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7. Kapitel – Mein erstes Semester in Salemhaus

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Die Schu­le fing am nächs­ten Mor­gen al­len Erns­tes an. Es mach­te einen tie­fen Ein­druck auf mich, wie der lau­te Lärm in der Klas­se plötz­lich zur To­ten­stil­le wur­de, als Mr. Cre­akle nach dem Früh­stück ein­trat, in der Türe ste­hen blieb und sich um­sah, wie der Rie­se im Mär­chen­buch, wenn er sei­ne Ge­fan­ge­nen be­trach­tet.

Ton­gay stand dicht ne­ben Mr. Cre­akle. Ich dach­te mir, er hat doch gar kei­ne Ur­sa­che, so grim­mig »Ruhe« zu ru­fen. Alle Schü­ler sa­ßen so­wie­so stumm und re­gungs­los da.

Jetzt sah man Mr. Cre­akle spre­chen, und Ton­gay wie­der­hol­te laut sei­ne Wor­te.

»Also, ihr Jun­gen, es ist ein neu­es Se­mes­ter an­ge­gan­gen. Nehmt euch in acht in die­sem neu­en Se­mes­ter. Seid bei der Hand bei eu­ern Auf­ga­ben, rat ich euch, denn ich wer­de rasch bei der Hand mit den Stra­fen sein. Ich wer­de nicht nach­ge­ben. Es wird euch nichts nüt­zen, wenn ihr euch reibt. Ihr wer­det die Strie­men nicht weg­rei­ben, die ich euch ver­set­zen wer­de. Jetzt macht euch an die Ar­beit, je­der ein­zel­ne.«

Als die­se schreck­li­che Ein­gangs­re­de vor­über und Ton­gay wie­der hin­aus­ge­hum­pelt war, kam Mr. Cre­akle an mei­ne Bank und sag­te mir, dass, wenn ich auch gut bei­ßen könn­te, er dar­in noch viel be­rühm­ter sei. Er zeig­te mir da­bei das spa­ni­sche Rohr und frag­te mich, was das wohl für ein Zahn wäre. »Ist es ein schar­fer Zahn, he? Ist es ein Dop­pel­zahn, he? Hat er eine gute Schnei­de, he? Beißt er, he? Beißt er wirk­lich?« Bei je­der die­ser Fra­gen ver­setz­te er mir einen Hieb, dass ich mich wand und bald in Sa­lem­haus mün­dig ge­spro­chen war, wie Steer­forth es nann­te, und auch sehr bald in Trä­nen schwamm.

Nicht etwa, dass die­se Be­hand­lung eine be­son­de­re Aus­zeich­nung be­deu­tet hät­te. Im Ge­gen­teil. Bei der großen Mehr­zahl der Kna­ben, be­son­ders bei den Klei­nen, mach­te sich Mr. Cre­akle auf die­sel­be Art be­merk­bar, wenn er die Run­de im Zim­mer mach­te.

Die hal­be Klas­se wein­te und krümm­te sich vor Schmer­zen, ehe das Ta­ge­werk be­gann. Wie viel Un­glück­li­che noch dazu ka­men, be­vor die Stun­de zu Ende ging, ge­traue ich mich gar nicht an­zu­ge­ben, um nicht der Über­trei­bung be­schul­digt zu wer­den.

Ich glau­be, es kann nie einen Men­schen ge­ge­ben ha­ben, den sein Be­ruf mehr freu­te, als Mr. Cre­akle. Sei­ne Won­ne, die Jun­gen schla­gen zu kön­nen, kam der Be­frie­di­gung na­gen­den Hun­gers gleich. Ich bin fest über­zeugt, da er sich paus­bä­cki­gen Jun­gen ge­gen­über nicht hal­ten konn­te, dass dar­in für ihn et­was von star­ker An­zie­hungs­kraft lag und ihm kei­ne Ruhe ließ, bis er nicht den Be­tref­fen­den für den Tag ge­zeich­net hat­te. Ich war selbst paus­bä­ckig und muss es wis­sen. Wenn ich jetzt an die­sen Men­schen den­ke, wallt mein Blut, und al­les em­pört mich umso mehr, weil ich jetzt weiß, dass er noch dazu ein un­fä­hi­ger Schuft war und kein grö­ße­res Recht auf den Ver­trau­ens­pos­ten, den er be­klei­de­te, hat­te, als auf den Pos­ten ei­nes ers­ten Ad­mi­rals oder ei­nes Feld­mar­schalls. Nur hät­te er dort wahr­schein­lich we­ni­ger Un­heil an­ge­rich­tet.

Wie de­mü­tig wir elen­den klei­nen Ha­sen­fü­ße ge­gen ihn, die­sen er­bar­mungs­lo­sen Göt­zen, wa­ren! In wel­chem Licht er­scheint mir jetzt die­ser Sta­pel­lauf ins Le­ben an­ge­sichts sol­cher De­mut und Un­ter­tä­nig­keit vor ei­nem Mann von sol­chem Un­wert!

Hier sit­ze ich wie­der auf der Bank und be­ob­ach­te sein Auge; – voll Un­ter­wür­fig­keit be­ob­ach­te ich ihn, wie er ein Re­chen­buch für ein an­de­res Op­fer li­niert, das mit dem Li­ne­al eben eins auf die Hand be­kom­men hat und die Schwie­le mit dem Ta­schen­tuch reibt. Ich hät­te vollauf zu tun. Ich be­ob­ach­te sein Auge je­doch nicht, weil ich mü­ßig bin, son­dern weil es mich un­na­tür­lich an­zieht, – mich mit dem schreck­li­chen Wunsch er­füllt, zu er­ra­ten, was er in der nächs­ten Mi­nu­te tun wird. Ob er wohl über mich her­fal­len wird oder über einen an­de­ren?

Eine Rei­he klei­ner Jun­gen hin­ter mir be­ob­ach­tet ihn mit dem­sel­ben In­ter­es­se. Ich glau­be, er weiß es und ver­stellt sich nur. Er schnei­det furcht­ba­re Gri­mas­sen, wäh­rend er das Re­chen­buch li­niert. Und jetzt wirft er einen Sei­ten­blick auf uns, und wir alle las­sen den Blick auf die Bü­cher sin­ken und fan­gen an zu zit­tern. Ei­nen Au­gen­blick spä­ter star­ren wir ihn schon wie­der an. Ein Un­glück­li­cher, der sei­ne Auf­ga­be schlecht ge­macht hat, wird her­aus­ge­ru­fen. Er stam­melt Ent­schul­di­gun­gen und ver­spricht, es mor­gen bes­ser zu ma­chen. Mr. Cre­akle reißt einen Witz, ehe er ihn prü­gelt, und wir la­chen dar­über. Wir elen­den, klei­nen Hun­de la­chen dar­über, mit asch­fah­len Ge­sich­tern und Her­zen, die uns in die Ho­sen ge­fal­len sind.

Hier sit­ze ich wie­der in der Bank an ei­nem schläf­ri­gen Som­mer­nach­mit­tag. Ein Sur­ren und Sum­men rings um mich her, als sei­en die Jun­gen lau­ter große Flie­gen. Ein dump­fer Druck las­tet nach dem lau­en, fet­ten Mit­ta­ges­sen auf mir, und mein Kopf ist so schwer wie Blei. Ich wür­de eine Welt dar­um ge­ben, wenn ich schla­fen dürf­te. Mein Auge ist auf Mr. Cre­akle ge­rich­tet, und ich blinz­le ihn an wie eine jun­ge Eule; der Schlaf über­wäl­tigt mich eine Mi­nu­te, er ver­schwimmt vor mei­nen Au­gen, wie er die Re­chen­hef­te li­niert –; lei­se schleicht er sich hin­ter mich, und ich er­wa­che mit ei­nem ro­ten Strie­men auf dem Rücken wie­der zu kla­rer Wahr­neh­mung.

