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10. Kapitel – Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter

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Das ers­te, was Miss Murd­sto­ne am Tag nach dem Be­gräb­nis­se tat, war, dass sie Peg­got­ty für den kom­men­den Mo­nat kün­dig­te. So sehr Peg­got­ty eine sol­che Stel­le miss­fal­len muss­te, so hät­te sie sie doch um mei­net­wil­len je­der an­de­ren auf der Welt vor­ge­zo­gen.

Was mich be­traf und mei­ne Zu­kunft, fiel kein Wort, und es ge­sch­ah auch nichts. Sie wä­ren wahr­schein­lich froh ge­we­sen, wenn sie mir auch hät­ten mo­nat­lich kün­di­gen kön­nen. Ich fass­te mir ein­mal ein Herz und frag­te Miss Murd­sto­ne, wann ich wie­der in die Schu­le ge­hen wer­de, und sie ant­wor­te­te: »Wahr­schein­lich über­haupt nicht mehr.« Wei­ter er­fuhr ich nichts. Ich hät­te nur zu ger­ne ge­wusst, was man mit mir vor­ha­be, aber we­der Peg­got­ty noch ich konn­ten das ge­rings­te her­aus­be­kom­men. Mei­ne Lage hat­te sich, was die Ge­gen­wart be­trifft, zwar viel an­ge­neh­mer ge­stal­tet, wür­de mir aber, wenn ich die Fol­gen hät­te ge­hö­rig er­mes­sen kön­nen, für die Zu­kunft viel Sor­gen ge­macht ha­ben. Der mir frü­her auf­er­leg­te Zwang hat­te ganz auf­ge­hört. Miss Murd­sto­ne zwang mich nicht mehr wie frü­her, mei­nen lang­wei­li­gen Pos­ten in der Wohn­stu­be bei­zu­be­hal­ten, und wies mich mehr als ein­mal mit fins­term Blick aus dem Zim­mer. Ich durf­te ru­hig mit Peg­got­ty ver­keh­ren, wenn ich nur nicht Mr. Murd­sto­ne vor die Au­gen kam. An­fangs fürch­te­te ich, er oder sei­ne Schwes­ter wür­den mich wie­der zu un­ter­rich­ten an­fan­gen, aber ich fand bald, dass mei­ne Be­sorg­nis un­be­grün­det war und ich wei­ter nichts als Ver­nach­läs­si­gung zu ge­wär­ti­gen hat­te.

Die­se Ent­de­ckung ver­ur­sach­te mir da­mals nicht viel Schmerz. Noch im­mer ganz be­täubt von dem Tod mei­ner Mut­ter war mir al­les an­de­re recht gleich­gül­tig. Wohl dach­te ich mir zu­wei­len, ob ich nicht zu ei­nem schä­bi­gen mür­ri­schen Mann, der im Dor­fe sein Le­ben in Nichtstun ver­lun­gern wür­de, her­an­wach­sen müss­te, wenn ich so gar kei­nen Un­ter­richt mehr emp­fin­ge. Ich weiß noch, ich habe ein­mal über­legt, ob ich nicht wie der Held ei­nes Ro­mans da­von­lau­fen soll­te, um mein Glück zu ma­chen, aber al­les das wa­ren Träu­me am hel­lich­ten Tag, die an der Wand mei­nes Zim­mers vor­über­schweb­ten und nur die lee­re Wand zu­rück­lie­ßen.

»Peg­got­ty«, sag­te ich, ge­dan­ken­voll flüs­ternd, ei­nes Abends, als ich mei­ne Hän­de am Herd­feu­er wärm­te, »Mr. Murd­sto­ne hat mich noch we­ni­ger gern als frü­her. Er hat mich nie gern ge­habt, Peg­got­ty. Aber jetzt möch­te er mich am liebs­ten gar nicht mehr se­hen.«

»Vi­el­leicht hat er Kum­mer«, sag­te Peg­got­ty und strich mir die Haa­re glatt.

»Ich bin ge­wiss auch voll Trau­er, Peg­got­ty«, er­wi­der­te ich, »wenn es nur sein Gram wäre, wür­de ich wei­ter gar nicht dar­über nach­den­ken. Aber das ists nicht, o nein, das ists nicht.«

»Wo­her weißt du denn das?« frag­te Peg­got­ty nach ei­ner Pau­se.

»O, Kum­mer ist es nicht; jetzt wo er mit sei­ner Schwes­ter am Ka­min sitzt, hat er wohl Kum­mer. Aber wenn ich hin­ein­gin­ge, Peg­got­ty, wür­de er so­gleich an­ders wer­den.«

»Wie denn?« frag­te Peg­got­ty.

»Zor­nig«, ant­wor­te­te ich und mach­te un­will­kür­lich sein Stirn­run­zeln nach. »Wenn es nur Gram wäre, wür­de er mich doch nicht so an­se­hen. Ich grä­me mich auch, aber das macht mich nur freund­li­cher ge­gen an­de­re.«

Peg­got­ty sag­te nichts mehr dar­auf, und ich wärm­te mei­ne Hän­de stumm wie sie.

»Davy«, sag­te sie end­lich.

»Ja, Peg­got­ty.«

»Ich habe al­les mög­li­che ver­sucht, mein lie­bes Kind, hier in Blun­der­sto­ne einen pas­sen­den Dienst zu be­kom­men, aber ich konn­te kei­nen fin­den.«

»Und was ge­denkst du zu tun, Peg­got­ty?« und ich sah sie for­schend an, »willst du fort­ge­hen und dein Glück an­der­wärts ver­su­chen?«

»Ich wer­de wohl nach Yar­mouth ge­hen müs­sen«, sag­te Peg­got­ty.

»Du hät­test noch wei­ter fort­ge­hen und so gut wie ver­lo­ren für mich sein kön­nen«, sag­te ich ein we­nig er­leich­tert. »So kann ich dich manch­mal be­su­chen, mei­ne gute, alte Peg­got­ty! Du bist doch dort nicht am Ende der Welt, nicht wahr?«

»Ganz im Ge­gen­teil, so Gott will«, rief Peg­got­ty mit großer Leb­haf­tig­keit. »So­lang du hier bist, mein Herz­blatt, kom­me ich dich jede Wo­che be­su­chen. Jede Wo­che ein­mal, so­lan­ge ich lebe.«

Dies Ver­spre­chen nahm mir einen Stein vom Her­zen. Aber Peg­got­ty fuhr fort. »Schau mal, Davy, ich gehe zu­vor­derst ein­mal auf vier­zehn Tage zu mei­nem Bru­der auf Be­such, um mich ein biss­chen um­zu­se­hen und wie­der einen kla­ren Kopf zu be­kom­men; da hab ich mir ge­dacht, da sie dich hier so­wie­so nicht brau­chen kön­nen, las­sen sie dich viel­leicht mit mir ge­hen?«

Je­den­falls war die­ser Plan das ein­zi­ge, was mich in mei­ner da­ma­li­gen Ge­müts­s­tim­mung ir­gend­wie auf­hel­len konn­te. Der Ge­dan­ke, wie­der auf die­sen ehr­li­chen Ge­sich­tern einen Will­kom­mens­gruß le­sen zu kön­nen, wie­der den Frie­den des stil­len Sonn­tag­mor­gens zu ge­nie­ßen, wenn die Glo­cken läu­ten, die Schif­fe Schat­ten gleich aus dem Ne­bel bre­chen, wie­der Stei­ne ins Was­ser wer­fen zu kön­nen, mit der klei­nen Emly her­um­zu­strei­fen, ihr mei­ne Lei­den zu er­zäh­len und ein Zau­ber­mit­tel da­ge­gen in den Mu­scheln und Kie­seln am Stran­de zu fin­den, er­füll­te mein Herz mit be­sänf­ti­gen­der Ruhe. Frei­lich wur­de sie schon im nächs­ten Au­gen­blick von dem Ge­dan­ken zer­stört, dass Miss Murd­sto­ne schwer­lich ein­wil­li­gen wer­de. Aber noch wäh­rend wir spra­chen, kam Miss Murd­sto­ne plötz­lich her­aus, um et­was aus der Vor­rats­kam­mer zu ho­len, und Peg­got­ty brach­te die An­ge­le­gen­heit mit ei­ner Kühn­heit, die mich in Er­stau­nen ver­setz­te, so­gleich zur Spra­che.

