gab ich mich in die Schreib­stu­be, ver­füg­te mich auf die Ein­la­dung des Kom­mis hin­ter den La­den­tisch und setz­te mich auf die Ge­päck­waa­ge. Wäh­rend ich hier saß und Pa­ke­te und Kis­ten und Bü­cher mus­ter­te und den Stall­ge­ruch ein­at­me­te, be­gann eine Pro­zes­si­on der be­ängs­ti­gends­ten Be­trach­tun­gen in mei­ner See­le. Was, wenn mich nie­mand ab­ho­len wür­de? Wie lan­ge wür­den sie mich dann hier be­hal­ten? Wie lan­ge wür­den mei­ne sie­ben Schil­lin­ge rei­chen? Müss­te ich des Nachts mit dem an­de­ren Ge­päck in ei­nem der höl­zer­nen Fä­cher schla­fen und mich am Mor­gen un­ter dem Brun­nen im Hofe wa­schen oder wür­de man mich jede Nacht hin­aus­ja­gen und dürf­te ich erst am nächs­ten Mor­gen bei der Er­öff­nung des Bü­ros wie­der­kom­men, bis man mich ab­hol­te? Was, wenn es gar kein Irr­tum wäre, und Mr. Murd­sto­ne hät­te sich bloß den Plan aus­ge­dacht, um mich auf die Art los zu wer­den? Was soll­te ich dann tun? Wenn sie mich auch da lie­ßen, bis mei­ne sie­ben Schil­lin­ge zu Ende sein wür­den, konn­te ich doch nicht hof­fen, blei­ben zu dür­fen, wenn ich an­fin­ge, zu ver­hun­gern. Das wäre doch den Kun­den un­be­quem ge­we­sen und hät­te dem blau­en Sound­so Be­gräb­nis­kos­ten ver­ur­sacht; und wenn ich gleich gin­ge, um zu Fuß nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren, hät­te ich den Weg fin­den kön­nen? Vor­aus­ge­setzt, dass mich dort über­haupt je­mand au­ßer Peg­got­ty viel­leicht – auf­ge­nom­men hät­te. Wenn ich zu der ers­ten bes­ten Be­hör­de ging und mich als Sol­dat und Ma­tro­se an­bö­te, wür­den sie wahr­schein­lich einen so klei­nen Jun­gen wie mich nicht neh­men. Sol­che und hun­dert an­de­re Ge­dan­ken mach­ten, dass mir der Kopf glüh­te und ich vor Angst und Sor­ge ganz schwin­de­lig wur­de. Als ich auf dem Hö­he­punkt mei­nes Fie­bers an­ge­langt war, trat ein Mann ein und sag­te et­was lei­se zu dem Kom­mis. Die­ser schob mich von der Waa­ge und zu dem Man­ne hin, als ob ich ge­wo­gen, ge­kauft, ab­ge­lie­fert und be­zahlt wäre.

Als ich Hand in Hand mit dem neu­en Be­kann­ten das Büro ver­ließ, warf ich einen ver­stoh­le­nen Blick auf ihn. Er war ein ha­ge­rer, blei­cher jun­ger Mann mit hoh­len Wan­gen und ei­nem Kinn, das fast so schwarz aus­sah wie Mr. Murd­sto­nes Kinn; aber da­mit hör­te die Ähn­lich­keit auf, denn sein Ba­cken­bart war ab­ra­siert und das Haar fuch­sig und tro­cken, statt glän­zend schwarz. Er trug einen schwar­zen An­zug, der auch fuch­sig und tro­cken und an Ar­men und Bei­nen et­was zu kurz war. Au­ßer­dem hat­te er ein wei­ßes, nicht be­son­ders rei­nes Tuch um den Hals. Ich nahm nicht an, dass die­ses Hals­tuch die ein­zi­ge Wä­sche aus­mach­te, die er trug, je­den­falls konn­te ich sonst kei­ne be­mer­ken.

»Du bist der neue Jun­ge?«

»Ja, Sir«, gab ich zur Ant­wort.

»Ich bin ei­ner der Leh­rer von Sa­lem­haus«, sag­te er.

Ich ver­beug­te mich und fühl­te mich sehr ein­ge­schüch­tert. Ich schäm­te mich so sehr, von et­was so All­täg­li­chem wie mei­nem Kof­fer ei­nem Ge­lehr­ten und Leh­rer von Sa­lem­haus ge­gen­über zu spre­chen, dass wir schon eine Stre­cke weit weg wa­ren, als ich ihn dar­an er­in­ner­te.