Dann bin ich auf dem Spiel­platz, wo mein Auge im­mer noch von ihm ge­bannt ist, ob­gleich ich ihn nicht se­hen kann. Das Fens­ter nicht weit von dem Orte, wo er zu Mit­tag isst, ver­tritt ihn, und ich be­ob­ach­te es im­mer an sei­ner Statt. Wenn sein Ge­sicht da­hin­ter er­scheint, nimmt das mei­ne einen fle­hent­li­chen und un­ter­wür­fi­gen Aus­druck an. Wenn er durch die Schei­ben her­un­ter­sieht, bricht auch der Ver­we­gens­te nur Steer­forth aus­ge­nom­men – mit­ten in ei­nem Ruf oder Schrei ab und wird nach­denk­lich. Ein­mal wirft Tradd­les, der größ­te Pech­vo­gel von der Welt, zu­fäl­lig das Fens­ter mit ei­nem Ball ein. Noch jetzt über­läuft es mich eis­kalt, wie ich es ge­sche­hen sehe, und be­grei­fe, dass der Ball Mr. Cre­akles ge­hei­lig­tes Haupt ge­trof­fen hat.

Ar­mer Tradd­les! In sei­nem en­gen, him­melblau­en An­zug, der sei­ne Arme und Bei­ne wie Würs­te oder Tei­grol­len er­schei­nen ließ, war er der lus­tigs­te und zu­gleich un­glück­lichs­te un­ter den Schü­lern. Er wur­de im­mer mit dem spa­ni­schen Rohr ge­hau­en, ich glau­be, je­den Tag im gan­zen Se­mes­ter, mit Aus­nah­me ei­nes Mon­tags, wo er nur mit dem Li­ne­al ei­nes über bei­de Hän­de be­kam. Und im­mer stand er im Be­griff, des­halb an sei­nen On­kel zu schrei­ben, und im­mer un­ter­ließ er es wie­der. Wenn er den Kopf eine Wei­le auf das Pult ge­legt hat­te, wur­de er wie­der lus­tig, fing an zu la­chen und zeich­ne­te auf sei­ne Schie­fer­ta­fel Ge­rip­pe, ehe noch sei­ne Au­gen ganz tro­cken wa­ren. Ich konn­te mir lan­ge Zeit nicht er­klä­ren, wel­chen Trost Tradd­les im Zeich­nen die­ser Ge­rip­pe fin­den moch­te, und sah in ihm eine Art Ein­sied­ler, der sich durch sol­che Sym­bo­le der Sterb­lich­keit vor Au­gen hal­ten will, dass auch Prü­gel nicht ewig dau­ern kön­nen. Aber jetzt glau­be ich, er zeich­ne­te sie nur, weil sie so leicht wa­ren und er ih­nen kei­ne Ge­sich­ter zu ma­chen brauch­te.

Tradd­les war sehr eh­ren­haft und be­trach­te­te es als eine hei­li­ge Pf­licht der Schü­ler, ein­an­der bei­zu­ste­hen. Er hat­te oft dar­un­ter zu lei­den und be­son­ders ein­mal, als Steer­forth wäh­rend des Got­tes­diens­tes ge­lacht hat­te, und der Kir­chen­die­ner glaub­te, es wäre Tradd­les ge­we­sen, und die­sen hin­aus­führ­te. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er von dem Die­ner ge­packt hin­aus­ging, ver­ab­scheut von der gan­zen Ge­mein­de. Er ver­riet nie den ei­gent­li­chen Tä­ter, ob­gleich er den gan­zen nächs­ten Tag da­für bü­ßen muss­te und so lan­ge ein­ge­sperrt war, dass er einen gan­zen Kirch­hof voll Ge­rip­pen in sei­nem la­tei­ni­schen Wör­ter­buch mit her­aus­brach­te.

Dann be­kam er aber auch sei­nen Lohn. Steer­forth näm­lich sag­te, in Tradd­les sei auch kei­ne Spur von ei­nem Mu­cker, und wir alle fühl­ten, dass das das höchs­te Lob be­deu­te­te, das es ge­ben konn­te. Ich für mei­nen Teil hät­te viel er­dul­den mö­gen, um sol­chen Lohn zu ver­die­nen, ob­gleich ich lan­ge nicht so tap­fer war wie Tradd­les und nicht an­nä­hernd so alt.

Steer­forth Arm in Arm mit Miss Cre­akle in die Kir­che ge­hen zu se­hen, war für mich ein über­wäl­ti­gen­der An­blick. Ich konn­te Miss Cre­akle der klei­nen Emly hin­sicht­lich Schön­heit nicht an die Sei­te stel­len – ich lieb­te sie nicht – ich wag­te es nicht –, aber sie er­schi­en mir als eine jun­ge Dame von un­ge­wöhn­li­chen Rei­zen und von un­über­treff­li­cher Ele­ganz. Wenn Steer­forth in wei­ßen Ho­sen ihr den Son­nen­schirm trug, war ich stolz, ihn zu ken­nen, und glaub­te, dass sie nicht an­ders konn­te, als ihn von gan­zem Her­zen an­zu­be­ten. Mr. Sharp und Mr. Mell wa­ren wohl in mei­nen Au­gen alle bei­de sehr be­ach­tens­wer­te Per­sön­lich­kei­ten, aber ge­gen Steer­forth ver­bleich­ten sie wie Ster­ne ge­gen­über der Son­ne.

Steer­forth blieb mein Be­schüt­zer und er­wies sich mir als ein sehr nütz­li­cher Freund, da nie­mand ei­nem Kna­ben, der in sei­ner Gunst stand, et­was zu tun wag­te. Er konn­te mich ge­gen Mr. Cre­akle nicht schüt­zen, oder we­nigs­tens tat er es nicht, aber wenn mich Mr. Cre­akle noch här­ter als ge­wöhn­lich ge­straft hat­te, sag­te er mir stets, es fehl­te mir ein we­nig von sei­nem Mute, und dass er an mei­ner Stel­le es sich nicht hät­te ge­fal­len las­sen. Da­mit woll­te er mich trös­ten, und ich fand das sehr freund­lich von ihm.

Ei­nen ein­zi­gen Vor­teil nur hat­te Mr. Cre­akles Stren­ge: Das Pla­kat auf mei­nem Rücken war ihm im Wege, wenn er mir im Vor­bei­ge­hen eins ver­set­zen woll­te. Aus die­sem Grun­de wur­de es ent­fernt, und ich sah es nie wie­der.

Ein Zu­fall be­fes­tig­te das ver­trau­li­che Ver­hält­nis zwi­schen Steer­forth und mir in ei­ner Wei­se, die mich mit Be­frie­di­gung und Stolz er­füll­te, wenn es auch man­cher­lei Be­schwer­lich­keit mit sich brach­te. Als er mir näm­lich ein­mal die Ehre er­wies, auf dem Spiel­platz mit mir zu spre­chen, ge­sch­ah es, dass ich die Be­mer­kung wag­te, ir­gend­je­mand oder et­was pas­se auf »Pe­re­gri­ne Pick­le«. Er sag­te nichts; aber als wir zu Bett gin­gen, frag­te er mich, ob ich das Buch be­sä­ße. Ich sag­te nein und er­zähl­te ihm, wie­so ich es ge­le­sen, und er­wähn­te auch die an­de­ren Bü­cher.

»Und er­in­nerst du dich noch auf al­les?« frag­te Steer­forth.

»O ja«, gab ich zur Ant­wort. Ich hät­te ein gu­tes Ge­dächt­nis und glaub­te, noch al­les fast aus­wen­dig zu wis­sen.

»Ich will dir et­was sa­gen, klei­ner Cop­per­field«, mein­te Steer­forth dar­auf­hin, »du kannst sie mir er­zäh­len. Ich mag abends so­wie­so nicht so bald zu Bett ge­hen und wa­che ge­wöhn­lich zu früh auf. Wir wol­len sie alle nach­ein­an­der durch­ge­hen. Wir wer­den re­gel­mä­ßi­ge ara­bi­sche Näch­te ein­füh­ren.«

Ich fühl­te mich au­ßer­or­dent­lich ge­schmei­chelt, und wir fin­gen noch am sel­ben Abend an. Wel­che Sün­den ich im Ver­lauf mei­ner Er­zäh­lun­gen an mei­nen Lieb­lings­dich­tern be­ging, weiß ich nicht mehr, aber ich hat­te einen un­er­schüt­ter­li­chen Glau­ben an sie und eine ein­fa­che Art, zu er­zäh­len, und da­mit ka­men wir recht weit. Die Kehr­sei­te der Me­dail­le war nur, dass ich mich abends oft schläf­rig oder ver­stimmt oder nicht auf­ge­legt fühl­te, die Ge­schich­te fort­zu­set­zen, und dann kos­te­te es ein schwe­res Stück Ar­beit. Aber es muss­te ge­sche­hen.

