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10. Kapitel – Ich werde vernachlässigt, und man – bringt mich unter
ОглавлениеDas erste, was Miss Murdstone am Tag nach dem Begräbnisse tat, war, dass sie Peggotty für den kommenden Monat kündigte. So sehr Peggotty eine solche Stelle missfallen musste, so hätte sie sie doch um meinetwillen jeder anderen auf der Welt vorgezogen.
Was mich betraf und meine Zukunft, fiel kein Wort, und es geschah auch nichts. Sie wären wahrscheinlich froh gewesen, wenn sie mir auch hätten monatlich kündigen können. Ich fasste mir einmal ein Herz und fragte Miss Murdstone, wann ich wieder in die Schule gehen werde, und sie antwortete: »Wahrscheinlich überhaupt nicht mehr.« Weiter erfuhr ich nichts. Ich hätte nur zu gerne gewusst, was man mit mir vorhabe, aber weder Peggotty noch ich konnten das geringste herausbekommen. Meine Lage hatte sich, was die Gegenwart betrifft, zwar viel angenehmer gestaltet, würde mir aber, wenn ich die Folgen hätte gehörig ermessen können, für die Zukunft viel Sorgen gemacht haben. Der mir früher auferlegte Zwang hatte ganz aufgehört. Miss Murdstone zwang mich nicht mehr wie früher, meinen langweiligen Posten in der Wohnstube beizubehalten, und wies mich mehr als einmal mit finsterm Blick aus dem Zimmer. Ich durfte ruhig mit Peggotty verkehren, wenn ich nur nicht Mr. Murdstone vor die Augen kam. Anfangs fürchtete ich, er oder seine Schwester würden mich wieder zu unterrichten anfangen, aber ich fand bald, dass meine Besorgnis unbegründet war und ich weiter nichts als Vernachlässigung zu gewärtigen hatte.
Diese Entdeckung verursachte mir damals nicht viel Schmerz. Noch immer ganz betäubt von dem Tod meiner Mutter war mir alles andere recht gleichgültig. Wohl dachte ich mir zuweilen, ob ich nicht zu einem schäbigen mürrischen Mann, der im Dorfe sein Leben in Nichtstun verlungern würde, heranwachsen müsste, wenn ich so gar keinen Unterricht mehr empfinge. Ich weiß noch, ich habe einmal überlegt, ob ich nicht wie der Held eines Romans davonlaufen sollte, um mein Glück zu machen, aber alles das waren Träume am hellichten Tag, die an der Wand meines Zimmers vorüberschwebten und nur die leere Wand zurückließen.
»Peggotty«, sagte ich, gedankenvoll flüsternd, eines Abends, als ich meine Hände am Herdfeuer wärmte, »Mr. Murdstone hat mich noch weniger gern als früher. Er hat mich nie gern gehabt, Peggotty. Aber jetzt möchte er mich am liebsten gar nicht mehr sehen.«
»Vielleicht hat er Kummer«, sagte Peggotty und strich mir die Haare glatt.
»Ich bin gewiss auch voll Trauer, Peggotty«, erwiderte ich, »wenn es nur sein Gram wäre, würde ich weiter gar nicht darüber nachdenken. Aber das ists nicht, o nein, das ists nicht.«
»Woher weißt du denn das?« fragte Peggotty nach einer Pause.
»O, Kummer ist es nicht; jetzt wo er mit seiner Schwester am Kamin sitzt, hat er wohl Kummer. Aber wenn ich hineinginge, Peggotty, würde er sogleich anders werden.«
»Wie denn?« fragte Peggotty.
»Zornig«, antwortete ich und machte unwillkürlich sein Stirnrunzeln nach. »Wenn es nur Gram wäre, würde er mich doch nicht so ansehen. Ich gräme mich auch, aber das macht mich nur freundlicher gegen andere.«
Peggotty sagte nichts mehr darauf, und ich wärmte meine Hände stumm wie sie.
»Davy«, sagte sie endlich.