Wir kehr­ten auf mei­ne de­mü­ti­ge Vor­stel­lung hin, dass mir der Kof­fer viel­leicht spä­ter nütz­lich sein möch­te, um, und er sag­te dem Kom­mis, dass der Fuhr­mann al­les nach­mit­tags ab­ho­len wer­de.

»Er­lau­ben Sie, Sir«, frag­te ich nach ei­ner Wei­le, »ist es weit?«

»Es ist nicht weit von Black­heath«, sag­te er.

»Ist das weit, Sir?«

»Ein hüb­sches Stück. Wir wer­den mit der Post fah­ren. Es sind so sechs Mei­len.«

Ich war so müde und matt, dass noch sechs Mei­len aus­hal­ten zu müs­sen mir un­er­träg­lich schi­en. Ich fass­te mir ein Herz und ge­stand, dass ich seit ges­tern Mit­tag nichts ge­ges­sen hat­te. Ich wür­de ihm sehr dank­bar sein, wenn er mir er­lau­ben woll­te, dass ich mir et­was zu es­sen kauf­te.

Er schi­en sich dar­über sehr zu wun­dern, – ich sehe ihn noch still ste­hen und mich an­se­hen –, und nach­dem er einen Au­gen­blick über­legt hat­te, sag­te er, er woll­te eine alte Frau, die nicht weit weg wohn­te, auf­su­chen, und das bes­te wer­de sein, wenn ich un­ter­wegs Brot oder was ich sonst brauch­te kauf­te und bei ihr, wo wir Milch be­kom­men könn­ten, früh­stück­te.

Wir tra­ten also in einen Bäcker­la­den, und nach­dem ich nach­ein­an­der fast al­les, was schwer ver­dau­lich war, hat­te kau­fen wol­len, und er mir ab­ge­ra­ten, ent­schie­den wir uns end­lich für einen net­ten klei­nen Laib Schwarz­brot, der drei Pence kos­te­te. Dann kauf­ten wir bei ei­nem Höck­ler ein Ei und eine Schnit­te Schin­ken; und da mir von mei­nem zwei­ten Schil­ling noch recht viel Klein­geld üb­rig blieb, kam mir Lon­don als ein sehr bil­li­ger Ort vor.

Mit un­sern Ein­käu­fen fer­tig, gin­gen wir durch ent­setz­li­chen Lärm und großes Ge­tö­se, das mei­nen Kopf un­be­schreib­lich ver­wirr­te, über eine Brücke, – ich glau­be, er nann­te sie Lon­don­brücke, – und ich war halb ein­ge­schla­fen, als wir bei dem Hau­se der al­ten Frau an­lang­ten, das zu ei­nem Teil ei­nes Ar­men­asyls ge­hör­te, wie ich aus ei­ner Über­schrift auf der Tür ent­nahm, die be­sag­te, dass es für fünf­und­zwan­zig arme Frau­en ein­ge­rich­tet war. Der Schul­meis­ter von Sa­lem­haus öff­ne­te eine der klei­nen schwar­zen Tü­ren, die alle ganz gleich aus­sa­hen und ne­ben de­nen sich ein paar klei­ne Fens­ter aus ge­ripp­tem Glas be­fan­den, und wir tra­ten in das Häu­schen ei­ner die­ser ar­men Per­so­nen, die ge­ra­de ein Feu­er an­blies, um einen klei­nen Napf zum Ko­chen zu brin­gen. Als die Alte den Schul­leh­rer ein­tre­ten sah, ließ sie den Bla­se­balg sin­ken und sag­te et­was, das wie »Mein Char­ley« klang. Als sie dann auch mich be­merk­te, rieb sie sich die Hän­de und knix­te ver­le­gen ein we­nig.

»Kannst du die­sem jun­gen Herrn viel­leicht sein Früh­stück ko­chen?« frag­te der Schul­meis­ter von Sa­lem­haus.

»Ob ich kann? Na­tür­lich kann ich.«

»Wie gehts Mrs. Fib­bit­son?« frag­te der Schul­leh­rer und sah eine an­de­re alte Frau an, die in ei­nem großen Stuhl beim Ofen saß und in so viel Klei­dern ver­steckt war, dass ich bis heu­te noch froh bin, mich nicht irr­tüm­lich auf sie ge­setzt zu ha­ben.