Steer­forths Er­war­tung zu täu­schen oder ihm die Freu­de zu ver­der­ben, ging na­tür­lich nicht an. Auch früh, wenn ich gern noch eine Stun­de ge­schlum­mert hät­te, war es recht fad, wie die Sul­ta­nin Sche­herazade auf­ge­weckt und zum Er­zäh­len ei­ner lan­gen Ge­schich­te ge­zwun­gen zu wer­den, ehe die große Schul­glo­cke läu­te­te. Aber Steer­forth be­stand dar­auf, und da er mir da­für bei mei­nen Re­chen­auf­ga­ben und Auf­sät­zen half, wenn sie zu schwer wa­ren, ver­lor ich nichts bei dem Ge­schäft. Ich muss ge­recht sein, es be­weg­te mich kein selbst­süch­ti­ges Mo­tiv und auch nicht Furcht vor ihm. Ich be­wun­der­te und lieb­te ihn; sein Bei­fall war mir ge­nug.

Steer­forth konn­te auch für­sorg­lich für mich sein und be­wies das bei ei­ner Ge­le­gen­heit auf so hals­star­ri­ge Art, dass er dem ar­men Tradd­les und den üb­ri­gen da­mit Tan­ta­lus­qua­len be­rei­te­te. Peg­got­tys ver­spro­che­ner kost­ba­rer Brief kam an, ehe noch ei­ni­ge Wo­chen des Se­mes­ters ver­stri­chen wa­ren und mit ihm ein Ku­chen in ei­nem wah­ren Nest von Oran­gen und zwei Fla­schen Obst­wein da­bei. Die­se Schät­ze leg­te ich pflicht­ge­mäß Steer­forth zu Fü­ßen und bat ihn, sie zu ver­tei­len.

»Ich will dir was sa­gen, klei­ner Cop­per­field«, mein­te er. »Der Wein wird auf­ge­ho­ben, um dir die Zun­ge an­zu­feuch­ten, wenn du Ge­schich­ten er­zählst.«

Ich wur­de rot und bat ihn be­schei­den, doch nicht dar­an zu den­ken. Aber er mein­te, ich wür­de manch­mal et­was hei­ser und je­der Trop­fen müs­se für mich blei­ben. Also schloss er den Wein in sei­nen Kof­fer und lab­te mich mit ihm ver­mit­telst ei­ner im Kork an­ge­brach­ten Fe­der­spu­le, wenn ich sei­ner Mei­nung nach ei­ner Er­fri­schung be­durf­te. Zu­wei­len war er so gü­tig und press­te Po­me­ran­zen­saft hin­ein, um den Saft zu ver­bes­sern, rühr­te Ing­wer hin­ein, oder lös­te ein Pfef­fer­minz­zelt­chen dar­in auf. Ob­wohl ich nicht be­haup­ten kann, dass das Ge­tränk da­durch we­sent­lich bes­ser wur­de oder abends vor dem Ein­schla­fen und früh nüch­tern ge­nos­sen be­son­ders ma­gen­stär­kend ge­we­sen wäre, trank ich es doch dank­bar und war ge­rührt von Steer­forths Auf­merk­sam­keit.

Wir hat­ten wohl wo­chen­lang mit Pe­re­gri­ne Pick­le und meh­re­re Mo­na­te mit den an­de­ren Ge­schich­ten zu­ge­bracht. Man­gel an Stoff trat nie ein, und der Wein hielt fast so lan­ge an wie der Stoff. Der arme Tradd­les, ich kann nie an die­sen Jun­gen den­ken, ohne Trä­nen in den Au­gen und zu­gleich eine ko­mi­sche Nei­gung zu la­chen, wirk­te ge­wöhn­lich ver­stär­kend wie ein Chor und tat bei den lus­ti­gen Stel­len, als ob er sich vor Hei­ter­keit nicht las­sen könn­te und bei den be­un­ru­hi­gen­den, als ob er ganz vor Angst ver­gin­ge. Das brach­te mich manch­mal ganz aus der Fas­sung. Es mach­te ihm einen Haupt­spaß, mit den Zäh­nen zu klap­pern, so­bald in den Aben­teu­ern des Gil Blas von Al­gua­zil die Rede war, und ich er­in­ne­re mich, dass der Arme, als Gil Blas dem Räu­ber­haupt­mann in Ma­drid be­geg­ne­te, die Rol­le des töd­lich Ent­setz­ten so leb­haft spiel­te, dass ihn Mr. Cre­akle, der auf den Gän­gen her­um­lau­er­te, hör­te und we­gen Stö­rung im Schlaf­zim­mer am an­de­ren Mor­gen or­dent­lich durch­wichs­te. Was an Nei­gung zum Ro­man­ti­schen und Träu­me­ri­schen in mir lag, wur­de durch die­ses Er­zäh­len im Dun­keln sehr ge­stärkt, und in die­ser Hin­sicht mag es nicht be­son­ders von Vor­teil für mich ge­we­sen sein. Aber das Ge­fühl, dass ich im Schlaf­saal wie eine Art Spiel­zeug be­han­delt wur­de, und das Be­wusst­sein, auch bei den an­de­ren Kna­ben mei­ner Fä­hig­kei­ten we­gen ein ge­wis­ses An­se­hen zu ge­nie­ßen, trotz­dem ich der Jüngs­te war, mun­ter­te mich sehr auf.

In ei­ner Schu­le, die von blo­ßer Grau­sam­keit be­herrscht wird, wird nie viel ge­lernt, ob ihr jetzt ein Dumm­kopf vor­steht oder nicht. Ich glau­be, un­se­re Schü­ler wa­ren so un­wis­send wie nur mög­lich. Sie wur­den viel zu sehr ge­pei­nigt und her­um­ge­sto­ßen, um et­was ler­nen zu kön­nen. Es hat­te für sie kei­nen Zweck, sich zu be­mü­hen in ei­nem Le­ben voll be­stän­di­ger Qual und Müh­sal. Aber mein biss­chen Ei­tel­keit und Steer­forths Hil­fe trie­ben mich an und mach­ten mich, wenn es mir auch kei­ne Stra­fen er­spar­te, zu ei­ner Aus­nah­me un­ter den üb­ri­gen, in­dem ich we­nigs­tens ei­ni­ge Bro­sa­men Kennt­nis­se auf­las.

Mr. Mell, an den ich mit Dank­bar­keit zu­rück­den­ke, leg­te stets eine ge­wis­se Teil­nah­me für mich an den Tag und half mir dar­in sehr. Es schmerz­te mich im­mer, dass Steer­forth ihn mit Ge­ring­schät­zung be­han­del­te und sel­ten eine Ge­le­gen­heit ver­säum­te, ihn zu ver­let­zen. Dies be­un­ru­hig­te mich eine Zeit lang umso mehr; als ich Steer­forth; dem ich ein Ge­heim­nis eben­so­we­nig vor­ent­hal­ten konn­te wie einen Ku­chen oder sonst et­was Greif­ba­res, von den bei­den al­ten Frau­en er­zählt hat­te, zu de­nen mich Mr. Mell mit­ge­nom­men. Im­mer fürch­te­te ich, Steer­forth wür­de es ver­ra­ten und ihn da­mit ver­höh­nen. Als ich an je­nem Mor­gen mein Früh­stück in dem Asyl ge­ges­sen und im Schat­ten der Pfau­en­fe­dern und bei dem Ton der Flö­te ein­ge­schla­fen war, hät­te wohl kei­ner der da­mals An­we­sen­den ge­ahnt, wel­che Fol­gen der Be­such ei­ner so un­be­deu­ten­den Per­son wie ich noch ein­mal ha­ben wür­de.