»Ja, Peggotty.«
»Ich habe alles mögliche versucht, mein liebes Kind, hier in Blunderstone einen passenden Dienst zu bekommen, aber ich konnte keinen finden.«
»Und was gedenkst du zu tun, Peggotty?« und ich sah sie forschend an, »willst du fortgehen und dein Glück anderwärts versuchen?«
»Ich werde wohl nach Yarmouth gehen müssen«, sagte Peggotty.
»Du hättest noch weiter fortgehen und so gut wie verloren für mich sein können«, sagte ich ein wenig erleichtert. »So kann ich dich manchmal besuchen, meine gute, alte Peggotty! Du bist doch dort nicht am Ende der Welt, nicht wahr?«
»Ganz im Gegenteil, so Gott will«, rief Peggotty mit großer Lebhaftigkeit. »Solang du hier bist, mein Herzblatt, komme ich dich jede Woche besuchen. Jede Woche einmal, solange ich lebe.«
Dies Versprechen nahm mir einen Stein vom Herzen. Aber Peggotty fuhr fort. »Schau mal, Davy, ich gehe zuvorderst einmal auf vierzehn Tage zu meinem Bruder auf Besuch, um mich ein bisschen umzusehen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen; da hab ich mir gedacht, da sie dich hier sowieso nicht brauchen können, lassen sie dich vielleicht mit mir gehen?«
Jedenfalls war dieser Plan das einzige, was mich in meiner damaligen Gemütsstimmung irgendwie aufhellen konnte. Der Gedanke, wieder auf diesen ehrlichen Gesichtern einen Willkommensgruß lesen zu können, wieder den Frieden des stillen Sonntagmorgens zu genießen, wenn die Glocken läuten, die Schiffe Schatten gleich aus dem Nebel brechen, wieder Steine ins Wasser werfen zu können, mit der kleinen Emly herumzustreifen, ihr meine Leiden zu erzählen und ein Zaubermittel dagegen in den Muscheln und Kieseln am Strande zu finden, erfüllte mein Herz mit besänftigender Ruhe. Freilich wurde sie schon im nächsten Augenblick von dem Gedanken zerstört, dass Miss Murdstone schwerlich einwilligen werde. Aber noch während wir sprachen, kam Miss Murdstone plötzlich heraus, um etwas aus der Vorratskammer zu holen, und Peggotty brachte die Angelegenheit mit einer Kühnheit, die mich in Erstaunen versetzte, sogleich zur Sprache.
»Der Junge wird dort herumlungern«, sagte Miss Murdstone und spähte in einen Krug mit Essiggurken, »und Nichtstun ist die Wurzel alles Bösen. Aber freilich hier wird er auch nichts tun – und anderwärts auch nicht.«
Peggotty hatte eine heftige Antwort auf der Zunge; aber sie schluckte sie herunter um meinetwillen und schwieg.
»Hm«, meinte Miss Murdstone dann und spähte immer noch in den Essigkrug. »Es ist wichtiger als alles andere, – es ist sogar von außerordentlicher Wichtigkeit, – dass mein Bruder nicht gestört und belästigt wird. Es ist wohl am besten, ich willige ein.«
Ich bedankte mich bei ihr, ohne meine Freude zu verraten, damit sie nicht etwa ihre Erlaubnis zurückzöge, und mir kam das sehr klug vor, als sie mich jetzt wieder mit einem so sauern Gesicht ansah, als hätte sie mit ihren schwarzen Augen den ganzen Inhalt des Essigkrugs ausgesogen. Die Erlaubnis war gegeben und wurde auch nicht zurückgezogen. Und als der Monat um war, standen Peggotty und ich zur Abfahrt bereit.
Mr. Barkis kam ins Haus, um Peggottys Koffer abzuholen. So viel ich weiß, hatte er noch nie die Schwelle der Gartentür überschritten, aber bei dieser Gelegenheit kam er bis ins Haus. Und als er den größten Koffer auf seine Schultern lud und hinausging, warf er mir einen so vielsagenden Blick zu, wie es sein Gesicht überhaupt vermochte.
