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2. Kapitel – Ich beobachte

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Die ers­ten Ge­gen­stän­de, die be­stimm­te Um­ris­se vor mir an­neh­men, wenn ich weit zu­rück in die Lee­re mei­ner Kind­heit bli­cke, sind mei­ne Mut­ter mit ih­rem schö­nen Haar und den ju­gend­li­chen For­men und Peg­got­ty mit über­haupt gar kei­ner Form und mit so dun­keln Au­gen, dass sie ihre Um­ge­bung im Ge­sicht dun­kel zu ma­chen schei­nen, und mit Ar­men und Ba­cken so rot, dass ich mich stets wun­der­te, warum die Vö­gel nicht lie­ber an ih­nen statt an den Äp­feln her­um­pick­ten.

Ich glau­be, mich noch dar­an er­in­nern zu kön­nen, wie die bei­den Frau­en in klei­ner Ent­fer­nung von­ein­an­der auf dem Bo­den knie­ten, und ich un­si­cher von ei­ner zur an­de­ren wank­te. Ich habe auch noch eine dunkle Erin­ne­rung an Peg­got­tys Zei­ge­fin­ger, der von der Na­del so rau war wie ein Ta­schen­mus­kat­nuss­reib­ei­sen.

Das mag Ein­bil­dung sein, aber ich glau­be, dass das Ge­dächt­nis der meis­ten Men­schen wei­ter in die Kin­der­zeit zu­rück­reicht, als man ge­wöhn­lich an­nimmt; eben­so glau­be ich, dass die Beo­b­ach­tungs­ga­be bei vie­len klei­nen Kin­dern an Schär­fe und Ge­nau­ig­keit ganz wun­der­bar ist. Ich glau­be so­gar, dass man von den meis­ten Er­wach­se­nen, die in die­ser Hin­sicht be­mer­kens­wert sind, viel eher sa­gen könn­te, sie hät­ten die­se Fä­hig­keit nicht ver­lo­ren, als, sie hät­ten sie erst spä­ter er­wor­ben; umso mehr, als sol­che Men­schen über­dies eine ge­wis­se Fri­sche und Sanft­mut und eine Fä­hig­keit, sich über ir­gen­det­was zu freu­en, be­sit­zen, lau­ter Ei­gen­schaf­ten, die sie eben­falls aus der Kind­heit mit her­über­ge­nom­men ha­ben.

Wenn ich also, wie ge­sagt, in die Lee­re mei­ner frü­he­s­ten Ju­gend zu­rück­bli­cke, sind die ers­ten Ge­gen­stän­de, de­ren ich mich er­in­nern kann, und die aus dem Wirr­warr der Din­ge her­vor­ste­chen, mei­ne Mut­ter und Peg­got­ty. Was weiß ich sonst noch? Wol­len mal se­hen.

Es schei­det sich aus dem Ne­bel un­ser Haus in sei­ner mir in frü­he­s­ter Erin­ne­rung ver­trau­ten Ge­stalt. Im Erd­ge­schoss geht Peg­got­tys Kü­che auf den Hin­ter­hof hin­aus; da sind: in der Mit­te ein Tau­ben­schlag auf ei­ner Stan­ge, aber ohne Tau­ben; eine große Hun­de­hüt­te in ei­ner Ecke, aber kein Hund dar­in, und eine An­zahl Hüh­ner, die mir er­schreck­lich groß vor­kom­men, wie sie mit dro­hen­dem und wil­dem We­sen her­um­stol­zie­ren. Ein Hahn fliegt auf einen Pfos­ten, um zu krä­hen, und scheint sein Auge ganz be­son­ders auf mich zu rich­ten, wie ich ihn durch das Kü­chen­fens­ter be­trach­te; und ich zit­te­re vor Furcht, weil er so bös ist. Von den Gän­sen au­ßer­halb der Sei­ten­tür, die mir mit lan­g­aus­ge­streck­ten Häl­sen nach­lau­fen, wenn ich vor­bei­ge­he, träu­me ich die gan­ze Nacht, wie ein Mann, den wil­de Tie­re um­ge­ben, von Lö­wen träu­men wür­de.

Dann ist ein lan­ger Gang da – für mich eine end­lo­se Per­spek­ti­ve –, der von Peg­got­tys Kü­che zum Haupt­tor führt. Eine dunkle Vor­rats­kam­mer mün­det auf die­sen Gang; – so recht ein Ort, um des Nachts dar­an scheu vor­bei­zu­lau­fen –, denn ich weiß nicht, was zwi­schen die­sen Ton­nen und Krü­gen und al­ten Tee­kis­ten ste­cken mag –, wenn sich nicht ge­ra­de je­mand mit ei­nem bren­nen­den Licht in der Kam­mer be­fin­det. Eine dump­fi­ge Luft, mit der sich der Ge­ruch von Sei­fe, Mi­xed-Pick­les, Pfef­fer, Ker­zen und Kaf­fee ver­mischt, strömt her­aus. Dann sind die bei­den Wohn­zim­mer da: Das eine, in dem abends mei­ne Mut­ter, ich und Peg­got­ty sit­zen, – denn Peg­got­ty leis­tet uns Ge­sell­schaft, wenn wir al­lein sind, und sie ihre Ar­beit ge­macht hat, – und das Empfangs­zim­mer, wo wir Sonn­tags sit­zen, prunk­voll, aber nicht so trau­lich. Für mich hat die­ses Zim­mer et­was Schwer­mü­ti­ges, denn Peg­got­ty hat mir er­zählt, – ich weiß zwar nicht mehr, wann, aber es muss lan­ge her sein – als mein Va­ter be­gra­ben wur­de, wä­ren die Trau­er­gäs­te drin mit schwar­zen Män­teln um­her­ge­gan­gen. Dort liest je­den Sonn­tag abends mei­ne Mut­ter Peg­got­ty und mir vor, wie La­za­rus von den To­ten auf­er­weckt wur­de. Und ich ängs­ti­ge mich so sehr dar­über, dass sie mich dann aus dem Bet­te her­aus­neh­men und mir aus dem Schlaf­zim­mer­fens­ter den stil­len Kirch­hof zei­gen müs­sen, wo die To­ten im fei­er­li­chen Mond­licht in ih­ren Grä­bern ru­hen.

Auf der gan­zen Welt, so viel ich weiß, ist nir­gends das Gras nur halb so grün wie auf die­sem Kirch­hof, nir­gends sind die Bäu­me halb so schat­tig, und nichts ist so still wie die Grab­stei­ne. Die Scha­fe wei­den dort, wenn ich früh mor­gens in dem klei­nen Bett in dem Al­ko­ven hin­ter mei­ner Mut­ter Schlaf­zim­mer knie und hin­aus­schaue, und ich sehe das röt­li­che Licht auf die Son­nen­uhr schei­nen und den­ke bei mir: Freut sich die Son­nen­uhr, dass sie die Zeit an­ge­ben kann?