»Der Jun­ge wird dort her­um­lun­gern«, sag­te Miss Murd­sto­ne und späh­te in einen Krug mit Es­sig­gur­ken, »und Nichtstun ist die Wur­zel al­les Bö­sen. Aber frei­lich hier wird er auch nichts tun – und an­der­wärts auch nicht.«

Peg­got­ty hat­te eine hef­ti­ge Ant­wort auf der Zun­ge; aber sie schluck­te sie her­un­ter um mei­net­wil­len und schwieg.

»Hm«, mein­te Miss Murd­sto­ne dann und späh­te im­mer noch in den Es­sig­krug. »Es ist wich­ti­ger als al­les an­de­re, – es ist so­gar von au­ßer­or­dent­li­cher Wich­tig­keit, – dass mein Bru­der nicht ge­stört und be­läs­tigt wird. Es ist wohl am bes­ten, ich wil­li­ge ein.«

Ich be­dank­te mich bei ihr, ohne mei­ne Freu­de zu ver­ra­ten, da­mit sie nicht etwa ihre Er­laub­nis zu­rück­zö­ge, und mir kam das sehr klug vor, als sie mich jetzt wie­der mit ei­nem so sau­ern Ge­sicht an­sah, als hät­te sie mit ih­ren schwar­zen Au­gen den gan­zen In­halt des Es­sig­krugs aus­ge­so­gen. Die Er­laub­nis war ge­ge­ben und wur­de auch nicht zu­rück­ge­zo­gen. Und als der Mo­nat um war, stan­den Peg­got­ty und ich zur Ab­fahrt be­reit.

Mr. Bar­kis kam ins Haus, um Peg­got­tys Kof­fer ab­zu­ho­len. So viel ich weiß, hat­te er noch nie die Schwel­le der Gar­ten­tür über­schrit­ten, aber bei die­ser Ge­le­gen­heit kam er bis ins Haus. Und als er den größ­ten Kof­fer auf sei­ne Schul­tern lud und hin­aus­ging, warf er mir einen so viel­sa­gen­den Blick zu, wie es sein Ge­sicht über­haupt ver­moch­te.

Peg­got­ty war na­tür­lich sehr be­trübt über ih­ren Ab­schied von dem Orte, wo sie so lan­ge Jah­re mit mei­ner Mut­ter und mir zu­ge­bracht hat­te. Sie war schon in al­ler Frü­he auf dem Kirch­hof ge­we­sen, und als sie im Wa­gen saß, hielt sie sich das Ta­schen­tuch vor die Au­gen.

So­lan­ge sie so blieb, gab Mr. Bar­kis kein Le­bens­zei­chen von sich. Er saß auf sei­nem ge­wohn­ten Platz und in sei­ner be­kann­ten Hal­tung wie eine große, aus­ge­stopf­te Pup­pe. Aber als sie das Ta­schen­tuch ein­steck­te und mit mir zu spre­chen an­fing, nick­te er meh­re­re Male und grins­te. Ich hat­te nicht den lei­ses­ten Be­griff, was er da­mit sa­gen woll­te.

»’s ist ein schö­ner Tag, Mr. Bar­kis«, be­gann ich aus pu­rer Höf­lich­keit.

»Nicht schlecht«, mein­te Mr. Bar­kis, der ge­wöhn­lich sei­ne Wor­te sehr ab­wog und sei­ne Mei­nung nie of­fen her­aus­sag­te.

»Peg­got­ty hat sich schon wie­der ganz er­holt, Mr. Bar­kis«, be­merk­te ich.

»So. Hm«, sag­te Mr. Bar­kis.

Nach­dem er mit schlau­er Mie­ne nach­ge­dacht hat­te, sah er Peg­got­ty an und sag­te:

»Ists Ih­nen schon hübsch be­hag­lich?«

Peg­got­ty lach­te be­ja­hend.

»Aber wirk­lich und wahr­haf­tig? Ver­ste­hen Sie? Wirk­lich?« brumm­te Mr. Bar­kis und rutsch­te auf der Bank nä­her an sie her­an und gab ihr einen Stoß mit dem Ell­bo­gen. »Wirk­lich? Wirk­lich und wahr­haf­tig, ganz be­hag­lich? Wirk­lich? He?« Bei je­der die­ser Fra­gen rutsch­te Mr. Bar­kis nä­her zu ihr und gab ihr je­des Mal einen Stoß mit dem Ell­bo­gen, bis wir zu­letzt alle in der lin­ken Ecke des Wa­gens ein­ge­klemmt sa­ßen und ich kaum mehr at­men konn­te.

Peg­got­ty mach­te ihn dar­auf auf­merk­sam, wor­auf er so­gleich et­was Platz mach­te und nach und nach wie­der zu­rück­kehr­te. Ich sah ihm an, dass er zu glau­ben schi­en, er sei auf ein präch­ti­ges Mit­tel ver­fal­len, sich ohne viel Wor­te an­ge­nehm, fein und deut­lich aus­zu­drücken. Eine Zeit lang lach­te er vor sich hin. Dann wand­te er sich wie­der lang­sam nach Peg­got­ty um und wie­der­hol­te: »Also wirk­lich be­hag­lich?« und fing das alte Ma­nö­ver wie­der an, bis ich aber­mals kei­nen Atem be­kam. Nicht lan­ge dar­auf wie­der­hol­te sich das­sel­be noch ein­mal mit den­sel­ben Fol­gen. Dann stand ich im­mer auf, wenn ich ihn an­rücken sah, und tat, als ob ich mir die Ge­gend an­sä­he, und kam viel bes­ser da­bei weg.

Er war so höf­lich, nur un­sert­we­gen an ei­nem Wirts­haus an­zu­hal­ten und uns mit Ham­mel­bra­ten und Bier zu be­wir­ten. Aber selbst ein­mal, als Peg­got­ty ge­ra­de trank, be­kam er einen sei­ner al­ten An­fäl­le und brach­te sie fast zum Er­sti­cken. Je mehr wir uns un­serm Rei­se­ziel nä­her­ten, de­sto mehr muss­te er auf­pas­sen und de­sto we­ni­ger Zeit fand er für Galan­te­ri­en. Und als wir erst auf dem Pflas­ter von Yar­mouth durch­ein­an­der­ge­schüt­telt wur­den, bot sich gar kei­ne Ge­le­gen­heit mehr.

Mr. Peg­got­ty und Ham er­war­te­ten uns auf dem al­ten Plat­ze. Sie emp­fin­gen mich und Peg­got­ty in herz­li­cher­wei­se und schüt­tel­ten Mr. Bar­kis die Hand, der mit weit zu­rück­ge­scho­be­nem Hut, ein ver­schäm­tes Lä­cheln auf den Zü­gen und weit aus­ge­spreiz­ten Bei­nen einen mög­lichst dum­men Ein­druck zu er­we­cken be­müht war. Je­der von den bei­den Fi­schern nahm einen von Peg­got­tys Kof­fern, und wir woll­ten eben fort­ge­hen, als mir Mr. Bar­kis fei­er­lich mit dem Zei­ge­fin­ger wink­te, mit ihm un­ter einen Tor­weg zu tre­ten.

»Also«, brumm­te er dann, »al­les in Ord­nung.«

Ich sah ihn an und ant­wor­te­te mit ei­nem Ver­such, ein mög­lichst ge­schei­tes Ge­sicht zu ma­chen: »O! o!«

»Da­mals wars noch nicht ab­ge­macht«, fuhr er mit ver­trau­li­chem Ni­cken fort. »Al­les in Ord­nung.«

Wie­der ant­wor­te­te ich: »O!«

»Sie wis­sen, wer woll­te! Er! Bar­kis! aber nur Bar­kis!«

Ich nick­te zu­stim­mend.

»Al­les in Ord­nung«, sag­te Mr. Bar­kis wie­der und schüt­tel­te mir die Hand. »Wir sind Freun­de. Sie ha­bens in Ord­nung ge­bracht. Al­les in Ord­nung.«

In sei­nem Be­stre­ben be­son­ders klar zu sein, wur­de mir Mr. Bar­kis im­mer rät­sel­haf­ter. Ich hät­te ihm eine Stun­de ins Ge­sicht se­hen kön­nen, ohne von ihm mehr zu er­fah­ren als von dem Zif­fer­blatt ei­ner Uhr, die still­steht. End­lich rief mich Peg­got­ty weg. Un­ter­wegs frag­te sie mich, was er ge­sagt habe, und ich wie­der­hol­te sei­ne Wor­te: »Al­les in Ord­nung.«

»Ist das eine Un­ver­schämt­heit«, sag­te sie, »aber es macht nichts. Lie­ber Davy, was meinst du wohl, wenn ich mich ver­hei­ra­te­te?«

»Nun, du wür­dest mich doch eben­so lieb ha­ben wie jetzt, Peg­got­ty?« er­wi­der­te ich nach ei­ni­gem Nach­den­ken.