Peggotty war natürlich sehr betrübt über ihren Abschied von dem Orte, wo sie so lange Jahre mit meiner Mutter und mir zugebracht hatte. Sie war schon in aller Frühe auf dem Kirchhof gewesen, und als sie im Wagen saß, hielt sie sich das Taschentuch vor die Augen.
Solange sie so blieb, gab Mr. Barkis kein Lebenszeichen von sich. Er saß auf seinem gewohnten Platz und in seiner bekannten Haltung wie eine große, ausgestopfte Puppe. Aber als sie das Taschentuch einsteckte und mit mir zu sprechen anfing, nickte er mehrere Male und grinste. Ich hatte nicht den leisesten Begriff, was er damit sagen wollte.
»’s ist ein schöner Tag, Mr. Barkis«, begann ich aus purer Höflichkeit.
»Nicht schlecht«, meinte Mr. Barkis, der gewöhnlich seine Worte sehr abwog und seine Meinung nie offen heraussagte.
»Peggotty hat sich schon wieder ganz erholt, Mr. Barkis«, bemerkte ich.
»So. Hm«, sagte Mr. Barkis.
Nachdem er mit schlauer Miene nachgedacht hatte, sah er Peggotty an und sagte:
»Ists Ihnen schon hübsch behaglich?«
Peggotty lachte bejahend.
»Aber wirklich und wahrhaftig? Verstehen Sie? Wirklich?« brummte Mr. Barkis und rutschte auf der Bank näher an sie heran und gab ihr einen Stoß mit dem Ellbogen. »Wirklich? Wirklich und wahrhaftig, ganz behaglich? Wirklich? He?« Bei jeder dieser Fragen rutschte Mr. Barkis näher zu ihr und gab ihr jedes Mal einen Stoß mit dem Ellbogen, bis wir zuletzt alle in der linken Ecke des Wagens eingeklemmt saßen und ich kaum mehr atmen konnte.
Peggotty machte ihn darauf aufmerksam, worauf er sogleich etwas Platz machte und nach und nach wieder zurückkehrte. Ich sah ihm an, dass er zu glauben schien, er sei auf ein prächtiges Mittel verfallen, sich ohne viel Worte angenehm, fein und deutlich auszudrücken. Eine Zeit lang lachte er vor sich hin. Dann wandte er sich wieder langsam nach Peggotty um und wiederholte: »Also wirklich behaglich?« und fing das alte Manöver wieder an, bis ich abermals keinen Atem bekam. Nicht lange darauf wiederholte sich dasselbe noch einmal mit denselben Folgen. Dann stand ich immer auf, wenn ich ihn anrücken sah, und tat, als ob ich mir die Gegend ansähe, und kam viel besser dabei weg.
Er war so höflich, nur unsertwegen an einem Wirtshaus anzuhalten und uns mit Hammelbraten und Bier zu bewirten. Aber selbst einmal, als Peggotty gerade trank, bekam er einen seiner alten Anfälle und brachte sie fast zum Ersticken. Je mehr wir uns unserm Reiseziel näherten, desto mehr musste er aufpassen und desto weniger Zeit fand er für Galanterien. Und als wir erst auf dem Pflaster von Yarmouth durcheinandergeschüttelt wurden, bot sich gar keine Gelegenheit mehr.
Mr. Peggotty und Ham erwarteten uns auf dem alten Platze. Sie empfingen mich und Peggotty in herzlicherweise und schüttelten Mr. Barkis die Hand, der mit weit zurückgeschobenem Hut, ein verschämtes Lächeln auf den Zügen und weit ausgespreizten Beinen einen möglichst dummen Eindruck zu erwecken bemüht war. Jeder von den beiden Fischern nahm einen von Peggottys Koffern, und wir wollten eben fortgehen, als mir Mr. Barkis feierlich mit dem Zeigefinger winkte, mit ihm unter einen Torweg zu treten.