Lei­der hat­te er ganz un­vor­her­ge­se­he­ne Fol­gen, und zwar in ih­rer Art recht erns­te. Ei­nes Ta­ges näm­lich, als Mr. Cre­akle we­gen Un­päss­lich­keit das Zim­mer hü­te­te, was na­tür­lich die leb­haf­tes­te Freu­de über die gan­ze Schu­le ver­brei­te­te, herrsch­te in der Mor­gen­stun­de viel Lärm. Alle be­nah­men sich so über­mü­tig, dass kaum mit ih­nen aus­zu­kom­men war. Selbst als der ge­fürch­te­te Ton­gay mit sei­nem Holz­bein zwei- oder drei­mal her­ein­ge­stelzt kam und die Na­men der ärgs­ten Übel­tä­ter auf­schrieb, mach­te es kei­nen Ein­druck. Alle wuss­ten, sie wür­den mor­gen so­wie­so ge­straft, moch­ten sie tun oder las­sen, was sie woll­ten, und hiel­ten es des­halb für das ge­schei­tes­te, sich we­nigs­tens der Ge­gen­wart mög­lichst zu freu­en. Es war ei­gent­lich ein hal­ber Fei­er­tag, näm­lich Sams­tag, aber da der Lärm auf dem Spiel­platz Mr. Cre­akle mög­li­cher­wei­se hät­te stö­ren kön­nen und das Wet­ter zum Aus­ge­hen nicht güns­tig schi­en, muss­ten wir nach­mit­tags bei ei­ni­gen leich­teren Auf­ga­ben in der Klas­se blei­ben. Es war der Tag der Wo­che, an dem Mr. Sharp sich die Perücke kräu­seln ließ, und da­her fiel auf Mr. Mell das Amt, Schu­le zu hal­ten. Wenn ich die Vor­stel­lung von ei­nem Stier oder ei­nem Bä­ren mit ei­ner so sanf­ten Per­son wie Mr. Mell über­haupt in Ver­bin­dung brin­gen könn­te, so an die­sem Nach­mit­tag, als das Lär­men sei­ne höchs­te Spit­ze er­reich­te, nur un­ter dem Bil­de ei­nes die­ser Tie­re, wenn es von tau­send Hun­den an­ge­fal­len wird. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er den Kopf auf sei­ne kno­chi­ge Hand stützt und, über das Buch auf sei­nem Pult ge­neigt, sich ver­geb­lich be­müht, mit­ten un­ter ei­nem Lärm, der den Spre­cher des Un­ter­hau­ses schwind­lig ge­macht ha­ben wür­de, sei­ne an­stren­gen­de Ar­beit fort­zu­set­zen. Die Jun­gen hasch­ten sich zwi­schen den Bän­ken, sie lach­ten, san­gen, tanz­ten, heul­ten, scharr­ten mit den Fü­ßen, an­de­re spran­gen um Mr. Mell her­um, grunz­ten, schnit­ten Ge­sich­ter, äff­ten ihn nach – hin­ter dem Rücken und vor sei­nen Au­gen –, ver­spot­te­ten sei­ne Ar­mut, sei­ne Stie­fel, sei­nen Rock, sei­ne Mut­ter, kurz al­les, was ihm ge­hör­te und was sie hät­ten ach­ten sol­len.

»Ruhe!« schrie Mr. Mell, plötz­lich auf­sprin­gend und mit dem Buch auf das Pult schla­gend. »Was soll das hei­ßen. Es ist nicht aus­zu­hal­ten. Es ist zum Ver­rückt­wer­den. Wie könnt ihr mir das tun, Jun­gen!«

Er schlug mit mei­nem Buch auf das Pult, und wie ich so ne­ben ihm ste­hend sei­nem Auge, das im Zim­mer her­um­schweif­te, folg­te, sah ich, wie sie alle schwie­gen; ei­ni­ge aus plötz­li­cher Über­ra­schung, man­che halb aus Angst, man­che viel­leicht aus Reue.

Steer­forths Platz war am un­tern Ende der Schul­stu­be. Er hat­te sich mit dem Rücken an die Wand ge­lehnt, die Hän­de in den Ta­schen, und sah Mr. Mell an, die Lip­pen zum Pfei­fen ge­spitzt.

»Ruhe, Mr. Steer­forth«, sag­te Mr. Mell.

»Selbst Ruhe«, sag­te Steer­forth und wur­de rot. »Mit wem spre­chen Sie ei­gent­lich?«

»Set­zen Sie sich«, sag­te Mr. Mell.

»Set­zen Sie sich sel­ber«, sag­te Steer­forth, »und küm­mern Sie sich um Ihre Sa­chen.«

Man hör­te ein Ki­chern und ei­ni­ge Bei­falls­ru­fe. Aber Mr. Mell war so bleich, dass es fast au­gen­blick­lich wie­der still wur­de, und ein Jun­ge, der hin­ter ihn ge­sprun­gen war, um wie­der Mr. Mells Mut­ter nach­zuäf­fen, be­sann sich an­ders und gab vor, er möch­te eine Fe­der ge­schnit­ten ha­ben.

»Wenn Sie viel­leicht glau­ben, Steer­forth«, sag­te Mell, »es wäre mir nicht be­kannt, wel­che Macht Sie hier über je­des Ge­müt aus­üben kön­nen« – er leg­te sei­ne Hand, viel­leicht ohne zu wis­sen, was er tat, auf mei­nen Kopf – »oder ich hät­te nicht be­merkt, wie Sie vor we­ni­gen Mi­nu­ten Ihre jün­gern Mit­schü­ler in je­der Wei­se auf­reiz­ten, mich zu be­schimp­fen, so ir­ren Sie sich.«

»Ich gebe mir über­haupt nicht Mühe, an Sie zu den­ken«, sag­te Steer­forth kalt­blü­tig, »also irre ich mich zu­fäl­lig gar nicht.«

»Und wenn Sie Ihre Stel­lung als Günst­ling hier miss­brau­chen, Sir«, fuhr Mr. Mell mit be­ben­den Lip­pen fort, »um einen an­stän­di­gen Men­schen zu be­lei­di­gen.«

»Ei­nen was? – Wo ist er?« frag­te Steer­forth.

Hier rief je­mand: »Pfui, Steer­forth, das ist ge­mein.«

Es war Tradd­les, den Mr. Mell au­gen­blick­lich zu­recht­wies, in­dem er ihm be­fahl, den Mund zu hal­ten.

»– Je­mand zu be­lei­di­gen, der nicht glück­lich im Le­ben ist und Ih­nen nie das ge­rings­te ge­tan hat, und zu­gleich die vie­len Grün­de ken­nen, die Sie ver­an­las­sen soll­ten, es nicht zu tun, Grün­de, die zu ken­nen Sie alt und klug ge­nug sind«, sag­te Mr. Mell, und sei­ne Lip­pen zit­ter­ten im­mer mehr, »so be­ge­hen Sie da­mit eine nied­ri­ge und ge­mei­ne Hand­lung. Sie kön­nen sich jetzt set­zen oder ste­hen blei­ben, wie Sie wol­len. Wei­ter, Cop­per­field.«

»Klei­ner Cop­per­field«, sag­te Steer­ford und kam ans Pult, »war­te einen Au­gen­blick. Ich will Ih­nen was sa­gen, Mr. Mell, ein für al­le­mal. Wenn Sie sich die Frei­heit neh­men, mich nied­rig oder ge­mein zu nen­nen oder einen ähn­li­chen Aus­druck zu ge­brau­chen, so sind Sie ein un­ver­schäm­ter Bett­ler. Sie sind über­haupt ein Bett­ler, das wis­sen Sie ja. Aber wenn Sie das tun, so sind Sie ein un­ver­schäm­ter Bett­ler.«

Ich war mir nicht klar, ob er nach Mr. Mell oder Mr. Mell nach ihm schla­gen woll­te, oder ob auf ei­ner der bei­den Sei­ten über­haupt eine sol­che Ab­sicht vor­han­den war. Ich sah die gan­ze Klas­se wie ver­stei­nert da­sit­zen und Mr. Cre­akle plötz­lich in un­se­rer Mit­te er­schei­nen und Ton­gay ne­ben ihm und an der Tür Mrs. und Miss Cre­akle mit scheu­en und er­schrock­nen Ge­sich­tern. Mr. Mell, die Ell­bo­gen auf das Pult und das Ge­sicht in die Hän­de ge­legt, saß ei­ni­ge Au­gen­bli­cke re­gungs­los da.