Zum größ­ten Er­stau­nen der Vor­über­ge­hen­den und der bei­den Peg­got­tys vor uns blieb die gute See­le ste­hen und um­arm­te mich un­ter vie­len Be­teue­run­gen ih­rer un­wan­del­ba­ren Lie­be.

»Sag mir also, was du meinst, Lieb­ling?« frag­te sie, als sie da­mit fer­tig war und wir un­sern Weg fort­setz­ten.

»Wenn du dich mit Mr. Bar­kis ver­hei­ra­test, Peg­got­ty?«

»Ja.«

»Ich glau­be, es wäre sehr gut, dann hät­test du im­mer das Pferd und den Wa­gen um­sonst und könn­test mich im­mer be­su­chen kom­men.«

»Was das Kind ge­scheit ist!« rief Peg­got­ty. »Das hab ich doch auch im­mer den gan­zen Mo­nat lang ge­dacht. Ja, mein Gold­kind, ich wäre viel un­ab­hän­gi­ger, siehst du. Und es wür­de sich mir in mei­nem eig­nen Haus viel leich­ter ar­bei­ten als sonst­wo. Ich weiß gar nicht, ob ich mich zum Dienst­mäd­chen bei Frem­den jetzt noch eig­ne, und ich wäre im­mer in der Nähe der Ru­he­stät­te mei­nes schö­nen Lieb­lings«, füg­te sie nach­denk­lich hin­zu. »Ich könn­te sie se­hen, wann ich woll­te, und wenn ich mich ein­mal zur Ruhe lege, wärs nicht weit von mei­nem lie­ben Mä­del.«

Wir schwie­gen bei­de eine Wei­le.

»Aber ich wür­de nicht ein ein­zi­ges Mal wie­der dran den­ken«, sag­te Peg­got­ty fröh­lich, »wenn mein Davy ir­gen­det­was da­ge­gen hät­te, und wenn ich auch drei­ßig­mal drei­mal in der Kir­che ge­fragt wür­de und den Ring mein Leb­tag in der Ta­sche her­um­tra­gen müss­te.«

»Schau mich an, Peg­got­ty«, er­wi­der­te ich, »und sieh selbst, ob ich mich nicht wirk­lich von gan­zer See­le dar­über freue!«

»Lie­bes Herz«, sag­te Peg­got­ty und drück­te mich an sich, »ich habe Tag und Nacht dar­über nach­ge­dacht und in je­der Wei­se und ich glau­be in der rech­ten, aber ich will es mir noch ein­mal über­le­gen und mit mei­nem Bru­der dar­über spre­chen und un­ter­des­sen wol­len wir die Sa­che für uns be­hal­ten, Davy. Bar­kis ist ein ein­fa­cher gu­ter Kerl, und wenn ich mei­ne Pf­licht an sei­ner Sei­te tue, glau­be ich, wäre es mei­ne Schuld, wenn ich nicht – wenn ich mich nicht be­hag­lich be­fän­de«, sag­te Peg­got­ty und lach­te herz­lich.

Über die­sen Auss­pruch von Mr. Bar­kis muss­ten wir im­mer wie­der la­chen, und wir wa­ren sehr hei­te­rer Lau­ne, als Mr. Peg­got­tys Häu­schen in Sicht kam.

Es sah ge­nau so aus wie frü­her, nur schi­en es in mei­nen Au­gen jetzt ein we­nig klei­ner zu sein. Mrs. Gum­mid­ge war­te­te in der Tür, als ob sie seit da­mals im­mer noch dort stün­de. In­nen war al­les un­ver­än­dert bis zum See­gras hin­ab in dem blau­en Krug in mei­nem Schlaf­zim­mer. Ich ging in den Sei­ten­schup­pen, um mich ein we­nig um­zu­se­hen und wie­der war ein ver­wor­re­ner Hau­fen von Hum­mern, Krab­ben und Kreb­sen da, alle von dem­sel­ben Ver­lan­gen, die gan­ze Welt zu zwi­cken, be­seelt.

Aber kei­ne klei­ne Emly war zu se­hen, und so frag­te ich Mr. Peg­got­ty nach ihr.

»Is in der Schu­le, Sir«, sag­te Mr. Peg­got­ty und wisch­te sich den Schweiß von der Stir­ne. Dann sah er nach der Wand­uhr, »kommt all in zwan­zig oder drei­ßig Mi­nu­ten. Wir ver­mis­sen sie alle, ach Gott.«

Mrs. Gum­mid­ge seufz­te.

»Kopf hoch, Mä­chen«, mahn­te Mr. Peg­got­ty.

»Ach«, sag­te Mrs. Gum­mid­ge, »ich bin n ein­sam ver­las­se­nes Ge­schöpf und sie war die ein­zi­ge, die mich nicht die Que­re ging.«

Sie schüt­tel­te trä­nen­den Au­ges den Kopf und blies das Feu­er an. Mr. Peg­got­ty sah uns an, wäh­rend sie so be­schäf­tigt war, und flüs­ter­te lei­se hin­ter sei­ner Hand her­vor: »De Olsch.«

Daraus schloss ich ganz rich­tig, dass seit mei­nem letz­ten Be­such in Mrs. Gum­mid­ges Ge­müts­zu­stand kei­ne we­sent­li­che Ver­än­de­rung ein­ge­tre­ten sein konn­te. Al­les war so reiz­voll wie frü­her, aber den­noch mach­te es einen ganz an­de­ren Ein­druck auf mich. Ich fühl­te mich fast ein we­nig ent­täuscht. Vi­el­leicht trug die Ab­we­sen­heit der klei­nen Emly die Schuld. Da ich wuss­te, wel­chen Weg sie kom­men muss­te, ging ich ihr ent­ge­gen.

Es dau­er­te auch nicht lan­ge, da tauch­te in der Fer­ne eine Ge­stalt auf, und ich er­kann­te bald Emly, die im­mer noch ein klei­nes Ge­schöpf­chen war, trotz­dem sie ge­wach­sen schi­en. Aber als sie nä­her kam und ich sah, wie ihre blau­en Au­gen noch blau­er und ihr Ge­sicht mit den Grüb­chen noch hei­te­rer, hüb­scher und schel­mi­scher ge­wor­den, über­kam mich ein ganz selt­sa­mes Ge­fühl und ich tat, als ob ich sie nicht kenn­te, und ging vor­bei, als ob ich weit drau­ßen in der Fer­ne et­was er­blick­te. Ich habe der­glei­chen, mir scheint, auch spä­ter noch im Le­ben ge­tan!

Die klei­ne Emly küm­mer­te sich gar nicht um mich. Sie sah mich recht gut, an­statt sich aber um­zu­dre­hen und mich zu ru­fen, lief sie la­chend fort. Das zwang mich, ihr nach­zu­ren­nen. Aber sie lief so schnell, dass ich sie erst knapp vor dem Häu­schen ein­ho­len konn­te.

»Ach so, du bists?«

»Aber du wuss­test doch, wers ist, Emly«, sag­te ich.

»Und du viel­leicht nicht?«

Ich woll­te sie küs­sen, aber sie hielt sich die Hand auf ihre Kir­schen­lip­pen und sag­te, sie sei kein klei­nes Kind mehr, lief ins Haus und lach­te noch viel mehr.

Es schi­en ihr Spaß zu ma­chen, mich zu ne­cken, – eine Ver­än­de­rung, über die ich mich sehr wun­der­te. Der Tee­tisch war ge­deckt, und un­ser klei­ner Kof­fer stand auf dem al­ten Fleck. Aber an­statt sich ne­ben mich zu set­zen, leis­te­te sie der al­ten brum­mi­gen Mrs. Gum­mid­ge Ge­sell­schaft, und als Mr. Peg­got­ty nach dem Grund frag­te, be­deck­te sie sich das Ge­sicht mit den Haa­ren und woll­te nicht auf­hö­ren zu la­chen.

»Eine klei­ne Spiel­kat­ze«, sag­te Mr. Peg­got­ty und tät­schel­te sie mit sei­ner großen Hand.

»Dat is se. Dat is se«, rief Ham, »Masr Davy, woll, dat is se« und er saß da und lach­te sie lan­ge an mit ei­nem brenn­ro­ten Ge­sicht, auf dem sich Be­wun­de­rung und Ent­zücken spie­gel­ten.