»Also«, brummte er dann, »alles in Ordnung.«
Ich sah ihn an und antwortete mit einem Versuch, ein möglichst gescheites Gesicht zu machen: »O! o!«
»Damals wars noch nicht abgemacht«, fuhr er mit vertraulichem Nicken fort. »Alles in Ordnung.«
Wieder antwortete ich: »O!«
»Sie wissen, wer wollte! Er! Barkis! aber nur Barkis!«
Ich nickte zustimmend.
»Alles in Ordnung«, sagte Mr. Barkis wieder und schüttelte mir die Hand. »Wir sind Freunde. Sie habens in Ordnung gebracht. Alles in Ordnung.«
In seinem Bestreben besonders klar zu sein, wurde mir Mr. Barkis immer rätselhafter. Ich hätte ihm eine Stunde ins Gesicht sehen können, ohne von ihm mehr zu erfahren als von dem Zifferblatt einer Uhr, die stillsteht. Endlich rief mich Peggotty weg. Unterwegs fragte sie mich, was er gesagt habe, und ich wiederholte seine Worte: »Alles in Ordnung.«
»Ist das eine Unverschämtheit«, sagte sie, »aber es macht nichts. Lieber Davy, was meinst du wohl, wenn ich mich verheiratete?«
»Nun, du würdest mich doch ebenso lieb haben wie jetzt, Peggotty?« erwiderte ich nach einigem Nachdenken.
Zum größten Erstaunen der Vorübergehenden und der beiden Peggottys vor uns blieb die gute Seele stehen und umarmte mich unter vielen Beteuerungen ihrer unwandelbaren Liebe.
»Sag mir also, was du meinst, Liebling?« fragte sie, als sie damit fertig war und wir unsern Weg fortsetzten.
»Wenn du dich mit Mr. Barkis verheiratest, Peggotty?«
»Ja.«
»Ich glaube, es wäre sehr gut, dann hättest du immer das Pferd und den Wagen umsonst und könntest mich immer besuchen kommen.«
»Was das Kind gescheit ist!« rief Peggotty. »Das hab ich doch auch immer den ganzen Monat lang gedacht. Ja, mein Goldkind, ich wäre viel unabhängiger, siehst du. Und es würde sich mir in meinem eignen Haus viel leichter arbeiten als sonstwo. Ich weiß gar nicht, ob ich mich zum Dienstmädchen bei Fremden jetzt noch eigne, und ich wäre immer in der Nähe der Ruhestätte meines schönen Lieblings«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich könnte sie sehen, wann ich wollte, und wenn ich mich einmal zur Ruhe lege, wärs nicht weit von meinem lieben Mädel.«
Wir schwiegen beide eine Weile.
»Aber ich würde nicht ein einziges Mal wieder dran denken«, sagte Peggotty fröhlich, »wenn mein Davy irgendetwas dagegen hätte, und wenn ich auch dreißigmal dreimal in der Kirche gefragt würde und den Ring mein Lebtag in der Tasche herumtragen müsste.«
»Schau mich an, Peggotty«, erwiderte ich, »und sieh selbst, ob ich mich nicht wirklich von ganzer Seele darüber freue!«
»Liebes Herz«, sagte Peggotty und drückte mich an sich, »ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht und in jeder Weise und ich glaube in der rechten, aber ich will es mir noch einmal überlegen und mit meinem Bruder darüber sprechen und unterdessen wollen wir die Sache für uns behalten, Davy. Barkis ist ein einfacher guter Kerl, und wenn ich meine Pflicht an seiner Seite tue, glaube ich, wäre es meine Schuld, wenn ich nicht – wenn ich mich nicht behaglich befände«, sagte Peggotty und lachte herzlich.
Über diesen Ausspruch von Mr. Barkis mussten wir immer wieder lachen, und wir waren sehr heiterer Laune, als Mr. Peggottys Häuschen in Sicht kam.