»Ach jäm­mer­lich«, sag­te die ers­te alte Frau. »Sie hat heu­te ih­ren ganz schlech­ten Tag. Wenn das Feu­er zu­fäl­lig aus­gin­ge, glau­be ich wirk­lich, sie wür­de auch aus­ge­hen und nicht mehr zu sich kom­men.«

Als sie Mrs. Fib­bit­son an­sa­hen, folg­te ich ih­rem Bei­spiel. Ob­gleich es ein war­mer Tag war, schi­en die­se Frau doch an nichts als an das Feu­er zu den­ken. Ich glau­be, sie gönn­te selbst dem Napf sein Plätz­chen nicht, und ver­mu­te, sie nahm es mir sehr übel, dass die Pfan­ne durch das Ko­chen mei­nes Früh­stücks noch län­ger in An­spruch ge­nom­men wer­den soll­te. Ich sah näm­lich mit mei­nen eig­nen mü­den Au­gen, wie sie mir wäh­rend des Ko­chens mit der Faust droh­te, als ein­mal nie­mand acht gab. Der Son­nen­schein ström­te zu dem klei­nen Fens­ter her­ein, aber sie saß mit Stuhl und Rücken da­ge­gen und schütz­te das Feu­er, als wol­le sie es ei­fer­süch­tig warm hal­ten, an­statt dass es sie warm hielt, und be­wach­te es aufs arg­wöh­nischs­te. Als die Vor­be­rei­tun­gen für mein Früh­stück be­en­det wa­ren und das Feu­er frei wur­de, freu­te sie sich so au­ßer­or­dent­lich, dass sie laut auf­lach­te; wie ich ge­ste­hen muss, sehr un­me­lo­disch.

Ich setz­te mich nie­der zu mei­nem Schwarz­brot, dem Ei und dem Schin­ken und ei­nem Napf mit Milch und hat­te ein köst­li­ches Mahl. Wäh­rend ich noch in vol­lem Ge­nus­se schwelg­te, sag­te die ers­te Alte zu dem Schul­leh­rer: »Hast du dei­ne Flö­te bei dir?«

»Ja«, ant­wor­te­te er.

»Mach einen Bla­ser drauf«, sag­te die alte Frau schmei­chelnd, »bit­te.«

Drauf­hin fass­te der Leh­rer mit sei­ner Hand un­ter sei­ne Rock­schö­ße und brach­te eine Flö­te in drei Stücken her­vor, die er zu­sam­men­schraub­te, wor­auf er zu bla­sen be­gann.

Nach lan­gen Jah­ren der Über­le­gung muss ich doch im­mer noch bei der Mei­nung be­har­ren, dass es nie­mals einen Men­schen auf der Welt ge­ge­ben ha­ben kann, der schlech­ter blies. Er brach­te die gräss­lichs­ten Töne her­vor, die ich je­mals auf na­tür­li­che oder künst­li­che Wei­se hat­te er­zeu­gen hö­ren. Ich weiß nicht, was es für Me­lo­di­en wa­ren, – wenn es über­haupt Me­lo­di­en wa­ren, was ich sehr be­zweifle, – aber auf mich üb­ten sie die Wir­kung aus, dass mir plötz­lich alle mei­ne Sor­gen wie­der ein­fie­len und ich kaum mei­ne Trä­nen zu­rück­hal­ten konn­te. Dann raub­ten sie mir den Ap­pe­tit, und schließ­lich mach­ten sie mich so schläf­rig, dass ich mei­ne Au­gen nicht mehr of­fen­hal­ten konn­te. Ich habe jetzt noch einen Drang zu ni­cken, wenn ich dar­an den­ke, und wie­der steigt das klei­ne Stüb­chen vor mir auf mit dem off­nen Wand­schrank in der Ecke, den Stüh­len mit den ho­hen Leh­nen, der klei­nen Win­kel­trep­pe, die in die obe­re Stu­be führ­te, und den drei Pfau­en­fe­dern über dem Ka­min­sims. Gleich, als ich ein­ge­tre­ten war, hät­te ich ger­ne ge­wusst, was sich wohl der Pfau ge­dacht ha­ben wür­de, wenn er ge­ahnt hät­te, was aus sei­nem Fe­der­schmuck noch ein­mal wer­den soll­te.