Die klei­ne Emly wur­de in je­der Hin­sicht ver­zo­gen und von nie­mand mehr als von Mr. Peg­got­ty, dem sie al­les ab­schmei­cheln konn­te, wenn sie nur zu ihm ging und ihre Wan­gen an sei­nen strup­pi­gen See­manns­bart leg­te. So schi­en es mir we­nigs­tens, als ich es sah, und ich gab Mr. Peg­got­ty voll­kom­men recht. Sie war so zärt­lich und her­zig und da­bei so neckisch und schüch­tern zu­gleich, dass sie mich mehr ge­fan­gen nahm als je.

Sie war auch sehr weich­her­zig, denn als wir nach dem Tee um den Ofen sa­ßen und Mr. Peg­got­ty eine An­deu­tung über den Ver­lust, den ich er­lit­ten hat­te, fal­len ließ, tra­ten ihr die Trä­nen in die Au­gen, und sie sah mich über den Tisch hin­über so freund­lich an, dass ich ihr sehr dank­bar war.

»Ja«, sag­te Mr. Peg­got­ty, in­dem er ihre Lo­cken wie Was­ser durch sei­ne Fin­ger lau­fen ließ. »Hier ist auch eine Wai­se, Sir, und hier«, und er klopf­te Ham mit dem Han­drücken auf die Brust, »hier s noch ei­ner, wenn mans ihm auch noch an­merkt.«

»Wenn ich Sie zum Vor­mund hät­te, Mr. Peg­got­ty«, sag­te ich, »würd ichs wohl auch nicht sehr füh­len.«

»Schoin seggt, Masr Davy, woll«, schrie Ham ent­zückt, »hur­ra. Schoin seggt, Masr Davy, woll, hört, hört.« Er gab den Schlag mit dem Han­drücken zu­rück und die klei­ne Emly stand auf und küss­te Mr. Peg­got­ty.

»Und was macht Ihr Freund, Sir?« frag­te mich Mr. Peg­got­ty.

»Steer­forth?«

»Woll, woll«, rief Mr. Peg­got­ty und wand­te sich zu Ham. »Ich wuss­te, sien Nam hett mit un­serm Be­ruf zu tun.«

»Du hest Rud­der­ford seggt«, be­merk­te Ham la­chend.

»Ja­woll«, ant­wor­te­te Mr. Peg­got­ty, »un du ›stür­st‹ mit en Rud­der, noch? Dat s noch veel an­ners. Wie gehts ihm, Sir?«

»Als ich fort­ging, sehr gut, Mr. Peg­got­ty.«

»Dat s n Freund«, sag­te Mr. Peg­got­ty und reck­te sei­nen Arm mit der Pfei­fe in die Höhe. »Dat s n Freund, wenn Sie von Freun­den spre­chen! Gott soll mich nicht le­ben las­sen, wenns nicht ne Freu­de ist, den an­zu­se­hen.«

»Er ist sehr hübsch, nicht wahr?« sag­te ich und mein Herz schlug hö­her bei dem Lobe.

»Hübsch!« rief Mr. Peg­got­ty. »Er steht vor ei­nem, wie – wie ein – na, wie soll ich nur sa­gen, wie er vor ei­nem steht? Er ist so keck.«

»Ja, so ist auch sein gan­zer Cha­rak­ter«, sag­te ich, »er ist mu­tig wie ein Löwe, und Sie kön­nen sich gar nicht vor­stel­len, Mr. Peg­got­ty, wie frei­mü­tig er ist.«

»Und ich ver­mu­te«, sag­te Mr. Peg­got­ty und sah mich durch den Rauch sei­ner Pfei­fe hin­durch an, »dass er in der Buch­ge­lehr­sam­keit hö­her im Wind liegt als alle an­de­ren.«

»Ja«, sag­te ich freu­dig, »er weiß al­les. Er ist er­staun­lich ge­scheit.«

»Dat s n Freund«, mur­mel­te Mr. Peg­got­ty mit erns­tem Wie­gen des Kop­fes.

»Al­les geht ihm spie­lend von der Hand«, sag­te ich. »Er kann sei­ne Auf­ga­be, wenn er nur auch nur einen Blick drauf wirft. Er ist der bes­te Kricket­ter den ich ken­ne. Beim Da­men­brett gibt er Ih­nen so viel Stei­ne vor, wie Sie wol­len, und schlägt Sie mü­he­los.«

Mr. Peg­got­ty nick­te wie­der mit dem Kopf, als woll­te er sa­gen: »Selbst­ver­ständ­lich!«

»Und ein Red­ner ist er«, fuhr ich fort, »dass er je­den über­zeu­gen kann, Sir. Und gar erst ihn sin­gen zu hö­ren!«

Mr. Peg­got­ty nick­te wie­der mit dem Kopf, als woll­te er sa­gen: »Ich zweifle kei­nen Au­gen­blick dar­an.«

»Und dann ist er ein so präch­ti­ger, fei­ner, no­b­ler Bur­sche«, sag­te ich, ganz hin­ge­ris­sen von mei­nem Lieb­lings­the­ma, »dass es kaum mög­lich ist, ihn so zu lo­ben, wie er es ver­dient. Ich kann ihm nie ge­nug dank­bar sein für die Hoch­her­zig­keit, mit der er mich, der ich viel jün­ger bin und in der Schu­le weit un­ter ihm saß, be­schütz­te.«

Mit­ten in mei­nem Ei­fer fie­len mei­ne Au­gen auf die klei­ne Emly, die mit an­ge­hal­te­nem Atem über den Tisch ge­beugt da­saß und mit größ­ter Auf­merk­sam­keit zu­hör­te. Ihre blau­en Au­gen glänz­ten wie Edel­stei­ne und das Blut stieg ihr in die Wan­gen. Sie sah so wun­der­bar ernst und hübsch aus, dass ich er­staunt ab­brach, und alle schau­ten sie dar­auf­hin an und lach­ten.

»Emly gehts wie mir«, sag­te Peg­got­ty. »Sie möch­te ihn se­hen.«

Emly war ganz ver­le­gen ge­wor­den, weil wir sie alle an­sa­hen, er­rö­te­te noch mehr und schlug die Au­gen nie­der. Als sie wie­der auf­sah und be­merk­te, dass wir noch im­mer kei­nen Blick von ihr wen­den konn­ten, wur­de sie ganz ver­wirrt, lief fort und blieb weg, bis es fast Schla­fens­zeit war.

Ich leg­te mich in das alte klei­ne Bett im Hin­ters­te­ven des Boo­tes, und der Wind strich kla­gend über die Dü­nen wie einst­mals. Ich konn­te mir nicht hel­fen, es schi­en mir, als kla­ge er um die, die da­hin­ge­gan­gen. Ich muss­te an die Wel­len des Schick­sals den­ken, die, seit­dem ich die­ses Heu­len zu­letzt ver­nom­men, mein glück­li­ches Heim weg­ge­spült hat­ten. Kein Ge­dan­ke kam mir mehr wie da­mals, dass der Ozean drau­ßen über sei­ne Ufer tre­ten könn­te und un­ser Boot fort­schwem­men. Ich er­in­ne­re mich noch, wie Wind und Wo­gen all­mäh­lich schwä­cher in mei­nen Ohren klan­gen, als ich mei­nem Abend­ge­bet den Satz hin­zu­füg­te: Gott möch­te mich groß wer­den las­sen, da­mit ich die klei­ne Emly hei­ra­ten kön­ne. Dann sank ich ver­liebt in Schlum­mer.

Die Tage ver­gin­gen so schnell wie frü­her, doch nur sel­ten mehr konn­te ich mit der klei­nen Emly am Stran­de spa­zie­ren ge­hen. Sie muss­te Auf­ga­ben ler­nen und nä­hen und konn­te einen großen Teil des Ta­ges nicht zu Hau­se sein. Aber auch oh­ne­dies wä­ren die­se al­ten Wan­de­run­gen nicht mehr so wie frü­her ge­we­sen. So wild und voll kin­di­scher Lau­nen Emly war, so war sie doch schon viel mehr Jung­frau, als ich glaub­te. Sie schi­en in mehr als ei­nem Jahr viel äl­ter als ich ge­wor­den zu sein. Sie hat­te mich gern, aber lach­te mich aus und quäl­te mich, nahm einen an­de­ren Weg, wenn ich sie ab­ho­len ging, und emp­fing mich la­chend an der Tür, wenn ich dann ver­stimmt heim­kam. Mei­ne bes­ten Zei­ten wa­ren, wenn sie vor der Tür still­sit­zen muss­te und ar­bei­te­te, wäh­rend ich ihr auf der Schwel­le vor­las.