Dann ist un­ser Bet­stuhl in der Kir­che da. Was für ein hoch­rücki­ger Stuhl! Da­ne­ben ist ein Fens­ter, von dem aus man un­ser Haus se­hen kann. Und oft­mals wäh­rend des Mor­gen­got­tes­diens­tes blickt Peg­got­ty hin­aus, um sich zu ver­ge­wis­sern, ob nicht ein­ge­bro­chen oder et­was in Brand ge­steckt wird. Wenn sie selbst auch ihre Au­gen um­her­wan­dern lässt, so wird sie doch böse, wenn ich das­sel­be tue, und winkt mir zu, wenn ich auf dem Sitz ste­he, dass ich den Geist­li­chen an­bli­cken sol­le. Aber ich kann ihn doch nicht im­mer­fort an­se­hen – ich ken­ne ihn doch so­wie­so auch ohne das wei­ße Ding, das er um­hat, und fürch­te im­mer, er kön­ne plötz­lich wis­sen wol­len, warum ich ihn so an­stau­ne, und viel­leicht gar den Got­tes­dienst un­ter­bre­chen, um mich dar­über zu be­fra­gen, – und was soll­te ich dann tun?

Es ist et­was Schreck­li­ches, zu gäh­nen. Aber ir­gen­det­was muss ich doch ma­chen. Ich bli­cke mei­ne Mut­ter an, aber sie tut, als ob sie mich nicht sähe. Ich schaue einen Jun­gen im Sei­ten­schiff an; er schnei­det mir Ge­sich­ter. Ich sehe auf die Son­nen­strah­len, die durch die off­ne Tür her­ein­fal­len, und da er­bli­cke ich ein ver­irr­tes Schaf, ich mei­ne nicht einen Sün­der, son­dern einen Ham­mel, der Mie­ne macht, in die Kir­che zu tre­ten. Ich füh­le, dass ich nicht län­ger hin­schau­en kann, denn ich könn­te in Ver­su­chung kom­men, et­was laut zu sa­gen, und was wür­de dann aus mir wer­den. Ich bli­cke auf die Ge­dächt­nis­ta­feln an der Wand und ver­su­che, an den ver­stor­be­nen Mr. Bod­gers zu den­ken, und wel­cher Art wohl Mrs. Bod­gers Ge­füh­le ge­we­sen sein mö­gen, als ihr Mann so lan­ge krank lag und die Kunst der Ärz­te ver­ge­bens war. Ich fra­ge mich, ob sie auch Mr. Chil­lip ver­geb­lich ge­ru­fen ha­ben und wenn, ob es ihm recht ist, dar­an jede Wo­che ein­mal er­in­nert zu wer­den. Ich schaue von Mr. Chil­lip in sei­nem Sonn­tags­hals­tuch nach der Kan­zel hin und den­ke, was für ein hüb­scher Spiel­platz das sein müss­te, und was das für eine fei­ne Fes­tung ab­ge­ben wür­de, wenn ein an­de­rer Jun­ge die Trep­pen her­auf­käme zum An­griff, und man könn­te ihm das Samt­kis­sen mit den Trod­deln auf den Kopf schmei­ßen. Und wenn sich nach und nach mei­ne Au­gen schlie­ßen, und ich an­fangs den Geist­li­chen in der Hit­ze noch ein schläf­ri­ges Lied sin­gen höre, ver­neh­me ich bald gar nichts mehr. Dann fal­le ich mit ei­nem Krach vom Sit­ze und wer­de mehr tot als le­ben­dig von Peg­got­ty hin­aus­ge­tra­gen.

Und dann wie­der sehe ich die Au­ßen­sei­te un­se­res Hau­ses, und die Fens­ter­lä­den des Schlaf­zim­mers ste­hen of­fen, da­mit die wür­zi­ge Luft hin­ein­strö­men kann, und im Hin­ter­grund des Haupt­gar­tens hän­gen in den ho­hen Ul­men die zer­zaus­ten Krä­hen­nes­ter. Jetzt bin ich in dem Gar­ten hin­ter dem Hof mit dem lee­ren Tau­ben­schlag und der Hun­de­hüt­te – ein wah­rer Park für Schmet­ter­lin­ge – mit sei­nem ho­hen Zaun und sei­ner Türe mit Vor­häng­sch­lös­sern, und das Obst hängt dick an den Bäu­men, rei­fer und rei­cher als in ir­gend­ei­nem an­de­ren Gar­ten, und mei­ne Mut­ter pflückt die Früch­te in ein Körb­chen, wäh­rend ich da­bei­ste­he und heim­lich ein paar ab­ge­zwick­te Sta­chel­bee­ren rasch in den Mund ste­cke und mich be­mü­he, un­be­tei­ligt aus­zu­se­hen.

Ein star­ker Wind er­hebt sich, und im Handum­dre­hen ist der Som­mer weg. Wir spie­len im Win­ter­zwie­licht und tan­zen in der Stu­be her­um. Wenn mei­ne Mut­ter au­ßer Atem ist und im Lehn­stuhl aus­ruht, sehe ich ihr zu, wie sie ihre glän­zen­den Lo­cken um die Fin­ger wi­ckelt und sich das Leib­chen glatt zieht, und nie­mand weiß so gut wie ich, dass sie sich freut, so gut aus­zu­se­hen, und stolz ist, so hübsch zu sein.

Das sind so ei­ni­ge von mei­nen frü­he­s­ten Ein­drücken. Das und ein Ge­fühl, dass wir bei­de ein biss­chen Angst hat­ten vor Peg­got­ty und uns in den meis­ten Fäl­len ih­ren An­ord­nun­gen füg­ten, ge­hört zu den ers­ten Schlüs­sen, – wenn ich so sa­gen darf, – die ich aus dem zog, was ich sah.