Es sah genau so aus wie früher, nur schien es in meinen Augen jetzt ein wenig kleiner zu sein. Mrs. Gummidge wartete in der Tür, als ob sie seit damals immer noch dort stünde. Innen war alles unverändert bis zum Seegras hinab in dem blauen Krug in meinem Schlafzimmer. Ich ging in den Seitenschuppen, um mich ein wenig umzusehen und wieder war ein verworrener Haufen von Hummern, Krabben und Krebsen da, alle von demselben Verlangen, die ganze Welt zu zwicken, beseelt.
Aber keine kleine Emly war zu sehen, und so fragte ich Mr. Peggotty nach ihr.
»Is in der Schule, Sir«, sagte Mr. Peggotty und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann sah er nach der Wanduhr, »kommt all in zwanzig oder dreißig Minuten. Wir vermissen sie alle, ach Gott.«
Mrs. Gummidge seufzte.
»Kopf hoch, Mächen«, mahnte Mr. Peggotty.
»Ach«, sagte Mrs. Gummidge, »ich bin n einsam verlassenes Geschöpf und sie war die einzige, die mich nicht die Quere ging.«
Sie schüttelte tränenden Auges den Kopf und blies das Feuer an. Mr. Peggotty sah uns an, während sie so beschäftigt war, und flüsterte leise hinter seiner Hand hervor: »De Olsch.«
Daraus schloss ich ganz richtig, dass seit meinem letzten Besuch in Mrs. Gummidges Gemütszustand keine wesentliche Veränderung eingetreten sein konnte. Alles war so reizvoll wie früher, aber dennoch machte es einen ganz anderen Eindruck auf mich. Ich fühlte mich fast ein wenig enttäuscht. Vielleicht trug die Abwesenheit der kleinen Emly die Schuld. Da ich wusste, welchen Weg sie kommen musste, ging ich ihr entgegen.
Es dauerte auch nicht lange, da tauchte in der Ferne eine Gestalt auf, und ich erkannte bald Emly, die immer noch ein kleines Geschöpfchen war, trotzdem sie gewachsen schien. Aber als sie näher kam und ich sah, wie ihre blauen Augen noch blauer und ihr Gesicht mit den Grübchen noch heiterer, hübscher und schelmischer geworden, überkam mich ein ganz seltsames Gefühl und ich tat, als ob ich sie nicht kennte, und ging vorbei, als ob ich weit draußen in der Ferne etwas erblickte. Ich habe dergleichen, mir scheint, auch später noch im Leben getan!
Die kleine Emly kümmerte sich gar nicht um mich. Sie sah mich recht gut, anstatt sich aber umzudrehen und mich zu rufen, lief sie lachend fort. Das zwang mich, ihr nachzurennen. Aber sie lief so schnell, dass ich sie erst knapp vor dem Häuschen einholen konnte.
»Ach so, du bists?«
»Aber du wusstest doch, wers ist, Emly«, sagte ich.
»Und du vielleicht nicht?«
Ich wollte sie küssen, aber sie hielt sich die Hand auf ihre Kirschenlippen und sagte, sie sei kein kleines Kind mehr, lief ins Haus und lachte noch viel mehr.
Es schien ihr Spaß zu machen, mich zu necken, – eine Veränderung, über die ich mich sehr wunderte. Der Teetisch war gedeckt, und unser kleiner Koffer stand auf dem alten Fleck. Aber anstatt sich neben mich zu setzen, leistete sie der alten brummigen Mrs. Gummidge Gesellschaft, und als Mr. Peggotty nach dem Grund fragte, bedeckte sie sich das Gesicht mit den Haaren und wollte nicht aufhören zu lachen.
»Eine kleine Spielkatze«, sagte Mr. Peggotty und tätschelte sie mit seiner großen Hand.
»Dat is se. Dat is se«, rief Ham, »Masr Davy, woll, dat is se« und er saß da und lachte sie lange an mit einem brennroten Gesicht, auf dem sich Bewunderung und Entzücken spiegelten.