Das Bild ver­schwimmt lang­sam in Ne­bel, und ich ni­cke und schla­fe. Die Flö­te wird un­hör­bar, und ich höre statt des­sen die Rä­der der Post­kut­sche und bin wie­der auf Rei­sen. Der Wa­gen stößt, ich wa­che mit ei­nem Ruck auf, und die Flö­te ist wie­der da, und der Schul­meis­ter von Sa­lem­haus sitzt mit ver­schlung­nen Bei­nen da und bläst kläg­lich, wäh­rend die alte Frau ver­zückt vor sich hin­schaut. Sie zer­geht wie­der in Ne­bel und er zer­geht und al­les zer­geht, es ist kei­ne Flö­te mehr da, kein Sa­lem­haus, kein Da­vid Cop­per­field, son­dern nichts als tiefer, fes­ter Schlaf.

Ich träum­te, kam mir vor, dass die alte Frau in ih­rer Ver­zückung im­mer nä­her und nä­her zu ihm ge­kom­men sei, dicht hin­ter sei­nen Stuhl, und den Arm zärt­lich um sei­nen Hals schlän­ge, was dem Flö­te­bla­sen für einen Au­gen­blick ein Ende mach­te. In die­ser Pau­se hör­te ich in ei­nem Zu­stand von Halb­schlaf die alte Frau Mrs. Fib­bit­son fra­gen, ob es nicht köst­lich sei, wor­auf Mrs. Fib­bit­son ant­wor­te­te, »Ei­jei ja« und dem Feu­er zu­nick­te, dem sie wahr­schein­lich die Ent­ste­hung der Mu­sik zu­schrieb. Ich muss ziem­lich lan­ge ge­schla­fen ha­ben. Der Schul­meis­ter von Sa­lem­haus schraub­te schließ­lich sei­ne Flö­te wie­der in drei Stücke aus­ein­an­der, steck­te sie wie­der ein und führ­te mich fort. Der Om­ni­bus stand nicht weit, und wir stie­gen auf das Dach. Ich war fest ein­ge­schla­fen, als wir un­ter­wegs ein­mal an­hiel­ten und man mich in­nen sit­zen hieß, weil kei­ne Pas­sa­gie­re mehr drin wa­ren. End­lich fuhr der Wa­gen un­ter ei­nem grü­nen Laub­dach im Schritt einen stei­len Hü­gel hin­an. Dann hielt er und wir be­fan­den uns am Ziel.

We­ni­ge Schrit­te brach­ten den Schul­meis­ter und mich an das Sa­lem­haus, das, von ei­ner ho­hen Zie­gel­mau­er um­ge­ben, sehr öde aus­sah. Über der Tür hing ein Brett mit der In­schrift »Sa­lem­haus«, und durch ein Git­ter­fens­ter in der Tür mus­ter­te uns, nach­dem wir ge­klin­gelt hat­ten, ein mür­ri­sches Ge­sicht, das, wie ich nach dem Öff­nen der Türe sah, ei­nem di­cken Mann mit ei­nem Stier­nacken, ei­nem höl­zer­nen Bein, her­vor­ste­hen­den Schlä­fen und gleich­mä­ßig um den gan­zen Kopf ver­schnit­te­nen Haa­ren ge­hör­te.

»Der neue Jun­ge«, sag­te der Leh­rer.

Der Mann mit dem Holz­bein mus­ter­te mich von oben bis un­ten, wozu er sehr lan­ge brauch­te, schloss die Türe hin­ter uns und zog den Schlüs­sel ab. Wir gin­gen un­ter ein paar großen Bäu­men auf das Haus zu, als er den Schul­meis­ter zu­rück­rief:

»Hal­lo.«

Wir sa­hen uns um, und der Mann stand in der Tür des Pfört­ner­hau­ses und hielt ein paar Stie­fel in der Hand: »He! Der Schuh­fli­cker war da und sag­te, er kön­ne sie nicht mehr fli­cken. Er sag­te, es wäre kein Stück mehr ganz, – er möch­te ger­ne wis­sen, was Sie ei­gent­lich woll­ten.«

Mit die­sen Wor­ten warf er die Stie­fel Mr. Mell – so hieß der Leh­rer vor die Füße, und die­ser hob sie auf und be­trach­te­te sie mit be­trüb­tem Blick, als wir wei­ter­gin­gen. Ich be­merk­te jetzt zum ers­ten Mal, dass sei­ne Schu­he sich in ei­nem sehr schlech­ten Zu­stand be­fan­den, und dass an ei­ner Stel­le der Strumpf her­vor­lug­te wie eine Knos­pe.