Es kommt mir jetzt so vor, als ob ich nie­mals wie­der so viel Son­nen­schein er­lebt hät­te, wie an je­nen schö­nen April­nach­mit­tagen, nie­mals mehr eine so son­ni­ge klei­ne Ge­stalt ge­se­hen, als da­mals an der Tür des al­ten Schif­fes, nie­mals mehr einen sol­chen Him­mel, sol­ches Was­ser, und so herr­li­che Schif­fe in die gol­dig flim­mern­de Luft hin­aus­se­geln.

Schon am ers­ten Abend nach un­se­rer An­kunft er­schi­en Mr. Bar­kis mit ei­nem sehr ein­fäl­ti­gen Ge­sicht und sehr lin­ki­scher Hal­tung und mit ei­ner An­zahl Oran­gen in ei­nem Schnupf­tuch. Da er nichts über die­ses Bün­del fal­len ge­las­sen, glaub­ten wir, er habe es wahr­schein­lich ver­ges­sen, als er weg­ging, bis Ham, der ihm nach­eil­te, mit der Nach­richt zu­rück­kam, es sei für Peg­got­ty be­stimmt. Von je­nem Tag an er­schi­en Bar­kis pünkt­lich um die­sel­be Stun­de je­den Abend und im­mer mit ei­nem klei­nen Bün­del, von dem er nie sprach, und das er re­gel­mä­ßig hin­ter die Tür stell­te und dort lie­gen ließ.

Die­se Lie­bes­ga­ben wa­ren der ver­schie­dens­ten und ex­zen­trischs­ten Art. Ein­mal ein paar Schweins­fü­ße, dann ein un­ge­heu­res Na­del­kis­sen, ein hal­ber Ei­mer Äp­fel, ein Paar Je­tohr­rin­ge, ein Bün­del spa­ni­sche Zwie­beln, ein Do­mi­no­spiel, ein Ka­na­ri­en­vo­gel samt Kä­fig oder eine gepö­kel­te Schweins­keu­le.

Auch sei­ne Lie­bes­wer­bung war ganz ei­gen­tüm­li­cher Art. Er sprach sel­ten ein Wort und konn­te stun­den­lang in der­sel­ben Stel­lung wie im Wa­gen beim Feu­er sit­zen und Peg­got­ty anglot­zen.

Ei­nes Abends mach­te er, wahr­schein­lich von Lie­be be­geis­tert, einen Vor­stoß auf das Wachs­licht, mit dem sie im­mer ih­ren Fa­den wichs­te, steck­te es in die Wes­ten­ta­sche und nahm es mit. Von da an be­rei­te­te es ihm ein Haupt­ver­gnü­gen, den Stumpf, wenn er ge­braucht wur­de, aus der Ta­sche zu ho­len, was nicht ganz leicht war, da er, un­ter­des­sen halb ge­schmol­zen, re­gel­mä­ßig am Ta­schen­fut­ter fest­kleb­te.

Er schi­en sich bei uns sehr wohl zu füh­len, aber durch­aus nicht ver­an­lasst zu se­hen, ir­gen­det­was zu spre­chen. Selbst wenn er Peg­got­ty auf der Ebe­ne spa­zie­ren­führ­te, mach­te er sich kei­ne Sor­gen dar­über. Er frag­te sie nur zu­wei­len, ob sie sich »be­hag­lich füh­le«, und Peg­got­ty hielt sich dann, wenn er fort­ge­gan­gen, die Schür­ze vors Ge­sicht und konn­te hal­be Stun­den lang la­chen. Auch wir freu­ten uns alle mehr oder we­ni­ger, aus­ge­nom­men höchs­tens die un­glück­li­che Mrs. Gum­mid­ge, de­ren Braut­stand von ganz ähn­li­cher Art ge­we­sen sein muss­te, da sie sich im­mer an den »Al­ten« er­in­ner­te.

Als mei­ne Be­suchs­zeit ih­rem Ende ent­ge­gen­ging, hieß es ei­nes Ta­ges, dass Peg­got­ty und Mr. Bar­kis einen Fest­aus­flug ma­chen woll­ten und Emly und ich sie be­glei­ten soll­ten. In Er­war­tung des großen Ver­gnü­gens, Emly einen gan­zen Tag für mich zu ha­ben, konn­te ich die Nacht vor­her schon kaum schla­fen. In al­ler Frü­he wa­ren wir auf den Bei­nen, und wäh­rend wir noch beim Früh­stück sa­ßen, wur­de Mr. Bar­kis in der Fer­ne sicht­bar, eine Kut­sche auf den Ge­gen­stand sei­ner Nei­gung zu­len­kend.

Peg­got­ty trug wie ge­wöhn­lich ihre sau­ber stil­le Trau­er­klei­dung, aber Mr. Bar­kis strahl­te in ei­nem neu­en blau­en Rock, den der Schnei­der so reich­lich an­ge­mes­sen, dass die Är­mel im käl­tes­ten Win­ter Hand­schu­he über­flüs­sig ge­macht hät­ten, wäh­rend der Kra­gen so hoch war, dass Bar­kis Haa­re auf dem Hin­ter­kopf weg­stan­den. Die blan­ken Knöp­fe wa­ren von der größ­ten Gat­tung. Aus­ge­stat­tet mit hel­len Bein­klei­dern und ei­ner gel­ben Wes­te schi­en mir Mr. Bar­kis ein Wun­der von Vor­nehm­heit zu sein.

Als wir alle rei­se­fer­tig vor der Tür stan­den, be­merk­te ich, dass Mr. Peg­got­ty mit ei­nem al­ten Schuh be­waff­net war, der als Glücks­zei­chen hin­ter uns her­ge­wor­fen wer­den soll­te, und dass Mr. Peg­got­ty ihn Mrs. Gum­mid­ge zu die­sem Zweck hin­hielt.

»Nein, lie­ber soll es je­mand an­ders tun, Da­niel«, wehr­te Mrs. Gum­mid­ge ab. »Ich bin ein ein­sa­mes, ver­las­se­nes Ge­schöpf, und al­les, was mich ans Ge­gen­teil er­in­nert, geht mich der Que­re.«

»Komm, Alte«, rief Mr. Peg­got­ty, »nimms nur und wirf ihn.«

»Nein, Da­niel«, wehr­te Mrs. Gum­mid­ge ab und schüt­tel­te trä­nen­den Au­ges das Haupt. »Wenn ich we­ni­ger fühl­te, könn­te ich mehr tun. Du fühlst nicht wie ich, Da­niel. Die Sa­chen ge­hen dich nicht der Que­re und du ih­nen nicht, s ist bes­ser, du tusts sel­ber.«

Aber hier rief Peg­got­ty, die in großer Eil­fer­tig­keit von ei­nem zum an­de­ren ge­gan­gen war und alle ge­küsst hat­te, aus dem Wa­gen her­aus, dass Mrs. Gum­mid­ge es un­be­dingt tun müss­te. So tat es denn Mrs. Gum­mid­ge und warf auch lei­der zu­gleich einen trau­ri­gen Schat­ten auf den fest­li­chen Cha­rak­ter un­se­res Aus­flugs, in­dem sie in Trä­nen aus­brach und ganz ge­bro­chen Ham mit den Wor­ten in die Arme sank, dass sie al­ler Welt eine Last sei und am bes­ten auf der Stel­le ins Ar­men­haus gin­ge. Scha­de nur, dass Ham es nicht zur Aus­füh­rung brach­te.

Nun ging es wei­ter auf un­serm Fest­pfad und das ers­te, was wir ta­ten, war, dass wir vor ei­ner Kir­che an­hiel­ten, wo Mr. Bar­kis das Pferd an ein Git­ter band und mit Peg­got­ty hin­ein­ging, wäh­rend Emly und ich al­lein zu­rück­b­lie­ben. Ich be­nutz­te die­se Ge­le­gen­heit, mei­nen Arm um Em­lys Tail­le zu le­gen und ihr vor­zu­schla­gen, da ich ja bald fort müs­se, woll­ten wir uns recht gut sein und uns den gan­zen Tag so glück­lich wie mög­lich ge­stal­ten. Da die klei­ne Emly zu­stimm­te und mir er­laub­te, sie zu küs­sen, kam ich ganz aus der Fas­sung. Ich sag­te ihr, ich könn­te nie eine an­de­re lie­ben und wäre be­reit, je­den um­zu­brin­gen, der sich um sie zu be­wer­ben wag­te.