Die kleine Emly wurde in jeder Hinsicht verzogen und von niemand mehr als von Mr. Peggotty, dem sie alles abschmeicheln konnte, wenn sie nur zu ihm ging und ihre Wangen an seinen struppigen Seemannsbart legte. So schien es mir wenigstens, als ich es sah, und ich gab Mr. Peggotty vollkommen recht. Sie war so zärtlich und herzig und dabei so neckisch und schüchtern zugleich, dass sie mich mehr gefangen nahm als je.
Sie war auch sehr weichherzig, denn als wir nach dem Tee um den Ofen saßen und Mr. Peggotty eine Andeutung über den Verlust, den ich erlitten hatte, fallen ließ, traten ihr die Tränen in die Augen, und sie sah mich über den Tisch hinüber so freundlich an, dass ich ihr sehr dankbar war.
»Ja«, sagte Mr. Peggotty, indem er ihre Locken wie Wasser durch seine Finger laufen ließ. »Hier ist auch eine Waise, Sir, und hier«, und er klopfte Ham mit dem Handrücken auf die Brust, »hier s noch einer, wenn mans ihm auch noch anmerkt.«
»Wenn ich Sie zum Vormund hätte, Mr. Peggotty«, sagte ich, »würd ichs wohl auch nicht sehr fühlen.«
»Schoin seggt, Masr Davy, woll«, schrie Ham entzückt, »hurra. Schoin seggt, Masr Davy, woll, hört, hört.« Er gab den Schlag mit dem Handrücken zurück und die kleine Emly stand auf und küsste Mr. Peggotty.
»Und was macht Ihr Freund, Sir?« fragte mich Mr. Peggotty.
»Steerforth?«
»Woll, woll«, rief Mr. Peggotty und wandte sich zu Ham. »Ich wusste, sien Nam hett mit unserm Beruf zu tun.«
»Du hest Rudderford seggt«, bemerkte Ham lachend.
»Jawoll«, antwortete Mr. Peggotty, »un du ›stürst‹ mit en Rudder, noch? Dat s noch veel anners. Wie gehts ihm, Sir?«
»Als ich fortging, sehr gut, Mr. Peggotty.«
»Dat s n Freund«, sagte Mr. Peggotty und reckte seinen Arm mit der Pfeife in die Höhe. »Dat s n Freund, wenn Sie von Freunden sprechen! Gott soll mich nicht leben lassen, wenns nicht ne Freude ist, den anzusehen.«
»Er ist sehr hübsch, nicht wahr?« sagte ich und mein Herz schlug höher bei dem Lobe.
»Hübsch!« rief Mr. Peggotty. »Er steht vor einem, wie – wie ein – na, wie soll ich nur sagen, wie er vor einem steht? Er ist so keck.«
»Ja, so ist auch sein ganzer Charakter«, sagte ich, »er ist mutig wie ein Löwe, und Sie können sich gar nicht vorstellen, Mr. Peggotty, wie freimütig er ist.«
»Und ich vermute«, sagte Mr. Peggotty und sah mich durch den Rauch seiner Pfeife hindurch an, »dass er in der Buchgelehrsamkeit höher im Wind liegt als alle anderen.«
»Ja«, sagte ich freudig, »er weiß alles. Er ist erstaunlich gescheit.«
»Dat s n Freund«, murmelte Mr. Peggotty mit ernstem Wiegen des Kopfes.
»Alles geht ihm spielend von der Hand«, sagte ich. »Er kann seine Aufgabe, wenn er nur auch nur einen Blick drauf wirft. Er ist der beste Kricketter den ich kenne. Beim Damenbrett gibt er Ihnen so viel Steine vor, wie Sie wollen, und schlägt Sie mühelos.«
Mr. Peggotty nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Selbstverständlich!«
»Und ein Redner ist er«, fuhr ich fort, »dass er jeden überzeugen kann, Sir. Und gar erst ihn singen zu hören!«
Mr. Peggotty nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Ich zweifle keinen Augenblick daran.«
»Und dann ist er ein so prächtiger, feiner, nobler Bursche«, sagte ich, ganz hingerissen von meinem Lieblingsthema, »dass es kaum möglich ist, ihn so zu loben, wie er es verdient. Ich kann ihm nie genug dankbar sein für die Hochherzigkeit, mit der er mich, der ich viel jünger bin und in der Schule weit unter ihm saß, beschützte.«
Mitten in meinem Eifer fielen meine Augen auf die kleine Emly, die mit angehaltenem Atem über den Tisch gebeugt dasaß und mit größter Aufmerksamkeit zuhörte. Ihre blauen Augen glänzten wie Edelsteine und das Blut stieg ihr in die Wangen. Sie sah so wunderbar ernst und hübsch aus, dass ich erstaunt abbrach, und alle schauten sie daraufhin an und lachten.