»Mr. Mell!« sag­te Mr. Cre­akle, den Schul­leh­rer am Arme fas­send und schüt­telnd, und sein Flüs­tern war dies­mal so laut, dass Ton­gay die Wor­te nicht zu wie­der­ho­len brauch­te. »Sie ha­ben sich doch nicht etwa ver­ges­sen?«

»Nein, Sir, nein«, er­wi­der­te der Leh­rer, wie­der sein Ge­sicht zei­gend und sich die Hän­de rei­bend. Er schüt­tel­te in großer Auf­re­gung den Kopf. »Nein, Sir, nein. Ich habe mich nicht ver­ges­sen. Ich – nein, Mr. Cre­akle, ich habe mich nicht ver­ges­sen. Ich – ich – ich – wünsch­te, Sie hät­ten et­was frü­her an mich ge­dacht, Mr. Cre­akle. Es – es – wäre gü­ti­ger ge­we­sen und ge­rech­ter, Sir. Es hät­te mir et­was er­spart, Sir.«

Mr. Cre­akle sah streng auf Mr. Mell, leg­te sei­ne Hand auf Ton­gays Schul­ter, stieg auf eine Bank und setz­te sich auf das Pult. Nach­dem er von die­sem Thro­ne noch eine Wei­le Mr. Mell, der noch im­mer in größ­ter Auf­re­gung den Kopf schüt­tel­te und sich die Hän­de rieb, streng an­ge­se­hen hat­te, wand­te er sich zu Steer­forth und sag­te:

»Nun, Sir, da er sich nicht her­ablässt, es mir zu sa­gen, was ist also?«

Steer­forth wich der Fra­ge eine Wei­le aus; er sah sei­nen Geg­ner mit zor­ni­gem und wil­dem Ge­sicht an und blieb stumm. Selbst da­mals konn­te ich mich des Ge­dan­kens nicht er­weh­ren, wie no­bel sein Aus­se­hen war und wie ge­wöhn­lich und dürf­tig sich Mr. Mell ge­gen ihn aus­nahm.

»Was hat er ei­gent­lich ge­meint, als er von Günst­lin­gen sprach?« sag­te Steer­forth end­lich.

»Günst­lin­ge?« wie­der­hol­te Mr. Cre­akle, und die Adern auf sei­ner Stir­ne schwol­len plötz­lich an. »Wer hat von Günst­lin­gen ge­spro­chen?«

»Er«, sag­te Steer­forth.

»Bit­te, was ha­ben Sie da­mit ge­meint, Sir?« frag­te Mr. Cre­akle und wand­te sich voll Zorn an sei­nen Un­ter­leh­rer.

»Ich mein­te, was ich sag­te, Mr. Cre­akle«, er­wi­der­te der Ge­frag­te ru­hig. »Dass kein Schü­ler das recht hat, sei­ne Günst­lings­stel­lung zu be­nüt­zen, um mich zu er­nied­ri­gen.«

»Sie zu er­nied­ri­gen? Aus­ge­zeich­net. Aber Sie wer­den mir ge­stat­ten, zu fra­gen, Mr. Dings­da«, und Mr. Cre­akle ver­schränk­te sei­ne Arme mit dem Rohr­stock auf der Brust und zog sei­ne Brau­en so zu­sam­men, dass sei­ne Au­gen fast ver­schwan­den, – »ob Sie, als Sie von Günst­lin­gen spra­chen, mir da­mit die ge­hö­ri­ge Ach­tung be­zeigt ha­ben. Mir, Sir«, frag­te Mr. Cre­akle und schnell­te plötz­lich mit dem Kopf ge­gen Mr. Mell vor und zog ihn wie­der zu­rück. »Mir, dem Prin­zi­pal die­ser An­stalt und ih­rem Bro­therrn!?«

»Ich gebe gern zu, dass es un­über­legt war«, sag­te Mr. Mell, »ich wür­de es nicht ge­tan ha­ben, wenn ich bei kal­tem Blu­te ge­we­sen wäre.«

Hier fiel Steer­forth ein:

»Und dann sag­te er, ich wäre nied­rig und ge­mein, und dann habe ich ihn einen Bett­ler ge­nannt. Wenn ich bei kal­tem Blu­te ge­we­sen wäre, hät­te ich ihn viel­leicht kei­nen Bett­ler ge­nannt. Aber ich tat es und neh­me die Fol­gen auf mich.«

Ohne wahr­schein­lich zu über­le­gen, ob ihn über­haupt Fol­gen tref­fen könn­ten, er­glüh­te ich förm­lich bei die­ser mu­ti­gen Rede. Sie mach­te auch auf die Jun­gen Ein­druck, und es ent­stand eine lei­se Un­ru­he un­ter ih­nen, wenn auch kei­ner ein Wort sprach.

»Ich bin er­staunt, Steer­forth, ob­gleich Ihre Auf­rich­tig­keit Ih­nen Ehre macht«, sag­te Mr. Cre­akle. »Ja, ge­wiss, Ih­nen Ehre macht, – ich bin er­staunt, Steer­forth, muss ich schon sa­gen, dass Sie solch eine Be­zeich­nung für eine Per­son brauch­ten, die in Sa­lem­haus an­ge­stellt ist und be­zahlt wird, Sir.«

Steer­forth lach­te kurz auf.

»Das ist kei­ne Ant­wort, Sir«, sag­te Mr. Cre­akle, »auf mei­ne Be­mer­kung. Ich er­war­te mehr von Ih­nen, Steer­forth.«

Wenn Mr. Mell in mei­nen Au­gen ge­gen­über dem hüb­schen Kna­ben schon ab­stach, wäre es ganz un­mög­lich ge­we­sen, zu sa­gen, was Mr. Cre­akle für einen Ein­druck mach­te.

»Er soll es ab­leug­nen«, sag­te Steer­forth.

»Ableug­nen, dass er ein Bett­ler ist, Steer­forth? Aber wo bet­telt er denn?«

»Wenn er nicht selbst ein Bett­ler ist, so ist es sei­ne nächs­te Ver­wand­te«, sag­te Steer­forth. »Das kommt doch auf das­sel­be her­aus.«

Er sah mich an, und Mr. Mells Hand klopf­te mir sanft auf die Schul­ter. Ich blick­te auf, Scham­rö­te im Ge­sicht und Reue im Her­zen. Aber Mr. Mells Au­gen ruh­ten auf Steer­forth. Er fuhr fort, mich freund­lich auf die Schul­ter zu klop­fen, aber er blick­te Steer­forth an.

»Da Sie eine Recht­fer­ti­gung von mir ver­lan­gen, Mr. Cre­akle«, sag­te Steer­forth »und ich sa­gen soll, was ich mei­ne, so sage ich, dass sei­ne Mut­ter von Al­mo­sen in ei­nem Ar­men­haus lebt.«

Im­mer noch sah ihn Mr. Mell an und klopf­te mir im­mer noch freund­lich auf die Schul­ter. Lei­se sag­te er dann vor sich hin: »Ja, das habe ich mir ge­dacht.«

Mr. Cre­akle wand­te sich an den Un­ter­leh­rer mit stren­gem Stirn­run­zeln und er­küns­tel­ter Höf­lich­keit.

»Nun, Sie hö­ren, was die­ser Herr sagt, Mr. Mell. Ha­ben Sie die Güte, sei­ne Aus­sa­ge vor der gan­zen Schu­le ge­fäl­ligst zu be­rich­ti­gen.«

»Er hat voll­stän­dig recht, Sir«, ant­wor­te­te Mr. Mell in­mit­ten der tiefs­ten Stil­le. »Was er ge­sagt hat, ist wahr.«

»Wol­len Sie dann so gut sein und öf­fent­lich er­klä­ren«, sag­te Mr. Cre­akle, leg­te den Kopf auf die Sei­te und roll­te mit den Au­gen, »ob ich bis zu die­sem Au­gen­blick et­was da­von in Er­fah­rung ge­bracht habe.«

»Ich glau­be nicht di­rekt«, er­wi­der­te Mr. Mell.