Wie sich die klei­ne lus­ti­ge Emly dar­über lus­tig mach­te! Mit ei­ner Mie­ne, als sei sie un­end­lich viel ge­schei­ter und äl­ter als ich! Sie sag­te, die klei­ne Hexe, ich sei ein kin­di­scher Jun­ge, und lach­te dann so ent­zückend, dass ich den Schmerz über die de­mü­ti­gen­de Be­nen­nung über der blo­ßen Freu­de, sie an­se­hen zu dür­fen, ver­gaß.

Mr. Bar­kis und Peg­got­ty blie­ben ziem­lich lang in der Kir­che, ka­men aber end­lich wie­der her­aus. Dann fuh­ren wir hin­aus aufs Land. Un­ter­wegs wen­de­te sich Mr. Bar­kis nach mir um und sag­te, in­dem er lis­tig ein Auge zu­kniff:

»Was fürn Na­men hab ich in den Wa­gen ge­schrie­ben?«

»Kla­ra Peg­got­ty«, ant­wor­te­te ich.

»Was fürn Na­men müsst ich jetzt an­schrei­ben, wenn ein Dach da wäre?«

»Nicht wie­der Kla­ra Peg­got­ty?« frag­te ich.

»Kla­ra Peg­got­ty-Bar­kis!« er­wi­der­te er und brach in ein Ge­läch­ter aus, dass die gan­ze Chai­se wa­ckel­te.

Kurz, sie wa­ren ver­hei­ra­tet und wa­ren zu kei­nem an­de­ren Zweck in die Kir­che ge­gan­gen. Peg­got­ty hat­te ge­wünscht, dass es in al­ler Stil­le ge­schä­he, und hat­te kei­ne Zeu­gen zu der Fei­er­lich­keit ein­ge­la­den. Sie wur­de et­was ver­le­gen, als Mr. Bar­kis mit die­ser Mit­tei­lung her­aus­platz­te, und konn­te mich nicht ge­nug um­ar­men, um mir ihre un­ver­än­der­te Lie­be zu zei­gen. Bald be­ru­hig­te sie sich wie­der und sag­te, sie sei froh, dass al­les vor­bei wäre.

Wir hiel­ten dann an ei­nem klei­nen Wirts­haus, wo wir er­war­tet wur­den und ein sehr gu­tes Mit­ta­ges­sen ein­nah­men und den Tag sehr an­ge­nehm zu­brach­ten. Wenn Peg­got­ty täg­lich ein­mal in den letz­ten zehn Jah­ren ge­hei­ra­tet ha­ben wür­de, hät­te sie nicht un­be­fan­ge­ner sein kön­nen. Sie war ganz wie sonst und mach­te mit der klei­nen Emly und mir vor dem Tee einen klei­nen Spa­zier­gang, wäh­rend Mr. Bar­kis phi­lo­so­phisch sei­ne Pfei­fe rauch­te, of­fen­bar da­mit be­schäf­tigt, sich sein künf­ti­ges Glück aus­zu­ma­len. Das schi­en sei­nen Ap­pe­tit an­zu­re­gen, denn ich er­in­ne­re mich ge­nau, dass er zum Tee noch eine ziem­li­che Men­ge kal­ten Schin­ken zu sich nahm, trotz­dem er schon zu Mit­tag ziem­lich viel Schwei­ne­bra­ten und Ge­mü­se ge­ges­sen und dann mit ein oder zwei jun­gen Hüh­nern noch nach­ge­hol­fen hat­te.

Ich habe seit­dem oft dar­an den­ken müs­sen, was für eine selt­sa­me un­schul­di­ge und un­ge­bräuch­li­che Hoch­zeit das da­mals war.

Bald nach Dun­kel­wer­den stie­gen wir wie­der in den Wa­gen und fuh­ren ge­müt­lich zu­rück und be­trach­te­ten die Ster­ne und spra­chen über sie. Ich führ­te haupt­säch­lich die Kon­ver­sa­ti­on und klär­te Mr. Bar­kis’ Geist in ganz er­staun­li­cher­wei­se auf. Er hät­te wahr­schein­lich al­les ge­glaubt, was ihm zu er­zäh­len mir ein­ge­fal­len wäre, denn er emp­fand die größ­te Hochach­tung vor mei­ner Ge­scheit­heit und sag­te sei­ner Frau, ich sei der reins­te »Roes­hus«. Da­mit mein­te er ein Wun­der­kind.

Als wir das The­ma Ster­ne er­schöpft hat­ten, oder bes­ser ge­sagt, als ich die geis­ti­gen Fä­hig­kei­ten Mr. Bar­kis’ er­schöpft hat­te, nah­men die klei­ne Emly und ich ein al­tes Um­schlag­tuch als ge­mein­sa­men Man­tel um und blie­ben so wäh­rend der gan­zen Rück­fahrt sit­zen. Ach, wie sehr ich sie lieb­te! Wel­che Se­lig­keit, dach­te ich, wenn wir ver­hei­ra­tet wä­ren und hin­aus in die wei­te Welt ge­hen könn­ten, um un­ter den Bäu­men und in den Fel­dern zu le­ben, – wenn wir nie­mals äl­ter und klü­ger zu wer­den brauch­ten, im­mer Kin­der Hand in Hand im Son­nen­schein über blu­mi­ge Wie­sen wan­deln und abends im Schlum­mer der Un­schuld und des Frie­dens das Haupt aufs wei­che Moos le­gen dürf­ten; wel­che Se­lig­keit, der­einst von den Vö­geln des Him­mels be­gra­ben zu wer­den, wenn wir stür­ben. Sol­che Traum­bil­der, licht­strah­lend wie un­se­re Un­schuld, un­er­reich­bar wie die Ster­ne über un­sern Häup­tern, gau­kel­te mir mein Geist vor den gan­zen Weg. Es freut mich, dass zwei so un­schuld­vol­le Her­zen wie Emly und ich Peg­got­tys Hoch­zeit ver­schön­ten.

Wir ka­men noch bei­zei­ten zu dem al­ten Boot; dort nah­men Mr. und Mrs. Bar­kis Ab­schied von uns und fuh­ren ge­mäch­lich nach Hau­se in ihr eig­nes Heim. Da fühl­te ich das ers­te Mal, dass ich Peg­got­ty ver­lo­ren hat­te. Un­ter je­dem an­de­ren Da­che als hier, wo ich die klei­ne Emly bei mir wuss­te, wäre ich mit blu­ten­dem Her­zen zu Bett ge­gan­gen.

Mr. Peg­got­ty und Ham sa­hen mir an, wor­un­ter ich litt, hiel­ten ein Abendes­sen be­reit und setz­ten ihre gast­lichs­ten Ge­sich­ter auf, um mir mei­ne trau­ri­gen Ge­dan­ken zu ver­trei­ben. Die klei­ne Emly saß ne­ben mir auf dem Kof­fer – das ers­te Mal, seit ich hier weil­te, und es war ein wun­der­vol­ler Schluss für einen herr­li­chen Tag.

Die­se Nacht war Flut. Und bald, nach­dem wir uns schla­fen ge­legt, fuh­ren Mr. Peg­got­ty und Ham zum Fi­schen aus. Ich fühl­te mich sehr ge­schmei­chelt, in dem ein­sa­men Haus als Be­schüt­zer Em­lys und Mrs. Gum­mid­ges zu­rück­ge­las­sen zu sein, und wünsch­te mir nur, dass ein Löwe oder eine Schlan­ge oder ein an­de­res bös­ar­ti­ges Un­ge­heu­er uns über­fal­len möch­te, da­mit ich es ver­nich­ten und mich mit Ruhm be­de­cken könn­te. Aber da nichts die­ser Art auf den Dü­nen von Yar­mouth her­um­streif­te, ließ ich mir, um die­sem Man­gel ab­zu­hel­fen, bis zum Mor­gen von Dra­chen träu­men.