Peg­got­ty und ich sa­ßen ei­nes Abends al­lein in der Wohn­stu­be vor dem Ka­min. Ich hat­te Peg­got­ty von Kro­ko­di­len vor­ge­le­sen. Ich muss wohl kaum sehr deut­lich ge­le­sen ha­ben, oder die arme See­le muss in tie­fen Ge­dan­ken ge­we­sen sein, denn ich er­in­ne­re mich, als ich fer­tig war, hat­te sie so eine Idee, Kro­ko­di­le wä­ren eine Art Ge­mü­se. Ich war vom Le­sen müde und sehr schläf­rig, aber da ich die be­son­de­re Er­laub­nis be­kom­men hat­te, auf­zu­blei­ben, bis mei­ne Mut­ter von ei­nem Be­such nach Hau­se käme, wäre ich na­tür­lich lie­ber auf mei­nem Pos­ten ge­stor­ben als zu Bett ge­gan­gen. Ich war be­reits auf ei­nem Sta­di­um von Schläf­rig­keit an­ge­kom­men, wo Peg­got­ty mir im­mer grö­ßer und grö­ßer zu wer­den schi­en. Ich hielt mei­ne Au­gen mit den bei­den Zei­ge­fin­gern of­fen und sah sie un­un­ter­bro­chen an, wie sie auf ih­rem Stuh­le saß und ar­bei­te­te, be­trach­te­te dann das klei­ne Stück­chen Wachs­licht, mit dem sie ih­ren Zwirn wichs­te – wie alt es aus­sah mit sei­nen Run­zeln kreuz und quer –, das Hütt­chen mit dem Stroh­dach, worin das El­len­maß wohn­te, das Ar­beits­käst­chen mit dem Schie­be­de­ckel und ei­ner An­sicht dar­auf von der St.-Pauls-Kir­che mit ei­ner pur­pur­ro­ten Kup­pel, den mes­sing­nen Fin­ger­hut und sie selbst, die mir un­ge­mein schön vor­kam. Ich war so müde, dass ich fühl­te, ich wür­de ein­schla­fen, wenn ich nur einen Au­gen­blick mei­ne Au­gen ab­wen­de­te.

»Peg­got­ty«, sag­te ich dann plötz­lich: »Bist du ein­mal ver­hei­ra­tet ge­we­sen?«

»Herr Gott, Mas­ter Davy!« er­wi­der­te Peg­got­ty, »wie kommst du nur aufs Hei­ra­ten?«

Sie ant­wor­te­te so über­rascht, dass ich ganz wach wur­de. Dann hielt sie inne in ih­rer Ar­beit und sah mich an, den Fa­den in sei­ner gan­zen Län­ge straff­ge­zo­gen.

»Aber du warst doch ein­mal ver­hei­ra­tet, Peg­got­ty?« frag­te ich. »Du bist doch wun­der­schön, nicht wahr?« Ich hielt sie al­ler­dings für eine an­de­re Stilart als mei­ne Mut­ter, aber nach ei­ner an­de­ren Schu­le von Schön­heits­be­griff ge­se­hen, kam sie mir als voll­kom­me­nes Mus­ter vor. In un­serm Empfangs­zim­mer war ein rot­sam­te­nes Fuß­bänk­chen, auf das mei­ne Mut­ter einen Blu­men­strauß ge­malt hat­te. Die­ser Samt und Peg­got­tys Haut schie­nen mir ganz gleich. Die Fuß­bank war glatt und weich und Peg­got­ty rau, aber das mach­te kei­nen Un­ter­schied.

»Ich, schön, Davy!« sag­te Peg­got­ty. »O Gott, nein, mein lie­bes Kind. Aber wie kommst du aufs Hei­ra­ten?«

»Ich weiß nicht. – Du darfst nicht mehr als einen auf ein­mal hei­ra­ten, nicht wahr, Peg­got­ty?«

»Ge­wiss nicht«, sag­te Peg­got­ty mit größ­ter Ent­schie­den­heit.

»Aber wenn du einen Mann hei­ra­test und er stirbt, dann geht’s, nicht wahr, Peg­got­ty?«

»Es geht schon, wenn man will, lie­bes Kind«, sag­te Peg­got­ty. »Das ist dann eben mei­ne Sa­che.«

»Aber was ist dei­ne Mei­nung«, frag­te ich.

Bei die­ser Fra­ge blick­te ich sie neu­gie­rig an, weil sie mich so selt­sam mus­ter­te.

»Mei­ne Mei­nung ist«, sag­te Peg­got­ty, als sie nach kur­z­em Zö­gern ihre Au­gen von mir ab­ge­wen­det und wie­der zu ar­bei­ten be­gon­nen hat­te, »dass ich selbst nie­mals ver­hei­ra­tet ge­we­sen bin, Mas­ter Davy, und dass ich auch nicht dar­an den­ke. Das ist al­les, was ich von der Sa­che weiß.«

»Du bist doch nicht böse, Peg­got­ty?« frag­te ich, nach­dem ich eine Wei­le still ge­we­sen.

Ich glaub­te es wirk­lich, so kurz hat­te sie mich ab­ge­fer­tigt, muss­te aber wohl im Irr­tum sein, denn sie leg­te ihr Strick­zeug weg, öff­ne­te ihre Arme, nahm mei­nen lo­cki­gen Kopf und drück­te mich fest an sich. Dass sie mich derb an sich press­te, wuss­te ich, denn da sie sehr be­leibt war, so pfleg­ten stets, wenn sie an­ge­klei­det war, bei je­der klei­nen An­stren­gung ein paar Knöp­fe hin­ten an ih­rem Kleid ab­zu­sprin­gen. Und ich er­in­ne­re mich, dass zwei Stück in die ent­ge­gen­ge­setz­te Zim­me­r­e­cke flo­gen, als sie mich um­arm­te.

»Nun lies mir noch et­was von den Kror­king­di­len vor«, sag­te Peg­got­ty, die in die­sem Na­men noch nicht recht sat­tel­fest war, »ich habe noch lan­ge nicht ge­nug von ih­nen ge­hört.«

Ich konn­te nicht be­grei­fen, warum Peg­got­ty so wun­der­li­che Au­gen mach­te und durch­aus wie­der von den Kro­ko­di­len hö­ren woll­te. Mit großem Ei­fer mei­ner­seits kehr­ten wir je­doch wie­der zu den Un­ge­heu­ern zu­rück und lie­ßen die Son­ne ihre Eier im San­de aus­brü­ten, ris­sen vor ih­nen aus und ent­ran­nen ih­nen durch plötz­li­ches Um­keh­ren, was sie ih­res un­ge­schlach­ten Bau­es we­gen nicht so rasch nach­ma­chen konn­ten, ver­folg­ten sie als Ein­ge­bo­re­ne ins Was­ser und steck­ten ih­nen scharf­ge­spitz­te Holz­stücke in den Ra­chen, kurz, lie­ßen sie förm­lich Spieß­ru­ten lau­fen. Ich we­nigs­tens tat es, hat­te aber be­treffs Peg­got­tys so mei­ne Zwei­fel, denn ich sah, wie sie sich die gan­ze Zeit über in Ge­dan­ken ver­sun­ken mit der Na­del in ver­schie­de­ne Tei­le ih­res Ge­sichts und ih­rer Arme stach. Wir hat­ten end­lich die Kro­ko­di­le er­schöpft und be­gan­nen eben mit den Al­li­ga­to­ren, als die Gar­ten­glo­cke läu­te­te. Wir gin­gen hin­aus und fan­den da mei­ne Mut­ter, die mir un­ge­wöhn­lich hübsch vor­kam, und bei ihr stand ein Herr mit schö­nem, schwar­zem Haar und Ba­cken­bart, der schon am letz­ten Sonn­tag mit uns aus der Kir­che nach Hau­se ge­gan­gen war.