»Sie wis­sen, dass es nicht der Fall war«, sag­te Mr. Cre­akle. »Oder wis­sen Sie es nicht, Mensch?«

»Ich neh­me an, dass Sie wohl nie­mals mei­ne Ver­hält­nis­se für sehr gut ge­hal­ten ha­ben«, ant­wor­te­te der Un­ter­leh­rer. »Sie wis­sen doch, wie mei­ne Lage hier ist und im­mer war.«

»Ich neh­me an«, sag­te Mr. Cre­akle und sei­ne Adern wur­den noch di­cker, »dass Sie wohl über­haupt in ei­ner falschen Stel­lung hier ge­we­sen sind und die­se An­stalt ver­mut­lich für eine Ar­men­schu­le ge­hal­ten ha­ben. Mr. Mell, wir wer­den uns tren­nen und je eher, de­sto bes­ser.«

»Es ist kei­ne Zeit bes­ser als die ge­gen­wär­ti­ge«, er­wi­der­te Mr. Mell und stand auf.

»Für Sie, ja«, sag­te Mr. Cre­akle.

»Ich neh­me Ab­schied von Ih­nen, Mr. Cre­akle, und von euch al­len«, sag­te Mr. Mell, sah sich im Zim­mer um und klopf­te mir wie­der sanft auf die Schul­ter.

»Ja­mes Steer­forth, der bes­te Wunsch, den ich Ih­nen hin­ter­las­sen kann, ist, dass Sie sich ei­nes Ta­ges schä­men mö­gen über das, was Sie heu­te ge­tan ha­ben. Heu­te möch­te ich in Ih­nen lie­ber al­les an­de­re se­hen als einen Freund oder sonst je­mand, für den ich ein In­ter­es­se füh­le.«

Noch ein­mal leg­te er die Hand auf mei­ne Schul­ter, dann nahm er sei­ne Flö­te und ein paar Bü­cher aus dem Pult, ließ den Schlüs­sel ste­cken für sei­nen Nach­fol­ger und ver­ließ die Klas­se, sei­nen gan­zen Be­sitz un­ter dem Arm.

Mr. Cre­akle hielt dann noch un­ter Ton­gays As­sis­tenz eine Rede, in der er Steer­forth dank­te, dass er, wenn auch viel­leicht ein we­nig zu warm, das An­se­hen von Sa­lem­haus und sei­ne Un­ab­hän­gig­keit ver­tei­digt hat­te… Er wand sich durch bis zu dem Punk­te, wo er Steer­forth die Hand schüt­tel­te, wäh­rend wir drei­mal Hoch rie­fen, ich weiß nicht mehr für wen, aber ich glau­be für Steer­forth. We­nigs­tens rief ich mit, ob­wohl ich sehr nie­der­ge­schla­gen war. Dann wichs­te Mr. Cre­akle den klei­nen Tom­my Tradd­les durch, weil er über Mr. Mells Fort­ge­hen ge­weint hat­te, statt in das Hoch ein­zu­stim­men, und kehr­te wie­der zu sei­nem Sofa oder sei­nem Bett, oder wo er sonst her­ge­kom­men, zu­rück.

Wir wa­ren uns jetzt selbst über­las­sen und sa­hen ein­an­der rat­los an. Ich emp­fand so viel Ge­wis­sens­bis­se und Reue über das Ge­sche­he­ne, dass nur die Furcht, Steer­forth, der mich oft an­sah, möch­te es für un­freund­schaft­lich oder, bes­ser ge­sagt, für pflicht­wid­rig hal­ten, wenn ich wein­te, mei­ne Trä­nen zu­rück­hielt. Er war sehr böse auf Tradd­les und sag­te, es freue ihn, dass er es ge­kriegt habe.

Der arme Tradd­les, der schon wie­der über das Sta­di­um hin­aus war, wo er den Kopf auf das Pult zu le­gen pfleg­te und sei­nem Ver­druss wie­der mit ei­nem Hau­fen Ge­rip­pe Luft mach­te, sag­te, es sei ihm ganz wurst, aber Mr. Mell sei Un­recht ge­sche­hen.

»Wer hat ihm Un­recht ge­tan, du Mäd­chen?« frag­te Steer­forth.

»Wer denn sonst als du.«

»Was hab ich denn ge­tan?« frag­te Steer­forth.

»Was du ge­tan hast«, gab Tradd­les zur Ant­wort. »Du hast sei­ne Ge­füh­le ver­letzt und ihn um sei­ne Stel­le ge­bracht.«

»Sei­ne Ge­füh­le«, wie­der­hol­te Steer­forth ver­ächt­lich. »Sei­ne Ge­füh­le wer­den sich schon wie­der er­ho­len, drauf will ich wet­ten. Sei­ne Ge­füh­le sind nicht wie dei­ne, Fräu­lein Tradd­les. Und was sei­ne Stel­le be­trifft, die so glän­zend war, was? – so wer­de ich doch na­tür­lich nach Hau­se schrei­ben und da­für sor­gen, dass er Geld be­kommt, Pol­ly.«

Uns kam die­ser Vor­satz Steer­forths, des­sen Mut­ter, eine rei­che Wit­we, ihm in al­lem nach­gab, sehr hoch­her­zig vor. Wir freu­ten uns alle, dass Tradd­les be­schämt war, und ho­ben Steer­forth in den Him­mel, be­son­ders, als er uns gnä­digst er­klär­te, dass er al­les nur un­sert­we­gen ge­tan und uns durch sein selbst­lo­ses Be­neh­men einen Rie­sen­dienst er­wie­sen hät­te.

Aber ich muss ge­ste­hen, als ich abends im Dun­keln eine Ge­schich­te er­zähl­te, schi­en mir Mr. Mells Flö­te mehr als ein­mal trau­rig in den Ohren zu klin­gen, und als end­lich Steer­forth schlief und ich in mei­nem Bet­te lag, mach­te mich der Ge­dan­ke, die Flö­te wer­de jetzt wo­an­ders ge­spielt, ganz elend.

Ich ver­gaß Mr. Mell bald über der Be­wun­de­rung Steer­forths, der in leich­ter Di­let­tan­te­nart und ohne Buch, denn er schi­en al­les aus­wen­dig zu wis­sen, ei­ni­ge der Lehr­stun­den über­nahm, bis der neue Leh­rer er­schi­en. Die­ser kam aus ei­ner La­tein­schu­le und speis­te, be­vor er sein Amt an­trat, bei dem Di­rek­tor, um Steer­forth vor­ge­stellt zu wer­den.

Steer­forth fand großen Ge­fal­len an ihm und nann­te ihn eine Leuch­te. Wenn ich auch nicht be­griff, was für ein Ge­lehr­ten­ti­tel das wäre, brach­te ich ihm doch große Ehr­furcht ent­ge­gen und zwei­fel­te nicht im Ge­rings­ten an sei­nen groß­ar­ti­gen Kennt­nis­sen, ob­wohl er sich nie sol­che Mühe mit mir gab, wie Mr. Mell; aber ich war ja auch gar nicht zu rech­nen.

Noch ein un­ge­wöhn­li­ches Er­eig­nis in die­sem Se­mes­ter mach­te einen tie­fen Ein­druck auf mich, der noch im­mer fort­lebt, – aus ver­schie­de­nen Grün­den fort­lebt.

Ei­nes Nach­mit­tags, als wir alle in ei­nem Zu­stand ärgs­ter Ver­wir­rung und Angst wa­ren, weil Mr. Cre­akle so fürch­ter­lich um sich schlug, kam Ton­gay her­ein und rief laut:

»Be­such für Cop­per­field.«

Mr. Cre­akle wech­sel­te mit ihm ein paar Wor­te über den Rang des Be­suchs und das Zim­mer, in das man die Gäs­te wei­sen soll­te, und sag­te dann zu mir, – ich war wie üb­lich auf­ge­stan­den und ganz ver­blüfft vor Er­stau­nen – ich soll­te die Hin­ter­trep­pe hin­auf­ge­hen und einen rei­nen Kra­gen an­zie­hen, ehe ich ins Spei­se­zim­mer gin­ge. Ich ge­horch­te in ei­ner Auf­re­gung, wie ich sie noch gar nicht ge­kannt hat­te, und als ich an die Tür des Be­suchs­zim­mers kam und der Ge­dan­ke in mir auf­blitz­te, es könn­te viel­leicht mei­ne Mut­ter sein, – bis da­hin hat­te ich nur an Mr. und Miss Murd­sto­ne ge­dacht – ließ ich die Klin­ke wie­der los und blieb ste­hen und hol­te tief Atem, be­vor ich ein­trat.