Sa­lem­haus, ein vier­e­cki­ges Ge­bäu­de aus ro­ten Zie­geln mit ei­nem Flü­gel auf je­der Sei­te, sah öde und leer aus. Über­all war es so to­ten­still, dass ich zu Mr. Mell sag­te, die Schü­ler sei­en wohl aus­ge­gan­gen. Er schi­en sich zu wun­dern, dass ich nicht wuss­te, dass jetzt in den Fe­ri­en alle Schü­ler nach Haus ge­reist wä­ren. Mr. Cre­akle, der Ei­gen­tü­mer, so­wie Mrs. und Miss Cre­akle be­fän­den sich im See­bad, und man habe mich zur Stra­fe für mei­ne Mis­se­tat wäh­rend der Fe­ri­en hier­her­ge­schickt.

Die Schul­stu­be er­schi­en mir als der un­ge­müt­lichs­te und trau­rigs­te Ort, der mir je­mals vor­ge­kom­men. Ein lan­ges Zim­mer mit drei lan­gen Rei­hen Pul­ten und sechs Rei­hen Bän­ken und rund­her­um Ha­ken zum Auf­hän­gen der Hüte und Schie­fer­ta­feln. Aus­ge­ris­se­ne Blät­ter aus al­ten Schreib- und Lehr­bü­chern la­gen auf dem schmut­zi­gen Bo­den ver­streut. Ei­ni­ge Kä­fer­häus­chen aus dem­sel­ben Ma­te­ri­al la­gen auf den Pul­ten, zwei elen­de, klei­ne, wei­ße Mäu­se mit ro­ten Au­gen, von ih­ren Be­sit­zern zu­rück­ge­las­sen, lie­fen in ih­ren klei­nen Kä­fi­gen hin und her und schnup­per­ten in den Ecken nach Nah­rung her­um. Ein Vo­gel in ei­nem Bau­er hüpf­te trau­rig auf und nie­der, sang und zwit­scher­te aber nicht. Das gan­ze Zim­mer durch­drang ein merk­wür­di­ger, dump­fer Ge­ruch, wie von schimm­li­gem Tuch, fau­len Äp­feln und mod­ri­gen Bü­chern. Wenn das Haus von An­fang an dach­los ge­we­sen wäre, und der Him­mel hät­te das gan­ze Jahr hin­durch Tin­te ge­reg­net, ge­ha­gelt, ge­schneit und ge­stürmt, hät­te die Stu­be nicht ver­spritz­ter sein kön­nen. Mr. Mell hat­te mich al­lein ge­las­sen, wäh­rend er sei­ne un­flick­ba­ren Stie­fel hin­auf­trug, und ich ging un­ter­des­sen lei­se an das an­de­re Ende des Zim­mers. Als ich an den Tisch des Leh­rers kam, fand ich einen Pap­pen­de­ckel mit der schön ge­schrieb­nen In­schrift: »Acht ge­ben. Er beißt.«

Ich klet­ter­te un­ver­züg­lich auf das Pult hin­auf, denn ich fürch­te­te, es sei un­ten ein großer Hund ver­steckt. So vor­sich­tig ich mich auch um­sah, konn­te ich doch nichts ent­de­cken. Ich blick­te im­mer noch mit ängst­li­chen Au­gen um­her, als Mr. Mell zu­rück­kam und mich frag­te, was ich da oben ma­che.

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, Sir. Ich su­che den Hund.«

»Hund?« frag­te er. »Wel­chen Hund?«

»Es ist kein Hund da, Sir?«

»Was für ein Hund denn?«

»Vor dem man sich in acht neh­men soll, weil er beißt.«

»Nein, Cop­per­field«, sag­te der Leh­rer ernst, »das ist kein Hund, das ist ein Kna­be. Ich habe den Be­fehl, Cop­per­field, die­sen Zet­tel auf dei­nem Rücken zu be­fes­ti­gen. Es tut mir leid, dass ich so mit dir an­fan­gen muss, aber ich muss es tun.«

Da­mit zog er mich vom Pul­te her­un­ter und band mir das zu die­sem Zweck sinn­reich vor­be­rei­te­te Pla­kat wie einen Tor­nis­ter auf den Rücken, und von nun an hat­te ich den Trost, es, wo ich ging, mit mir her­um­tra­gen zu müs­sen.