Als mei­ne Mut­ter mich auf der Schwel­le in ihre Arme nahm und mich küss­te, sag­te der Herr, ich sei glück­li­cher als ein Kö­nig – oder et­was Ähn­li­ches –; ich füh­le wohl, dass mir mein spä­te­res Ver­ständ­nis hier zu Hil­fe kommt.

»Was heißt das?« frag­te ich ihn über ihre Schul­ter hin­weg.

Er klopf­te mich auf den Kopf, aber ich konn­te ihn und sei­ne tie­fe Stim­me nicht lei­den und war ei­fer­süch­tig, dass sei­ne Hand die mei­ner Mut­ter be­rühr­te, und ich stieß ihn weg, so gut ich konn­te.

»Aber Davy«, er­mahn­te mich mei­ne Mut­ter.

»Der lie­be Jun­ge«, sag­te der Herr. »Ich kann mich über sei­ne Lie­be nicht wun­dern.«

Noch nie hat­te ich mei­ner Mut­ter Ge­sicht so schön rot ge­se­hen. Sie schalt mich mil­de aus we­gen mei­ner Un­höf­lich­keit und sprach, in­dem sie mich fest an sich drück­te, ih­ren Dank dem Herrn aus, der so freund­lich ge­we­sen, sie nach Hau­se zu be­glei­ten. Sie reich­te ihm ihre Hand hin bei die­sen Wor­ten, und als er sie nahm, kam es mir vor, als ob sie mich an­blick­te.

»Jetzt wol­len wir uns gute Nacht wün­schen, mein hüb­scher Jun­ge«, sag­te der Herr zu mir, als er sein Ge­sicht, wie ich wohl be­merk­te, auf mei­ner Mut­ter klei­nen Hand­schuh neig­te.

»Gute Nacht«, sag­te ich.

»Wir müs­sen noch die bes­ten Freun­de von der Welt wer­den«, lach­te der Herr, »gib mir die Hand.«

Mei­ne rech­te Hand lag in mei­ner Mut­ter Lin­ken, und so gab ich ihm die an­de­re.

»Aber das ist ja die falsche, Davy«, sag­te er wie­der la­chend.

Mei­ne Mut­ter zog mei­ne rech­te Hand her­vor, aber ich war ent­schlos­sen, sie ihm nicht zu ge­ben und tat es auch nicht. So reich­te ich ihm die an­de­re und er schüt­tel­te sie und sag­te, ich sei ein bra­ver Jun­ge, und ging fort.

Und noch jetzt seh ich ihn, wie er sich im Gar­ten um­dreh­te und uns einen letz­ten Blick aus sei­nen un­an­ge­neh­men, schwar­zen Au­gen zu­warf, ehe er das Tor schloss.

Peg­got­ty, die kein Wort ge­spro­chen und kei­nen Fin­ger ge­rührt hat­te, schob so­fort den Rie­gel vor, und wir gin­gen alle in das Wohn­zim­mer. An­statt sich wie ge­wöhn­lich in den Lehn­stuhl ne­ben den Ka­min zu set­zen, blieb mei­ne Mut­ter am an­de­ren Ende des Zim­mers und sang vor sich hin.

»– hof­fe, Sie ha­ben einen an­ge­neh­men Abend ver­lebt, Ma’am«, sag­te Peg­got­ty, die mit ei­nem Leuch­ter in der Hand steif wie eine Ton­ne mit­ten im Zim­mer stand.

»Dan­ke schön, Peg­got­ty«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter sehr auf­ge­räumt. »Ich habe einen sehr an­ge­neh­men Abend ver­bracht.«

»Eine neue Be­kannt­schaft ist im­mer eine an­ge­neh­me Ab­wechs­lung«, be­merk­te Peg­got­ty.

»Eine sehr an­ge­neh­me Ab­wechs­lung«, er­wi­der­te mei­ne Mut­ter.

Peg­got­ty blieb re­gungs­los in der Mit­te des Zim­mers ste­hen, mei­ne Mut­ter fing wie­der zu sin­gen an, und ich schlief ein, wenn auch nicht so fest, dass ich nicht noch hät­te Stim­men hö­ren kön­nen, ohne aber zu ver­ste­hen, was sie sag­ten. Als ich aus die­sem un­be­hag­li­chen Schlum­mer halb er­wach­te, sah ich, dass mei­ne Mut­ter und Peg­got­ty bei­de wein­ten und in großer Auf­re­gung mit­ein­an­der spra­chen.

»So ei­ner wie die­ser hät­te Mr. Cop­per­field nicht ge­fal­len«, sag­te Peg­got­ty. »Das ist mei­ne Mei­nung und die be­schwör ich.«

»Gott im Him­mel!« rief mei­ne Mut­ter. »Du wirst mich noch wahn­sin­nig ma­chen. Wur­de je­mals ein ar­mes Mäd­chen von sei­nen Dienst­bo­ten so miss­han­delt. Wa­rum füge ich mir das Un­recht zu und nen­ne mich ein Mäd­chen? War ich viel­leicht nie­mals ver­hei­ra­tet, Peg­got­ty?«

»Gott weiß, dass Sie es wa­ren, Ma’am«, er­wi­der­te Peg­got­ty.

»Wie kannst du es dann wa­gen«, sag­te mei­ne Mut­ter, »du weißt, ich mei­ne nicht, wie du es wa­gen kannst, Peg­got­ty, son­dern wie du es übers Herz brin­gen kannst, mich so zu ver­stim­men und mir so böse Wor­te zu sa­gen, wo du doch recht gut weißt, dass ich au­ßer dem Hau­se nicht einen ein­zi­gen gu­ten Freund habe.«

»Umso mehr Grund für mich, Ih­nen zu sa­gen, dass es nicht geht«, ent­geg­ne­te Peg­got­ty. »Nein, es geht nicht, nein, um kei­nen Preis. Nein!« Ich dach­te schon, Peg­got­ty wür­de den Leuch­ter weg­wer­fen, so ener­gisch schwang sie ihn.

»Wie kannst du es nur so auf­bau­schen«, sag­te mei­ne Mut­ter und fing von Neu­em an zu wei­nen, »und so un­ge­recht sein. Du tust so, als wenn al­les schon ab­ge­macht wäre, Peg­got­ty, und ich sage dir doch im­mer und im­mer wie­der, du grau­sa­mes Ding, dass au­ßer den ge­wöhn­lichs­ten Höf­lich­kei­ten nichts vor­ge­fal­len ist. Du sprichst von Be­wun­de­rung. Was kann ich da­für, wenn die Leu­te so al­bern sind, sol­chen Ge­füh­len nach­zu­ge­ben, ist das mei­ne Schuld? Was soll ich denn tun, fra­ge ich dich? Willst du viel­leicht, dass ich mir die Haa­re schnei­den oder das Ge­sicht schwär­zen oder mich durch einen Brand­fleck oder hei­ßes Was­ser oder sonst et­was Ähn­li­ches ver­un­stal­ten soll? Ich glau­be, du wärst es im­stan­de, Peg­got­ty. Ich glau­be, du wür­dest dich so­gar drü­ber freu­en.«

Peg­got­ty schi­en sich die­se Zu­mu­tung sehr zu Her­zen zu neh­men, wie mir vor­kam.