Zu­erst sah ich nie­mand. Aber da ich ein Hin­der­nis an der Tür fühl­te, blick­te ich da­hin­ter und er­kann­te zu mei­nem Er­stau­nen Mr. Peg­got­ty und Ham, die mit ih­ren Hü­ten in der Hand vor mir knix­ten und ein­an­der an die Wand drück­ten. Ich muss­te la­chen, aber mehr aus Freu­de, sie zu se­hen, als über ih­ren An­blick. Wir schüt­tel­ten uns herz­lich die Hän­de, und ich lach­te und lach­te, bis ich mein Ta­schen­tuch her­aus­zie­hen und mir die Au­gen wi­schen muss­te.

Mr. Peg­got­ty, der wäh­rend des gan­zen Be­suchs kein ein­zi­ges Mal den Mund zu­mach­te, leg­te große Teil­nah­me an den Tag, als er das sah, und gab Ham einen Rip­pen­stoß, da­mit der et­was sa­gen soll­te.

»All wed­der lus­sig, Masr Davy?« frag­te Ham mit sei­nem ge­wohn­ten Grin­sen. »Wat sünn Sej grot woren.«

»Bin ich ge­wach­sen«, frag­te ich und trock­ne­te mir die Au­gen. Ich wein­te über nichts Be­son­de­res, nur das Wie­der­se­hen mit den al­ten Freun­den ent­lock­te mir Trä­nen.

»Grot woren? Masr Davy! ob hej grot woren is!« sag­te Ham.

»Ob hej grot woren is«, wie­der­hol­te Mr. Peg­got­ty.

Sie lach­ten ein­an­der an, bis ich mit­la­chen muss­te, und dann lach­ten wir alle drei, bis mir wie­der die Trä­nen ka­men.

»Wis­sen Sie, wie es Mama geht, Mr. Peg­got­ty«, frag­te ich, »und mei­ner lie­ben, lie­ben, al­ten Peg­got­ty?«

»Un­ge­mein«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

»Und der klei­nen Emly und Mrs. Gum­mid­ge?«

»Un­ge­mein«, sag­te Mr. Peg­got­ty.

Es trat eine große Pau­se ein. Um sie zu be­en­den, hol­te Mr. Peg­got­ty zwei un­ge­heu­re Hum­mern, eine rie­si­ge Krab­be und einen großen Se­gel­lein­wand­beu­tel voll Cre­vet­ten aus sei­nen Ta­schen und häuf­te sie auf Hams Ar­men auf.

»Weil Sie das ger­ne ha­ben, wis­sen Sie«, sag­te er, »ha­ben wir uns die Frei­heit ge­nom­men! Und die Alte hat se ge­kocht. Mrs. Gum­mid­ge hat se ge­kocht. Ja­woll«, füg­te er lang­sam hin­zu, wie mir schi­en, weil er von nichts an­ders zu re­den wuss­te. »Wahr­haf­tig, Mrs. Gum­mid­ge hat se ge­kocht.«

Ich drück­te ihm mei­nen Dank aus, und Mr. Peg­got­ty fuhr fort, Ham hil­fe­su­chend an­bli­ckend, der die Kreb­se an­grins­te, ohne einen Ver­such zu ma­chen, ihn zu un­ter­stüt­zen:

»Wi ka­men mit Flut und güns­ti­gen Wind in een von uns Yar­mouth­boo­ten nach Gra­ve­send. Mien Schwes­ter hett mich den Na­men von dem Ort hier schre­wen und schrewt, wenn ick nach Gra­ve­send kom­me, soll ick heröwer kom­men und nach Masr Davy fra­gen, un jem een schoin Gruß von ehr brin­gen un Gu­tes wün­schen un seg­gen, dass sej un­ge­mein gut geit. Lütt Emly soll an mien Schwes­ter schrie­wen, wenn ick wed­der to hus bün, dat ick Sej se­hen heww und dat Sej woll sünn; un so war et en ganz lus­si­gen Rund­gang.«

Ich muss­te erst ein we­nig nach­den­ken, was Mr. Peg­got­ty sa­gen woll­te, dann dank­te ich ihm herz­lich und sag­te, rot wer­dend, – wie ich fühl­te, – die klei­ne Emly wer­de sich wohl auch ver­än­dert ha­ben, seit­dem wir zu­sam­men Mu­scheln und Kie­sel am Stran­de ge­sucht hat­ten.

»Is een grot Dee­ren woren; sej is«, sag­te Mr. Peg­got­ty. »Fra­gen Sie ihn.« Er mein­te Ham, der won­ne­strah­lend über sei­nem Cre­vet­ten­beu­tel nick­te und sei­ne freu­di­ge Zu­stim­mung aus­drück­te.

»Ehr soit Ge­sicht!« sag­te Mr. Peg­got­ty und sein eig­nes glänz­te wie ein Licht.

»Die Ge­lehr­sam­keit«, sag­te Ham.

»Ehr Hand­schrift«, sag­te Mr. Peg­got­ty. »Schwarz wie Koh­le. Un so grot. Von wi­tem to se­hen.«

Es war wirk­lich eine Lust, wel­che Be­geis­te­rung über Mr. Peg­got­ty kam, wenn er an sei­nen klei­nen Lieb­ling dach­te. Er steht wie­der vor mir mit sei­nem wet­ter­har­ten haa­ri­gen Ge­sicht, strah­lend vor freu­di­ger Lie­be und Stolz, dass es sich gar nicht be­schrei­ben lässt. Sei­ne ehr­li­chen Au­gen leuch­te­ten auf und glänz­ten, als ob et­was Schim­mern­des ihre Tie­fen auf­rühr­te. Sei­ne brei­te Brust hob sich vor Ent­zücken. Sei­ne großen star­ken Hän­de ball­ten sich un­will­kür­lich bei sei­nem Ernst zu­sam­men, und er gab dem, was er sprach, Nach­druck durch Be­we­gun­gen sei­nes Arms, der mir, dem Knirps, wie ein Schmie­de­ham­mer vor­kam.

Ham mein­te es eben­so ernst­haft. Ich glau­be, sie wür­den noch mehr von ihr er­zählt ha­ben, wenn sie nicht durch das un­ver­mu­te­te Er­schei­nen Steer­forths in Ver­le­gen­heit ge­ra­ten wä­ren. Als mich die­ser in ei­ner Ecke mit zwei Frem­den spre­chen sah, brach er das Lied ab, das er eben laut sang, und sag­te: »Ich wuss­te nicht, dass du hier bist, klei­ner Cop­per­field.« Es war nicht das ge­wöhn­li­che Be­suchs­zim­mer und er woll­te vor­bei­ge­hen.

Ich weiß nicht, ob es der Stolz war, einen Freund wie Steer­forth zu be­sit­zen, oder der Wunsch, ihm zu er­klä­ren, wie ich zu sol­chen Be­kann­ten, wie Mr. Peg­got­ty käme, was mich ver­an­lass­te, ihn her­bei­zu­ru­fen.

»Bit­te, Steer­forth«, sag­te ich, »hier sind zwei Schif­fer aus Yar­mouth, so gute, lie­be Leu­te, Ver­wand­te mei­ner al­ten Kinds­frau, die von Gra­ve­send ge­kom­men sind, um mich zu be­su­chen.«

»O! O!« sag­te Steer­forth und dreh­te sich um. »Freut mich, Sie zu se­hen. Wie geht es Ih­nen?«

Es lag et­was Un­ge­zwun­ge­nes in sei­nem We­sen, – et­was Fri­sches, Mun­te­res, aber gar nichts An­ma­ßen­des, das im­mer be­stri­ckend auf alle wirk­te. Im­mer noch kommt es mir vor, als ob sei­ne Hal­tung, sei­ne Leb­haf­tig­keit, sei­ne ge­win­nen­de Stim­me, sein hüb­sches Ge­sicht und eine ge­wis­se ihm in­ne­woh­nen­de An­zie­hungs­kraft einen Zau­ber aus­üb­ten, dem nur we­ni­ge wi­der­ste­hen konn­ten. Es ent­ging mir nicht, wie sehr er ih­nen ge­fiel und wie sich ihm im Au­gen­blick ihre Her­zen er­schlos­sen.