Am Mor­gen kam Peg­got­ty und rief mich wie ge­wöhn­lich ans Fens­ter, als ob Mr. Bar­kis, der Fuhr­mann, von An­be­ginn an nur ein Traum ge­we­sen wäre. Nach dem Früh­stück nahm sie mich mit sich nach Hau­se. Sie be­wohn­ten ein wun­der­schö­nes klei­nes Heim. Von al­len Mö­beln dar­in mach­te mir ein al­ter Schreib­tisch aus dunklem Holz im Empfangs­zim­mer, des­sen De­ckel auf­ge­schla­gen ein Pult bil­de­te, wor­auf eine große Quart­aus­ga­be von Fox’ »Buch der Mär­ty­rer« lag, den tiefs­ten Ein­druck. Als Wohn­stu­be diente eine mit Zie­gel­stei­nen ge­pflas­ter­te Kü­che. Das kost­ba­re Buch, von dem ich kei­ne Sil­be mehr weiß, ent­deck­te und stu­dier­te ich so­gleich; nie wie­der spä­ter be­such­te ich das Haus, ohne auf das Pult zu klet­tern und es zu ver­schlin­gen. Am meis­ten er­bau­ten mich die vie­len Bil­der, die alle Ar­ten von Mar­tern dar­stell­ten; die Mär­ty­rer und Peg­got­tys Haus sind seit­dem in mei­ner See­le un­zer­trenn­lich mit­ein­an­der ver­knüpft.

Ich nahm an die­sem Tage von Mr. Peg­got­ty und Ham und der klei­nen Emly Ab­schied und schlief in der Nacht bei Peg­got­ty in ei­nem Dach­stüb­chen, – das Kro­ko­dil­buch lag in ei­nem Fach zu­haup­ten des Bet­tes – das im­mer mein Zim­mer sein und im­mer für mich her­ge­rich­tet blei­ben soll­te.

»So­lan­ge ich lebe, lie­ber Davy, und un­ter die­sem Da­che woh­ne«, sag­te Peg­got­ty, »sollst du die­ses Zim­mer vor­fin­den, als ob ich dich jede Mi­nu­te er­war­te­te. Ich will es je­den Tag be­reit hal­ten, wie dein frü­he­res al­tes klei­nes Zim­mer, und wenn du selbst nach Chi­na gingst, soll es die gan­ze Zeit, wo du ab­we­send bist, auf dich war­ten.«

Ich fühl­te von gan­zem Her­zen die Wahr­heit aus die­sen Wor­ten mei­ner lie­ben al­ten Kinds­frau her­aus und dank­te ihr, so gut ich ver­moch­te. Es fiel nicht sehr über­schweng­lich aus, denn sie gab mir ihre Ver­si­che­rung, die Hän­de um mei­nen Hals ge­legt, erst an dem Mor­gen, als ich mit ihr und Mr. Bar­kis nach Hau­se fuhr. Sie ver­ließ mich am Gar­ten­tor in Blun­der­sto­ne.

Es war ein be­drücken­der An­blick für mich, den Wa­gen mit Peg­got­ty fort­fah­ren zu se­hen, wäh­rend ich un­ter den al­ten Ul­men vor dem Hau­se stand, in dem kein Blick von Lie­be oder Zu­nei­gung mehr auf mir ru­hen soll­te.

Von die­sem Zeit­punkt an ver­fiel ich in einen Zu­stand des Ver­las­sen­seins, auf den ich ohne Er­grif­fen­heit nicht zu­rück­bli­cken kann. Gänz­lich ver­nach­läs­sigt, ohne Ge­sell­schaft von Kna­ben mei­nes Al­ters, war ich ohne jede Auf­ga­be, al­lein ge­las­sen mit mei­nen eig­nen trü­ben Ge­dan­ken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schrei­be, ih­ren Schat­ten auf das Pa­pier zu wer­fen schei­nen.

Was wür­de ich dar­um ge­ge­ben ha­ben, wenn man mich wie­der in eine Schu­le ge­schickt hät­te – und wäre sie noch so streng ge­we­sen –, mich auch nur das Ge­rings­te ge­lehrt hät­te. Kei­ne Hoff­nung lag vor mir. Man konn­te mich nicht lei­den, sah hart­nä­ckig und mür­risch an mir vor­bei. Ich glau­be, Mr. Murd­sto­ne be­saß da­mals we­nig Mit­tel, aber das tut we­nig zur Sa­che. Er konn­te mich nicht aus­ste­hen, und ich glau­be, er woll­te mei­ne An­sprü­che an ihn ver­ges­sen, in­dem er mich ver­nach­läs­sig­te.

Ich wur­de nicht tät­lich miss­han­delt. Man schlug mich nicht und ta­del­te mich nicht. Aber das Un­recht, das ich litt, war ohne Un­ter­bre­chung und wur­de mir in sys­te­ma­ti­scher lei­den­schafts­lo­ser Wei­se zu­ge­fügt. Tag um Tag, Wo­che um Wo­che, Mo­nat um Mo­nat wur­de ich kalt ver­nach­läs­sigt. Was sie wohl mit mir an­ge­fan­gen hät­ten, wenn ich krank ge­wor­den wäre? Ob mich je­mand ge­pfleg­te hät­te oder ob sie mich in mei­nem ein­sa­men Zim­mer ein­fach hät­ten ver­schmach­ten las­sen!?

Wenn Mr. und Miss Murd­sto­ne zu Hau­se wa­ren, nahm ich mei­ne Mahl­zeit mit ih­nen ein. In ih­rer Ab­we­sen­heit aß und trank ich al­lein. Zu al­len Zei­ten trieb ich mich un­be­ach­tet im Hau­se und in der Nähe her­um. Sie ga­ben nur ei­fer­süch­tig acht, dass ich mit nie­mand Freund­schaft schlös­se, wahr­schein­lich, da­mit ich mich nicht be­kla­gen könn­te.

Wohl aus dem­sel­ben Grun­de war es mir fast nie er­laubt, mit Mr. Chil­lip einen Nach­mit­tag zu ver­le­ben, trotz­dem er mich sehr oft ein­lud. Nur sel­ten durf­te ich ihn be­su­chen. Eben­so sel­ten die ih­nen so ver­hass­te Peg­got­ty. Ihrem Ver­spre­chen ge­treu kam die gute See­le ein­mal in der Wo­che zu mir, oder wir tra­fen uns in der Nähe, und nie kam sie mit lee­ren Hän­den. Aber wie vie­le, vie­le Male täusch­te ich mich bit­ter in der Hoff­nung, Er­laub­nis zu be­kom­men, sie in ih­rer Woh­nung be­su­chen zu dür­fen. Hie und da wur­de es mir ge­stat­tet, und bei ei­ner sol­chen Ge­le­gen­heit brach­te ich her­aus, dass Mr. Bar­kis ei­gent­lich ein Geiz­hals, oder wie sie es nann­te, ein biss­chen knicke­rig war, und viel Geld in ei­nem Kof­fer un­ter sei­nem Bet­te ver­steckt hielt, der an­geb­lich voll Klei­der und Ho­sen sein soll­te. Mit sol­cher Zä­hig­keit ver­barg Bar­kis sei­ne Schät­ze, dass auch die kleins­te Sum­me nur durch List aus ihm her­aus­ge­lockt wer­den konn­te. Peg­got­ty muss­te je­des Mal eine wah­re Pul­ver­ver­schwö­rung an­zet­teln, um sams­tags ihr Haus­hal­tungs­geld zu be­kom­men.

Wäh­rend die­ser lan­gen Zeit fühl­te ich all­mäh­lich jede Hoff­nung schwin­den und emp­fand die voll­stän­di­ge Ver­nach­läs­si­gung so tief, dass ich ohne mei­ne al­ten Bü­cher ganz und gar elend ge­we­sen wäre. Sie bil­de­ten mei­nen ein­zi­gen Trost, und ich war ih­nen so treu, wie sie mir, und ich las sie, ich weiß nicht mehr, wie vie­le Male durch.

Ich kom­me jetzt zu ei­nem Zeit­ab­schnitt mei­nes Le­bens, den ich nie ver­ges­sen kann und des­sen Erin­ne­rung mir oft un­ge­ru­fen wie ein Ge­s­penst er­schie­nen ist und glück­li­che Zei­ten ge­trübt hat.

Ich schlen­der­te wie ge­wöhn­lich ei­nes Tags zweck­los und träu­me­risch wie im­mer um­her, da stieß ich, um eine Ecke bie­gend, un­ver­mu­tet auf Mr. Murd­sto­ne, der sich in Beglei­tung ei­nes Herrn be­fand. Ich woll­te mich ver­le­gen vor­bei­drücken, als der Herr rief: »Hal­lo, Brooks.«

»Nein, Sir, Da­vid Cop­per­field«, sag­te ich.