»Und mein lie­ber Jun­ge«, schrie mei­ne Mut­ter, kam zu mir in den Lehn­stuhl und lieb­kos­te mich. »Mein ein­zi­ger klei­ner Davy! Las­se ich es viel­leicht an Lie­be für mein Herz­blatt feh­len? Für den al­ler­bes­ten klei­nen Jun­gen, den es je ge­ge­ben hat?«

»Kein Mensch hat das be­haup­tet«, sag­te Peg­got­ty.

»Ja du, Peg­got­ty«, gab mei­ne Mut­ter zu­rück, »du weißt es ganz gut. Was soll ich denn an­de­res aus dei­nen Wor­ten schlie­ßen, du un­freund­li­ches Ge­schöpf, wo du doch recht gut weißt, dass ich mir bloß sei­net­we­gen kei­nen neu­en Son­nen­schirm ge­kauft habe, ob­wohl der alte, grü­ne ganz ab­ge­scho­ben ist und gar kei­ne Fran­sen mehr hat. Du weißt es, Peg­got­ty, und kannst es nicht leug­nen.« Dann wand­te sie sich wie­der zärt­lich zu mir, leg­te ihre Wan­ge an mei­ne. »Bin ich dir eine nichts­nut­zi­ge Mama, Davy? Bin ich eine hart­her­zi­ge, grau­sa­me, selbst­süch­ti­ge, schlech­te Mama? Sag Ja, mein Kind, und Peg­got­ty wird dich lie­ben, und Peg­got­tys Lie­be ist viel bes­ser als mei­ne, Davy. Ich lie­be dich gar nicht, nicht wahr?«

Dar­über fin­gen wir alle an zu wei­nen. Ich glau­be, ich war der lau­tes­te von ih­nen, aber ich weiß si­cher, wir mein­ten es alle gleich auf­rich­tig. Ich war tief un­glück­lich und habe, fürch­te ich, in der ers­ten Auf­wal­lung ver­letz­ter Zärt­lich­keit Peg­got­ty ein »Biest« ge­nannt. Ich er­in­ne­re mich noch, das ehr­li­che Ge­schöpf ge­riet in die tiefs­te Be­trüb­nis und muss bei die­ser Ge­le­gen­heit ganz knopf­los ge­wor­den sein, denn eine gan­ze Sal­ve die­ser Ge­schos­se flog ab, als sie vor mei­nem Stuh­le nie­der­knie­te, um sich mit mei­ner Mut­ter und mir zu ver­söh­nen.

Wir gin­gen sehr nie­der­ge­schla­gen zu Bett. Mein Wei­nen hielt mich lan­ge wach, und wenn mich ein be­son­ders hef­ti­ges Schluch­zen in die Höhe riss, sah ich, dass mei­ne Mut­ter auf dem Bett­rand saß und sich über mich beug­te. Dann schlum­mer­te ich in ih­ren Ar­men fest ein.

Ob schon am fol­gen­den Sonn­tag der Herr wie­der kam, oder ob ein län­ge­rer Zeit­raum da­zwi­schen lag, ist mir nicht mehr er­in­ner­lich. In der Zeit­rech­nung bin ich mei­ner nicht ganz si­cher. Aber er war in der Kir­che und be­glei­te­te uns dann nach Hau­se.

Er trat auch zu uns her­ein, um ein schö­nes Gera­ni­um an­zu­se­hen, das im Fens­ter stand. Es kam mir nicht so vor, als ob er es be­son­ders be­ach­te­te, aber ehe er ging, bat er mei­ne Mut­ter, ihm eine Blü­te da­von zu ge­ben. Sie bat ihn, sich selbst eine aus­zu­su­chen, aber das woll­te er nicht – warum, war mir un­be­greif­lich –, und so pflück­te sie ihm denn eine Blü­te und gab sie ihm in die Hand. Er sag­te, er wer­de sich nie­mals im Le­ben da­von tren­nen, und ich dach­te mir, er müs­se sehr dumm sein, weil er nicht wis­se, dass die Blät­ter in ein oder zwei Ta­gen aus­fal­len wür­den.

Peg­got­ty fing an, uns abends we­ni­ger Ge­sell­schaft zu leis­ten als frü­her. Mei­ne Mut­ter gab ihr in sehr vie­len Din­gen nach, mehr noch als ge­wöhn­lich, wie mir schi­en, und wir blie­ben alle drei die al­ler­bes­ten Freun­de.

Aber doch war es zwi­schen uns an­ders ge­wor­den, und es war uns nicht mehr so be­hag­lich zu Mute. Manch­mal kam es mir so vor, als ob Peg­got­ty nicht recht zu­frie­den wäre, wenn mei­ne Mut­ter die schö­nen Klei­der an­zog, die sie im Schrank hän­gen hat­te, und so oft die Nach­barn be­su­chen ging. Aber ich war ganz froh, dass ich mir kei­ne Ge­dan­ken dar­über zu ma­chen brauch­te.

All­mäh­lich ge­wöhn­te ich mich dar­an, den Herrn mit dem schwar­zen Ba­cken­bart zu se­hen. Er ge­fiel mir nicht bes­ser als am An­fang, und ich fühl­te im­mer noch die­sel­be un­be­stimm­te Ei­fer­sucht. Aber wenn ich spä­ter ei­nem in­stink­ti­ven, kind­li­chen Wi­der­wil­len und dem Ge­dan­ken im All­ge­mei­nen, dass Peg­got­ty und ich voll­kom­men aus­rei­chen müss­ten, mei­ne Mut­ter ohne wei­tern Bei­stand glück­lich ge­nug ma­chen zu kön­nen, noch einen an­de­ren Grund da­für hat­te, war es doch ge­wiss nicht der, den ich im rei­fern Al­ter für mei­ne Ab­nei­gung her­aus­ge­fun­den hät­te. Nichts Der­ar­ti­ges fiel mir ein. Ich konn­te wohl stück­wei­se be­ob­ach­ten, aber aus sol­chen Fä­den ein Netz zu ma­chen und dar­in je­mand zu fan­gen, das ging und geht noch jetzt über mein Kön­nen hin­aus.