Was ich un­ter die­sem Pla­kat zu lei­den hat­te, kann sich nie­mand vor­stel­len. Ob mich je­mand se­hen konn­te oder nicht, im­mer bil­de­te ich mir ein, je­der müss­te es le­sen. Es war mir kei­ne Er­leich­te­rung, wenn ich mich um­dreh­te und nie­mand da war; ich konn­te den Ge­dan­ken nie los wer­den, im­mer je­mand hin­ter mei­nem Rücken ste­hen zu wis­sen. Der grau­sa­me Mensch mit dem Holz­bein ver­mehr­te noch mei­ne Lei­den. Er hat­te zu be­feh­len, und wenn er sah, dass ich mich an einen Baum oder an eine Wand oder an das Haus lehn­te, brüll­te er mir aus sei­nem Häu­schen zu: »Heda, Cop­per­field! Lass nur das Ehren­zei­chen se­hen oder ich zeig dich an.«

Der Spiel­platz war ein kah­ler, mit Sand be­streu­ter Hof vor den Fens­tern der Kü­che und Ge­sin­de­stu­be, und ich wuss­te, dass die Die­ner­schaft, der Flei­scher und der Bä­cker den Zet­tel la­sen. Mit ei­nem Wort, wer früh, wenn ich auf dem Spiel­platz sein muss­te, im Hau­se kam oder ging, muss­te le­sen, dass man sich vor mir in acht zu neh­men hät­te, weil ich bis­se. Ich fing mich vor mir selbst zu fürch­ten an, wie vor ei­nem wil­den Jun­gen, der wirk­lich beißt. Auf dem Spiel­platz war eine alte Tür, be­deckt von Na­men, die die Schul­kna­ben dort ein­ge­schnit­ten hat­ten. In mei­ner Furcht vor dem Ende der Fe­ri­en und der Rück­kunft der Schü­ler konn­te ich kei­nen Na­men le­sen, ohne mich zu fra­gen, in wel­chem Tone wird der oder je­ner sa­gen: »Acht ge­ben! Er beißt.« Da war be­son­ders ei­ner, J. Steer­forth, der sei­nen Na­men sehr oft und sehr tief ein­ge­schnit­ten hat­te, und der, wie ich mir vor­stell­te, das Pla­kat mit sehr lau­ter Stim­me vor­le­sen und mich im­mer an den Haa­ren zup­fen wür­de. Dann ein an­de­rer, Tom­my Tradd­les, von dem ich fürch­te­te, er wer­de Spä­ße trei­ben und sich stel­len, als ob er sich ent­setz­lich vor mir fürch­te­te. Von ei­nem drit­ten, Ge­or­ge Dem­ple, glaub­te ich, er wer­de die In­schrift sin­gen.

Ich, das klei­ne, ein­ge­schüch­ter­te Ge­schöpf, hat­te so oft die Tür an­ge­se­hen, bis die Trä­ger al­ler die­ser Na­men – wie mir Mr. Mell sag­te, wa­ren fünf­und­vier­zig Schü­ler da – mich auf all­ge­mei­nen Be­schluss in Ver­ruf zu tun schie­nen, wo­bei je­der in sei­ner eig­nen Wei­se aus­rief: »Acht ge­ben! Er beißt.« Eben­so ver­hielt es sich mit den Plät­zen vor dem Pul­te und den Bän­ken. Eben­so mit den Rei­hen ver­lass­ner Bett­stel­len, wenn ich aus mei­nem La­ger her­aus einen Blick auf sie warf. Ich er­in­ne­re mich, dass ich eine Nacht nach der an­de­ren träum­te, ich sei wie­der bei mei­ner Mut­ter, wie frü­her, oder auf Be­such bei Mr. Peg­got­ty oder rei­se als Au­ßen­pas­sa­gier mit der Post­kut­sche oder spei­se wie­der mit mei­nem un­glück­li­chen Freun­de, dem Kell­ner, und über­all wun­der­ten sich die Leu­te, wenn sie be­merk­ten, dass ich nichts an­hat­te als mein klei­nes Nacht­hemd und das Pla­kat auf dem Rücken.