»Sei still, du bist Brooks von Shef­field«, sag­te der Herr, »das ist dein Name.«

Bei die­sen Wor­ten sah ich mir den Gent­le­man ge­nau­er an und er­kann­te in ihm Mr. Qui­ni­on, der da­mals bei mei­nem und Mr. Murd­sto­nes Be­such in Lo­we­stoft so ge­lacht hat­te.

»Und was machst du und wo gehst du in die Schu­le, Brooks?« frag­te Mr. Qui­ni­on. Er leg­te mir die Hand auf die Schul­ter und zog mich mit. Ich wuss­te nicht, was ich ant­wor­ten soll­te, und blick­te fra­gend auf Mr. Murd­sto­ne.

»Er ist jetzt zu Hau­se«, sag­te Mr. Murd­sto­ne. »Er geht über­haupt nicht in die Schu­le. Ich weiß nicht, was ich mit ihm an­fan­gen soll. Es ist ein schwie­ri­ger Fall.«

Sein al­ter falscher Blick ruh­te eine Wei­le auf mir, dann run­zel­te er die Brau­en und wand­te sich mit Wi­der­wil­len von mir ab.

»Hum«, sag­te Mr. Qui­ni­on und sah uns bei­de an. »Schö­nes Wet­ter.«

Eine Pau­se trat ein, und ich über­leg­te, wie ich mich am bes­ten von ihm los­ma­chen könn­te und mei­nes We­ges ge­hen, als er sag­te:

»Ich glau­be, du bist doch ein ziem­lich flin­ker Bur­sche, was, Brooks?«

»Ja, er ist flink ge­nug«, sag­te Mr. Murd­sto­ne un­ge­dul­dig. »Lass ihn doch ge­hen, er wird dirs nicht Dank wis­sen, dass du ihn fest­hältst.« Auf sei­nen Wink ließ mich Mr. Qui­ni­on los, und ich be­eil­te mich, weg­zu­kom­men. Als ich mich im Gar­ten um­dreh­te, sah ich, dass Mr. Murd­sto­ne, am Kirch­hof ste­hen­ge­blie­ben, mit Mr. Qui­ni­on un­ter­han­del­te. Sie sa­hen mir bei­de nach, und ich merk­te, dass sie von mir spra­chen.

Mr. Qui­ni­on blieb die Nacht über bei uns. Nach dem Früh­stück am nächs­ten Mor­gen woll­te ich eben das Zim­mer ver­las­sen, als mich Mr. Murd­sto­ne zu­rück­rief. Er ging dann fei­er­lich an den Schreib­tisch sei­ner Schwes­ter; Mr. Qui­ni­on schau­te, die Hän­de in den Ta­schen, zum Fens­ter hin­aus, und ich stand da und sah von ei­nem zum an­de­ren.

»Da­vid«, be­gann Mr. Murd­sto­ne, »für die Ju­gend ist dies eine Welt der Tat, aber kei­ne zum Brü­ten und Fau­len­zen.«

»Wie du es machst«, füg­te sei­ne Schwes­ter hin­zu.

»Jane Murd­sto­ne, über­las­se das ge­fäl­ligst mir! – Also ich sage dir, Da­vid, für die Ju­gend ist dies eine Welt der Tat und nicht ein Feld zum Brü­ten und Fau­len­zen, ganz be­son­ders nicht für einen Jun­gen von dei­nem Cha­rak­ter, der der Zucht be­darf und dem man den größ­ten Dienst leis­tet, wenn man ihn zwingt, die Wege der ar­bei­ten­den Welt zu be­tre­ten, um ihn zu du­cken und zu bre­chen.«

»Mit Trotz ist hier nichts aus­zu­rich­ten«, warf sei­ne Schwes­ter da­zwi­schen, »dein Trotz muss ge­bro­chen wer­den. Er soll und muss ge­bro­chen wer­den.« Mr. Murd­sto­ne warf ihr einen halb ab­wei­sen­den, halb bil­li­gen­den Blick zu und fuhr fort:

»Ich glau­be, du weißt, Da­vid, dass ich nicht reich bin. Je­den­falls weißt dus jetzt. Du hast eine be­ach­tens­wer­te Er­zie­hung ge­nos­sen. Er­zie­hung kos­tet Geld. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, wür­de ich es doch für vor­teil­haft hal­ten, dich nicht mehr in die Schu­le zu schi­cken. Was vor dir liegt, ist der Kampf mit der Welt, und je eher du da­mit an­fängst, umso bes­ser!«

Ich glau­be, dass ich ihn in mei­ner eig­nen arm­se­li­gen Art wohl schon lan­ge be­gon­nen hat­te.

»Du hast wohl schon von dem Comp­toir ge­hört?« fuhr Mr. Murd­sto­ne fort.

»Vom Comp­toir, Sir?«

»Von Murd­sto­ne & Grin­bys Wein­hand­lung.«

Ich muss ver­mut­lich ein ver­wirr­tes Ge­sicht ge­macht ha­ben, denn er sag­te un­ge­dul­dig: »Das Comp­toir, das Ge­schäft, der Kel­ler, das La­ger, kurz und gut.«

»Ich glau­be, ich habe da­von ge­hört, Sir, aber ich weiß nicht mehr wann.«

»Das ist schließ­lich gleich­gül­tig«, ant­wor­te­te er. »Mr. Qui­ni­on führt das Ge­schäft.«

Ich blick­te den Gent­le­man, der im­mer noch aus dem Fens­ter schau­te, ehr­er­bie­tig an.

»Mr. Qui­ni­on meint, dass er noch ein paar Jun­gen be­schäf­ti­gen kann und kei­nen Grund sieht, warum er dich nicht auch un­ter den­sel­ben Be­din­gun­gen an­stel­len soll­te.«

»Wenn Brooks schon sonst kei­ne an­de­ren Aus­sich­ten hat, Murd­sto­ne«, ließ Mr. Qui­ni­on halb­laut fal­len und sah sich nach uns um.

Ohne zu be­ach­ten, was er sag­te, fuhr Mr. Murd­sto­ne un­ge­dul­dig, fast är­ger­lich fort:

»Die Be­din­gun­gen sind, dass du so viel ver­dienst, dass du Es­sen, Trin­ken und Ta­schen­geld hast. Dei­ne Woh­nung, die ich dir aus­su­chen wer­de, be­zah­le ich, eben­so dei­ne Wä­sche.«

»Die ich aus­su­chen wer­de«, sag­te Miss Murd­sto­ne.

»Für dei­ne Klei­der wird auch ge­sorgt wer­den, da du für die ers­te Zeit sie dir nicht selbst wirst be­schaf­fen kön­nen. Du gehst also jetzt mit Mr. Qui­ni­on nach Lon­don, Da­vid, um ein Le­ben auf eig­ne Rech­nung zu be­gin­nen.«

»Kurz, du bist ver­sorgt«, be­merk­te Miss Murd­sto­ne »und wirst ge­fäl­ligst dei­ne Pf­licht tun.«

Ich ver­stand ganz gut, dass man mich nur los­wer­den woll­te, weiß aber nicht mehr recht, ob ich mich dar­über freu­te oder trau­rig war. Ich glau­be, ich fühl­te mich so ver­wirrt, dass ich zwi­schen bei­den Emp­fin­dun­gen hin und her schwank­te. Es blieb auch nicht viel Zeit, mir dar­über klar­zu­wer­den, da Mr. Qui­ni­on am nächs­ten Mor­gen ab­rei­sen soll­te.

Ich sehe mich an je­nem Mor­gen in ei­nem al­ten ab­ge­trag­nen wei­ßen Hut mit ei­nem schwar­zen Trau­er­flor, in ei­ner schwar­zen Ja­cke und ein paar har­ten stei­fen Man­che­s­ter­ho­sen, die Miss Murd­sto­ne ver­mut­lich als die bes­te Rüs­tung im Kamp­fe mit der Welt, den ich jetzt be­gin­nen soll­te, aus­ge­sucht hat­te. In die­sem Auf­zug, alle mei­ne Hab­se­lig­kei­ten in ei­nem klei­nen Kof­fer, ganz al­lein, »ein­sam und ver­las­sen«, wie Mrs. Gum­mid­ge ge­sagt hät­te, saß ich auf dem Wa­gen, der Mr. Qui­ni­on zur Lon­do­ner Post nach Yar­mouth brach­te.

Klei­ner und klei­ner wur­den das Haus und die Kir­che in der Fer­ne, das Grab un­ter dem Baum ver­schwand hin­ter den Häu­sern. Dann sehe ich den Kirch­turm nicht über mei­nem al­ten Spiel­platz mehr ra­gen, und der Him­mel ist öde und leer.

David Copperfield

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