An ei­nem Herbst­mor­gen stand ich mit mei­ner Mut­ter in dem Vor­gar­ten, als Mr. Murd­sto­ne, ich kann­te jetzt sei­nen Na­men, vor­bei­ge­rit­ten kam. Er hielt sein Pferd an, um mei­ne Mut­ter zu be­grü­ßen, und sag­te, er rit­te nach Lo­we­stoft, um ei­ni­ge Freun­de zu be­su­chen, die dort eine Jacht hät­ten, und mach­te den lus­ti­gen Vor­schlag, mich vor sich auf den Sat­tel zu neh­men, wenn ich rei­ten woll­te.

Das Wet­ter war so wun­der­schön, und das Pferd schnaub­te und stampf­te so mun­ter vor der Gar­ten­tür, dass ich große Lust dazu hat­te. Mei­ne Mut­ter schick­te mich da­her zu Peg­got­ty hin­auf zum An­zie­hen, und mitt­ler­wei­le stieg Mr. Murd­sto­ne ab und schritt, die Zü­gel über dem Arm, lang­sam vor der Ro­sen­he­cke auf und ab, wäh­rend mei­ne Mut­ter an der in­nern Sei­te ne­ben ihm her­ging. Ich er­in­ne­re mich noch, wie Peg­got­ty und ich aus dem klei­nen Fens­ter hin­ab­sa­hen, er­in­ne­re mich auch noch, wie eif­rig mei­ne Mut­ter und Mr. Murd­sto­ne die Ro­sen­he­cke zwi­schen sich zu be­trach­ten schie­nen, wäh­rend sie dar­an ent­lang­schlen­der­ten, und wie Peg­got­ty, die vor­her in wah­rer En­gel­slau­ne ge­we­sen, plötz­lich ganz är­ger­lich wur­de und mein Haar wü­tend ge­gen den Strich bürs­te­te.

Mr. Murd­sto­ne und ich wa­ren bald un­ter­wegs und trab­ten auf dem grü­nen Ra­sen ne­ben der Land­stra­ße da­hin. Er hielt mich leicht mit ei­nem Arm, und ich glau­be nicht, dass ich be­son­ders un­ru­hig war. Aber ich konn­te mich nicht ent­hal­ten, von Zeit zu Zeit den Kopf zu wen­den und ihm ins Ge­sicht zu se­hen.

Er hat­te jene Art seich­ter schwar­zer Au­gen – ich fin­de kei­nen bes­sern Aus­druck da­für –, die, wenn sie nach­sin­nen, durch ir­gend­ei­ne son­der­ba­re Licht­bre­chung zu schie­len schei­nen. Ver­schie­de­ne Male, wenn ich ihn an­sah, be­merk­te ich das mit ei­ner Art Scheu und hät­te gern ge­wusst, wor­über er so tief nach­den­ke. Sein Haar und sein Bart wa­ren in der Nähe noch schwär­zer und dich­ter, als ich ge­glaubt. Das star­ke Kinn und die schwar­zen Punk­te, die von dem sorg­fäl­tig ra­sier­ten Bar­te üb­rig blie­ben, er­in­ner­ten mich an eine Wachs­fi­gur, die vor ei­nem hal­b­en Jahr in un­se­rer Ge­gend ge­zeigt wor­den war. Die­ses, sei­ne re­gel­mä­ßi­gen Au­gen­brau­en und das rei­che Weiß, Schwarz und Braun sei­nes Teints ver­wünscht sei sein Teint und ver­wünscht sein An­den­ken – mach­ten, dass ich ihn trotz mei­ner Ab­nei­gung für einen schö­nen Mann hielt. Ich zweifle nicht, dass mei­ne arme, lie­be Mut­ter ganz der­sel­ben Mei­nung war.

Wir gin­gen in ein Gast­haus am Mee­re, wo zwei Her­ren in ei­nem Zim­mer Zi­gar­ren rauch­ten. Je­der von ih­nen lag auf min­des­tens vier Stüh­len und hat­te eine wei­te zot­ti­ge Ja­cke an. In ei­ner Ecke la­gen auf ei­nem Hau­fen über­ein­an­der Rö­cke und Boots­män­tel und eine Flag­ge. Bei­de Her­ren rich­te­ten sich schwer­fäl­lig auf, als wir ein­tra­ten, und rie­fen: »Hal­lo, Murd­sto­ne! Wir dach­ten schon, du wä­rest tot.«

»Noch nicht«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was ist das für ein Gelb­schna­bel?« frag­te ei­ner der Gent­le­men und fass­te mich am Arm.

»Das ist Davy«, ant­wor­te­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was für ein Davy?« frag­te der Herr Jo­nes.

»Cop­per­field«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

»Was? Der himm­li­schen Mrs. Cop­per­field Bei­ga­be? Der rei­zen­den klei­nen Wit­we?«

»Qui­ni­on«, sag­te Mr. Murd­sto­ne, »nimm dich in acht, man ist schlau.«

»Wer denn?« frag­te der Gent­le­man la­chend.

Ich blick­te rasch auf, denn ich hät­te es auch gern ge­wusst.

»Bloß Brooks von Shef­field«, sag­te Mr. Murd­sto­ne.

Ich fühl­te mich or­dent­lich er­leich­tert, dass es bloß Brooks von Shef­field sei, denn an­fangs hat­te ich wirk­lich ge­glaubt, man mei­ne mich.

Mr. Brooks von Shef­field muss­te wohl je­mand sehr Ko­mi­sches sein, denn die bei­den Gent­le­men lach­ten herz­lich, als sein Name fiel, und Mr. Murd­sto­ne war auch sehr be­lus­tigt. Nach län­ge­rem La­chen sag­te der Herr, der Qui­ni­on hieß: »Und wie ist Mr. Brooks’ von Shef­field Mei­nung in be­treff des ge­plan­ten Ge­schäf­tes?«

»Hm, ich weiß nicht, ob Brooks vor­der­hand viel da­von ver­steht«, ent­geg­ne­te Mr. Murd­sto­ne, »aber ich glau­be, im All­ge­mei­nen ist er ihm nicht be­son­ders güns­tig.«

Dar­über wur­de noch viel mehr ge­lacht, und Mr. Qui­ni­on sag­te, er wol­le nach Sher­ry klin­geln, um auf Brooks Ge­sund­heit zu trin­ken. Das tat er dann, und als der Wein kam, gab er mir ein we­nig da­von und ein Bis­kuit, und be­vor ich trank, stand er auf und sag­te: »Ver­wir­rung kom­me über Brooks von Shef­field.«

Der Toast wur­de mit großem Bei­fall und so herz­li­chem Ge­läch­ter auf­ge­nom­men, dass ich selbst mit­la­chen muss­te, wor­über sie dann noch mehr lach­ten. Kurz, es war sehr lus­tig.