In der Ein­för­mig­keit mei­nes Le­bens und in be­stän­di­ger Furcht vor dem Schul­be­ginn be­rei­te­te es mir un­er­träg­li­che Lei­den. Ich hat­te je­den Tag lan­ge Lek­tio­nen bei Mr. Mell, da aber Mr. und Miss Murd­sto­ne nicht an­we­send wa­ren, kam ich gut weg. Vor- und nach­her muss­te ich spa­zie­ren­ge­hen, über­wacht von dem Mann mit dem Holz­bein. Wie leb­haft ich mich an die Feuch­tig­keit rings ums Haus er­in­ne­re, an die grü­nen, zer­sprung­nen Stei­ne im Hof, das alte le­cke Was­ser­fass und die ver­wasch­nen Stäm­me der düs­tern Bäu­me, die mehr als an­de­re Ge­wäch­se im Re­gen ge­tröp­felt und we­ni­ger in der Son­ne ge­blüht zu ha­ben schie­nen. Um ein Uhr aßen wir zu Mit­tag, Mr. Mell und ich, an dem obe­ren Ende ei­nes lan­gen kah­len Ess­zim­mers, das voll war von höl­zer­nen Ti­schen und stark nach Fett roch. Dann ar­bei­te­ten wir wie­der bis zum Tee, den Mr. Mell aus ei­ner blau­en Tas­se und ich aus ei­nem Zinn­topf tran­ken. Den gan­zen Tag lang bis abends sie­ben oder acht war Mr. Mell an­ge­strengt an sei­nem be­son­dern Pult im Schul­zim­mer mit Fe­der, Tin­te, Li­ne­al, Bü­chern und Schreib­pa­pier be­schäf­tigt. Er zog die Rech­nun­gen aus für das ver­gan­ge­ne hal­be Jahr. Wenn er sei­ne Sa­chen für die Nacht auf­ge­räumt hat­te, zog er sei­ne Flö­te her­vor und blies, bis ich glaub­te, er müss­te all­mäh­lich sein gan­zes Ich am obe­ren Ende hin­ein­ge­bla­sen und sich durch die Klap­pen ver­flüch­tigt ha­ben.

Ich stel­le mir mein eig­nes klei­nes Ich vor, wie ich in dem schwach er­hell­ten Zim­mer, den Kopf in die Hand ge­stützt, sit­ze und der kläg­li­chen Mu­sik Mr. Mells zu­hö­re und die Auf­ga­ben für den nächs­ten Tag ler­ne. Ich sehe mich, wie ich die Bü­cher weg­ge­legt habe und im­mer noch den kläg­li­chen Me­lo­di­en Mr. Mells lau­sche, und ich höre dar­in, was mir frü­her das müt­ter­li­che Haus war, höre den Wind we­hen über die Dü­nen von Yar­mouth und füh­le mich be­drückt und ein­sam. Ich sehe, wie ich zu Bet­te gehe in dem un­gast­li­chen Zim­mer und mich auf das Bett set­ze und mich mit Trä­nen nach ei­nem trös­ten­den Wort von Peg­got­ty seh­ne. Ich sehe mich, wie ich früh die Trep­pe her­un­ter­kom­me und durch ein Gang­fens­ter auf dem Da­che ei­nes Häu­schens drau­ßen die große Schul­glo­cke be­trach­te mit ei­ner Wet­ter­fah­ne dar­über, und wie ich mich vor der Zeit fürch­te, wo sie J. Steer­forth und die üb­ri­gen zur Ar­beit ru­fen wird, was an Schreck­lich­keit nur von dem Zeit­punkt über­trof­fen wird, wo der Mann mit dem Holz­bein das ros­ti­ge Tor auf­schlie­ßen und den furcht­ba­ren Mr. Cre­akle ein­las­sen wird. Ich glau­be nicht, dass ich in mei­ner Fan­ta­sie mir ge­fähr­lich vor­kam, aber ich trug doch die War­nung auf dem Rücken!

Mr. Mell sprach nie­mals viel mit mir, aber er war nie­mals rau ge­gen mich. Ich glau­be, wir leis­te­ten ein­an­der gute Ge­sell­schaft, auch ohne mit­ein­an­der zu spre­chen. Manch­mal re­de­te er mit sich selbst, lach­te vor sich hin, ball­te die Faust, knirsch­te mit den Zäh­nen und rauf­te sich die Haa­re in gar nicht zu schil­dern­der Wei­se. Er hat­te nun ein­mal die­se Ei­gen­tüm­lich­kei­ten. Erst flö­ßten sie mir Furcht ein, aber bald ge­wöhn­te ich mich dar­an.

David Copperfield

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