»Sie müs­sen auch zu Hau­se sa­gen, Mr. Peg­got­ty, dass Mr. Steer­forth sehr freund­lich zu mir ist, und dass ich ohne ihn gar nicht wüss­te, was an­fan­gen.«

»Un­sinn«, lach­te Steer­forth. »So et­was dür­fen Sie ih­nen dort nicht sa­gen.«

»Und wenn Mr. Steer­forth ein­mal nach Nor­folk oder Suf­folk kommt, Mr. Peg­got­ty«, sag­te ich, »und ich bin auch dort, so brin­ge ich ihn ganz ge­wiss mit nach Yar­mouth, um ihm Ihr Haus zu zei­gen. Du hast noch nie so ein Haus ge­se­hen, Steer­forth. Es ist aus ei­nem Schiff ge­macht.«

»Aus ei­nem Schiff, wahr­haf­tig?« sag­te Steer­forth. »Das ist das rich­ti­ge Haus für so einen tüch­ti­gen Schif­fer.«

»Ja­woll, Sir, is es auch«, sag­te Ham grin­send. »Ha­ben recht, jun­ger Gen­lmn. Masr Davy, der Gen­lmn hat recht. N fi­xer Schip­per. Ja­woll. Dat is hej.«

Mr. Peg­got­ty fühl­te sich nicht we­ni­ger ge­schmei­chelt als sein Nef­fe, wenn ihm auch sei­ne Be­schei­den­heit ver­bot, ein per­sön­li­ches Kom­pli­ment so laut auf sich zu be­zie­hen.

»Woll, Sir«, sag­te er mit ei­nem Kat­zen­bu­ckel und in sich hin­ein­la­chend und die Zip­fel sei­nes Ta­schen­tuchs ver­le­gen in die Wes­te stop­fend: »Schoin Dank, Sir, schoin Dank. Ick dau mien Schul­dig­keit an Bord.«

»Auch der Bes­te kann nicht mehr, Mr. Peg­got­ty«, sag­te Steer­forth, der so­fort den Na­men auf­ge­fasst hat­te.

»Wet­te, Sej do­ons auch«, sag­te Peg­got­ty und schüt­tel­te Steer­forth die Hand, »und do­ons ge­hö­rich. – Ganz ge­hö­rich! Schoin Dank, Sir. Dank Ih­nen, Sir, dat Sej mich so fründ­lich auf­ge­nom­men hew­wen. Ick bün schlecht und recht, Sir, heißt, hof­fe, bün recht, ver­ste­hen Sej? An mien Hus is noch vell to sehn, Sir, aber Sej sün will­komm, wenn Sej een­mal mit Masr Davy kommn, ick bün wie een Pa­gütz, dat bün ick«, sag­te Peg­got­ty. Er mein­te da­mit wahr­schein­lich eine Schne­cke und spiel­te auf sei­ne Lang­sam­keit im Fort­ge­hen an, denn er hat­te nach je­dem Satz ver­sucht, fort­zu­ge­hen, war aber im­mer wie­der um­ge­kehrt. »Awer ick segg Sej beid Ad­jüs und wünsch Sej veel Glüch.«

Ham wie­der­hol­te die­sen Ge­fühls­aus­bruch, und wir schie­den von bei­den auf das herz­lichs­te. Ich fühl­te mich an die­sem Abend so ver­sucht, Steer­forth von der hüb­schen klei­nen Emly zu er­zäh­len, aber ich fürch­te­te von ihm aus­ge­lacht zu wer­den.

Ich er­in­ne­re mich, dass ich viel und un­ru­hig über Mr. Peg­got­tys Wort nach­dach­te, dass sie ein großes Mäd­chen ge­wor­den sei, ver­warf aber die­sen Ge­dan­ken spä­ter als Un­sinn.

Wir schlepp­ten die Kreb­se, »dat Tüch«, wie Peg­got­ty es be­schei­den be­nannt hat­te, un­be­merkt in un­ser Zim­mer und hiel­ten an die­sem Abend ein großes Fes­tes­sen. Tradd­les kam da­bei nicht gut weg. Er war ein zu großer Pech­vo­gel, als dass er sich ei­nes Es­sens, das je­dem an­de­ren Men­schen be­kam, lan­ge hät­te er­freu­en kön­nen. Es wur­de ihm in der Nacht schlecht – ganz mi­se­ra­bel schlecht – nach der Krab­be, und nach­dem er schwar­ze Trop­fen und blaue Pil­len in ei­ner Men­ge ge­schluckt hat­te, dass Dem­ple, des­sen Va­ter Arzt war, mein­te, es wäre ge­nug, um ei­nes Pfer­des Ge­sund­heit zu un­ter­gra­ben, wur­de er durch­ge­hau­en und be­kam sechs Ka­pi­tel aus dem grie­chi­schen Te­sta­ment auf, weil er sich zu beich­ten wei­ger­te.

Den Rest des Se­mes­ters füllt ein Schwall von Erin­ne­run­gen aus an die ewi­gen Pla­gen und Müh­se­lig­kei­ten un­se­res täg­li­chen Le­bens, an den schwin­den­den Som­mer und den Wech­sel der Jah­res­zei­ten, an die küh­len Mor­gen, wenn man uns aus den Bet­ten läu­te­te und den kal­ten, kal­ten Ge­ruch der dunklen Näch­te, wenn wir wie­der ins Bett muss­ten, an die schlecht be­leuch­te­te und schlecht ge­heiz­te Abend­schul­stu­be und die Mor­gen­klas­se, die wei­ter nichts war als eine große Frös­tel­ma­schi­ne, – an die Ab­wechs­lung zwi­schen ge­koch­tem Rind­fleisch und Rin­der­bra­ten, ge­koch­tem Ham­mel­fleisch und Ham­mel­bra­ten, an But­ter­bro­te, Schul­bü­cher mit Eselsoh­ren, zer­bro­che­ne Schie­fer­ta­feln, Schreib­hef­te mit Trä­nen­fle­cken, an spa­ni­sche Rohr- und Li­neal­hie­be, Ohren­beu­tel, reg­ne­ri­sche Sonn­ta­ge, Talg­pud­dings und die schmut­zi­ge Tin­tenat­mo­sphä­re, die al­les um­gibt.

Ich er­in­ne­re mich noch so recht an die fer­ne Hoff­nung auf die Fei­er­ta­ge, die in all der lan­gen Zeit wie der ein­zig fes­te Punkt er­schi­en. Ein Punkt, der sich uns im­mer mehr nä­her­te und be­stän­dig grö­ßer wur­de, wie wir zu­erst Mo­na­te, dann Wo­chen und dann nur mehr Tage zähl­ten, wie ich dann an­fing, zu fürch­ten, dass ich nicht wür­de nach Hau­se rei­sen dür­fen, – in­des­sen, wie Steer­forth her­aus­brach­te, schon zu Hau­se an­ge­mel­det war, – und dann von dunklen Ah­nun­gen ge­quält wur­de, ich könn­te in­zwi­schen das Bein bre­chen. Wie end­lich der Tag der Abrei­se nä­her kam, von der zweit­nächs­ten Wo­che auf die nächs­te, dann auf die ge­gen­wär­ti­ge, auf über­mor­gen, mor­gen, heu­te, heu­te Abend, – wo ich in der Post­kut­sche in Yar­mouth sit­ze und nach Hau­se fah­re.

Ich schlum­me­re mei­len­wei­se in der Kut­sche und habe einen zu­sam­men­hän­gen­den Traum von al­len die­sen Din­gen. Aber wenn ich manch­mal auf­wa­che, ist die Ge­gend drau­ßen vor dem Fens­ter nicht der Spiel­platz von Sa­lem­haus, und was in mei­ne Ohren ruft, ist nicht Mr. Cre­akle, der eben Tradd­les prü­gelt, son­dern der Kut­scher, der die Pfer­de an­treibt.

David Copperfield

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