Wir gin­gen hier­auf an den Klip­pen des Stran­des spa­zie­ren und setz­ten uns ins Gras und schau­ten durch ein Fern­rohr – ich konn­te nichts se­hen, als sie es mir vor das Auge hiel­ten, be­haup­te­te aber, ich könn­te es – und dann gin­gen wir zu­rück in das Ho­tel, um zei­tig zu Mit­tag zu es­sen.

Wäh­rend un­se­res Spa­zier­gan­ges rauch­ten die bei­den Her­ren un­auf­hör­lich, was sie – nach dem Ge­ruch ih­rer zot­ti­gen Rö­cke zu schlie­ßen – wohl seit dem ers­ten Tage an ge­macht ha­ben muss­ten, seit sie sie vom Schnei­der be­kom­men hat­ten. Ich darf nicht ver­ges­sen, dass wir auch an Bord der Jacht gin­gen, wo sie alle drei in die Ka­jü­te hin­un­ter­stie­gen und sich eif­rig mit ver­schie­de­nen Pa­pie­ren be­schäf­tig­ten. Ich sah sie an­ge­strengt ar­bei­ten, wenn ich durch das of­fe­ne Lu­ken­fens­ter hin­un­ter­blick­te.

Die gan­ze Zeit über lie­ßen sie mich in Ge­sell­schaft ei­nes sehr net­ten Man­nes mit ei­nem großen Kopf voll ro­ter Haa­re und ei­nem sehr klei­nen la­ckier­ten Hut. Er hat­te ein bunt­ge­streif­tes Hemd an, mit dem Wor­te »Feld­ler­che« in großen Buch­sta­ben quer über der Brust. Ich dach­te, es sei sein Name und er schrei­be ihn auf die Brust, weil er auf dem Schif­fe wohn­te und kein Hau­stor hat­te, wor­auf er ihn hät­te an­schla­gen kön­nen. Als ich ihn aber Mr. Feld­ler­che nann­te, sag­te er, das Schiff hie­ße so.

Den gan­zen Tag über be­merk­te ich, dass Mr. Murd­sto­ne erns­ter und ver­schlos­se­ner war als die bei­den an­de­ren Her­ren. Die­se wa­ren sehr lus­tig und un­ge­zwun­gen, scherz­ten mit­ein­an­der, aber sel­ten mit ihm. Er kam mir ge­schei­ter und küh­ler vor als sie, und sie moch­ten ziem­lich mei­ner Mei­nung sein. Ich be­merk­te näm­lich, dass Mr. Qui­ni­on ein- oder zwei­mal, wenn er sprach, Mr. Murd­sto­ne von der Sei­te an­sah, wie um sich zu über­zeu­gen, ob ihm nicht ir­gen­det­was miss­fie­le, und dass er ein­mal, als Mr. Pass­nid­ge, der an­de­re Herr, be­son­ders aus­ge­las­sen war, die­sem auf den Fuß trat und ihm heim­lich mit den Au­gen zu­wink­te, auf Mr. Murd­sto­ne zu ach­ten, der stumm und ver­dros­sen da­saß. Ich er­in­ne­re mich auch nicht, dass Mr. Murd­sto­ne den gan­zen Tag über ein­mal ge­lacht hät­te, au­ßer über den Shef­field-Witz, den er ja üb­ri­gens sel­ber ge­macht hat­te.

Wir gin­gen abends zei­tig nach Hau­se. Es war ein sehr schö­ner Abend, und mei­ne Mut­ter und Mr. Murd­sto­ne gin­gen wie­der an der Ro­sen­he­cke auf und ab, wäh­rend ich hin­ein­ge­schickt wur­de, um mei­nen Tee zu trin­ken.

Als er weg­ge­gan­gen war, frag­te mich mei­ne Mut­ter aus über die Ta­ge­s­er­leb­nis­se. Ich er­zähl­te, was sie über sie ge­äu­ßert hat­ten, und sie lach­te und sag­te, es sei­en un­ver­schäm­te Bur­schen, die Un­sinn schwatz­ten, aber ich merk­te ganz gut, dass es ihr ge­fiel. So ge­nau, wie ich es jetzt weiß. Ich be­nutz­te die Ge­le­gen­heit, sie zu fra­gen, ob sie einen ge­wis­sen Brooks aus Shef­field ken­ne, sie er­wi­der­te, nein, aber es müs­se ein Mes­ser- und Ga­bel­fa­bri­kant sein.

Kann ich von ih­rem Ge­sicht, so­sehr es sich spä­ter ver­än­der­te, so ver­blüht ich es weiß, sa­gen, es sei nicht mehr, wenn es hier in die­sem Au­gen­blick so deut­lich mir vor Au­gen tritt, wie je­des be­lie­bi­ge Ge­sicht, das auf be­leb­ter Stra­ße an mir vor­bei­geht? Kann ich von ih­rer un­schulds­vol­len, mäd­chen­haf­ten Schön­heit sa­gen, sie sei ver­welkt und da­hin, wenn ihr Atem jetzt mei­ne Wan­ge be­rührt, wie er es an je­nem Abend tat? Kann ich sa­gen, sie habe sich je­mals ver­än­dert, wenn mei­ne Erin­ne­run­gen sie nur mit die­sen Zü­gen ins Le­ben zu­rück­ru­fen?

Ich schil­de­re sie ge­nau so, wie sie war, als ich nach die­ser Un­ter­hal­tung zu Bett ge­gan­gen und sie zu mir kam, um mir gute Nacht zu sa­gen. Sie knie­te ne­ben mei­nem Bett nie­der, leg­te ihr Kinn auf ihre Hän­de und frag­te la­chend:

»Was sag­ten sie, Davy? Sag es noch ein­mal. Ich kann’s nicht glau­ben.«

»Der himm­li­schen –« fing ich an.

Sie leg­te mir die Hand auf den Mund.

»Himm­lisch ge­wiss nicht«, sag­te sie la­chend. »Himm­lisch kann es nicht ge­we­sen sein, Davy. Jetzt weiß ichs, dass es nicht wahr ist.«

»Doch! Der himm­li­schen Mrs. Cop­per­field«, wie­der­hol­te ich stand­haft, »und der rei­zen­den –«

»Nein, nein, rei­zend ge­wiss nicht. Nicht rei­zend«, un­ter­brach mich mei­ne Mut­ter und leg­te mir wie­der die Fin­ger auf die Lip­pen.

»Ja, es war so. Der rei­zen­den klei­nen Wit­we.«

»Was für när­ri­sche, un­ver­schäm­te Men­schen!« rief mei­ne Mut­ter la­chend und be­deck­te ihr Ge­sicht, »was für al­ber­ne Bur­schen, nicht wahr, mein lie­ber Davy?«

»Ja­wohl, Mama.«

»Sag Peg­got­ty nichts. Sie könn­te böse drü­ber wer­den. Ich bin auch sehr böse drü­ber, aber es ist bes­ser, Peg­got­ty er­fährt nichts da­von.«

Ich ver­sprach es na­tür­lich, und wir küss­ten uns noch vie­le Male, und bald lag ich in fes­tem Schlaf.

Nach der lan­gen in­zwi­schen ver­gan­ge­nen Zeit kommt es mir jetzt so vor, als ob mir be­reits am Tage dar­auf Peg­got­ty den son­der­ba­ren Vor­schlag mach­te, von dem ich so­gleich er­zäh­len will, – aber wahr­schein­lich la­gen zwei Mo­na­te da­zwi­schen.

Wir sa­ßen wie­der ei­nes Abends, als mei­ne Mut­ter auf Be­such war, in Ge­sell­schaft des Strump­fes, des El­len­ma­ßes, des Wachs­stück­chens, des Kas­tens mit der St.-Pauls-Kir­che und des Kro­ko­dil­buchs bei­sam­men, Peg­got­ty und ich, als sie (nach­dem sie mich mehr­mals an­ge­blickt und den Mund auf­ge­ris­sen, als woll­te sie spre­chen, – ich hielt es für blo­ßes Gäh­nen, sonst hät­te es mich be­un­ru­higt, –) end­lich mit ein­schmei­cheln­der Stim­me sag­te: »Mas­ter Davy, wie wäre es, wenn du mit mir auf vier­zehn Tage mei­nen Bru­der in Yar­mouth be­such­test? Wär das nicht fein?«

»Ist dein Bru­der ein an­ge­neh­mer Mann?« frag­te ich vor­sich­tig.

»O was für ein an­ge­neh­mer Mann!« rief Peg­got­ty und streck­te die Hän­de in die Höhe. »Und dann ist das Meer da und die Boo­te und die Schif­fe und der Strand und Ham zum Spie­len.«

Ham war Peg­got­tys Nef­fe, wie be­kannt. Ich war ganz auf­ge­regt über die in Aus­sicht ge­stell­ten Freu­den von Yar­mouth und er­wi­der­te, dass es frei­lich herr­lich sein müss­te, aber was wohl die Mut­ter dazu sa­gen wür­de.

»Ich möch­te eine Gui­nee wet­ten, dass sie uns die Er­laub­nis dazu gibt. Wenn du willst, fra­ge ich sie, so­bald sie nach Hau­se kommt. Ab­ge­macht.«

»Aber was wird sie an­fan­gen, wenn wir fort sind?« frag­te ich und leg­te mei­ne Ell­bo­gen auf den Tisch, um die Sa­che gründ­lich zu be­spre­chen. »Sie kann doch nicht al­lein blei­ben?«

Wenn Peg­got­ty ganz plötz­lich jetzt nach ei­nem Lo­che in der Strumpf­fer­se späh­te, muss es wahr­haf­tig ganz klein und des Stop­fens nicht wert ge­we­sen sein.

»Peg­got­ty! Hör doch. Sie kann doch nicht al­lein blei­ben.«

»Ach Gott, rich­tig«, sag­te Peg­got­ty und sah mich end­lich wie­der an. »Weißt du es noch nicht? Sie geht auf vier­zehn Tage auf Be­such zu Mrs. Gray­per. Mrs. Gray­per be­kommt eine Men­ge Gäs­te.«

Da die Sa­che so stand, war ich ganz be­reit zur Rei­se. In größ­ter Un­ge­duld war­te­te ich, bis mei­ne Mut­ter von Mrs. Gray­per, uns­rer Nach­ba­rin, nach Hau­se kam, um sie zu fra­gen, ob sie mit dem großen Plan ein­ver­stan­den sei. Gar nicht so über­rascht, wie ich ver­mu­tet hat­te, ging mei­ne Mut­ter be­reit­wil­lig dar­auf ein, und die Sa­che wur­de die­sen Abend noch ab­ge­macht und Woh­nung und Kost für mich für die vier­zehn Tage be­zahlt.

Der Tag un­se­rer Abrei­se kam bald her­an. Er war so nahe an­ge­setzt, dass er selbst für mich bald kam, wo ich doch förm­lich vor Er­war­tung fie­ber­te und im­mer fürch­te­te, ein Erd­be­ben oder ein feu­er­spei­en­der Berg oder eine an­de­re große Ka­ta­stro­phe könn­te al­les hin­aus­schie­ben.

Wir soll­ten mit ei­nem Fuhr­mann rei­sen, der die­sen Mor­gen nach dem Früh­stück auf­brach. Ich wür­de et­was dar­um ge­ge­ben ha­ben, wenn man mir er­laubt hät­te, mich schon über Nacht in den Man­tel wi­ckeln und mit Hut und Stie­feln schla­fen zu dür­fen. Es er­schüt­tert mich jetzt noch, wenn ich es so leicht­hin er­zäh­le und be­den­ke, wie un­ge­dul­dig ich mich von dem glück­li­chen Heim weg­sehn­te, ohne zu ah­nen, was ich für im­mer ver­ließ.

Es steht wie eine fro­he Erin­ne­rung vor mir, als der Wa­gen vor der Türe hielt und mei­ne Mut­ter mich küss­te, und ich freue mich, dass ich vor zärt­li­cher Lie­be zu ihr und dem al­ten Hau­se, das ich noch nie ver­las­sen, wei­nen muss­te, freue mich über die Erin­ne­rung, dass auch mei­ne Mut­ter wein­te und ich ihr Herz an mei­nem schla­gen fühl­te.

Und als der Wa­gen da­von­fuhr, da kam mei­ne Mut­ter noch ein­mal zur Gar­ten­tür her­aus und ließ hal­ten, um mich noch ein­mal zu küs­sen. Ich ver­wei­le gern in Ge­dan­ken bei der In­nig­keit und Lie­be, mit der sie mir ins Ge­sicht blick­te und mir noch einen letz­ten Ab­schieds­kuss gab.

Als sie mit­ten auf der Stra­ße stand und uns nachsah, trat Mr. Murd­sto­ne zu ihr und schi­en ihr Vor­stel­lun­gen we­gen ih­rer großen Rüh­rung zu ma­chen. Ich sah um die Wa­gen­pla­che her­um zu­rück und war mir nicht klar dar­über, was ihn denn ei­gent­lich die gan­ze Sa­che an­gin­ge.

Peg­got­ty, die auf der an­de­ren Sei­te her­aus­schau­te, schi­en nichts we­ni­ger als zu­frie­den zu sein, wie ihr Ge­sicht ver­riet, als sie den Kopf wie­der zu­rück­zog.

Ich saß eine Zeit lang stumm ne­ben ihr in Träu­me­rei ver­sun­ken über die Lö­sung der Fra­ge: ob ich, ähn­lich wie der Däum­ling im Mär­chen, wohl im­stan­de sein wür­de, mit Hil­fe ih­rer Knöp­fe wie­der heim­zu­fin­den.

David Copperfield

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