»Emly gehts wie mir«, sagte Peggotty. »Sie möchte ihn sehen.«
Emly war ganz verlegen geworden, weil wir sie alle ansahen, errötete noch mehr und schlug die Augen nieder. Als sie wieder aufsah und bemerkte, dass wir noch immer keinen Blick von ihr wenden konnten, wurde sie ganz verwirrt, lief fort und blieb weg, bis es fast Schlafenszeit war.
Ich legte mich in das alte kleine Bett im Hintersteven des Bootes, und der Wind strich klagend über die Dünen wie einstmals. Ich konnte mir nicht helfen, es schien mir, als klage er um die, die dahingegangen. Ich musste an die Wellen des Schicksals denken, die, seitdem ich dieses Heulen zuletzt vernommen, mein glückliches Heim weggespült hatten. Kein Gedanke kam mir mehr wie damals, dass der Ozean draußen über seine Ufer treten könnte und unser Boot fortschwemmen. Ich erinnere mich noch, wie Wind und Wogen allmählich schwächer in meinen Ohren klangen, als ich meinem Abendgebet den Satz hinzufügte: Gott möchte mich groß werden lassen, damit ich die kleine Emly heiraten könne. Dann sank ich verliebt in Schlummer.
Die Tage vergingen so schnell wie früher, doch nur selten mehr konnte ich mit der kleinen Emly am Strande spazieren gehen. Sie musste Aufgaben lernen und nähen und konnte einen großen Teil des Tages nicht zu Hause sein. Aber auch ohnedies wären diese alten Wanderungen nicht mehr so wie früher gewesen. So wild und voll kindischer Launen Emly war, so war sie doch schon viel mehr Jungfrau, als ich glaubte. Sie schien in mehr als einem Jahr viel älter als ich geworden zu sein. Sie hatte mich gern, aber lachte mich aus und quälte mich, nahm einen anderen Weg, wenn ich sie abholen ging, und empfing mich lachend an der Tür, wenn ich dann verstimmt heimkam. Meine besten Zeiten waren, wenn sie vor der Tür stillsitzen musste und arbeitete, während ich ihr auf der Schwelle vorlas.
Es kommt mir jetzt so vor, als ob ich niemals wieder so viel Sonnenschein erlebt hätte, wie an jenen schönen Aprilnachmittagen, niemals mehr eine so sonnige kleine Gestalt gesehen, als damals an der Tür des alten Schiffes, niemals mehr einen solchen Himmel, solches Wasser, und so herrliche Schiffe in die goldig flimmernde Luft hinaussegeln.
Schon am ersten Abend nach unserer Ankunft erschien Mr. Barkis mit einem sehr einfältigen Gesicht und sehr linkischer Haltung und mit einer Anzahl Orangen in einem Schnupftuch. Da er nichts über dieses Bündel fallen gelassen, glaubten wir, er habe es wahrscheinlich vergessen, als er wegging, bis Ham, der ihm nacheilte, mit der Nachricht zurückkam, es sei für Peggotty bestimmt. Von jenem Tag an erschien Barkis pünktlich um dieselbe Stunde jeden Abend und immer mit einem kleinen Bündel, von dem er nie sprach, und das er regelmäßig hinter die Tür stellte und dort liegen ließ.
Diese Liebesgaben waren der verschiedensten und exzentrischsten Art. Einmal ein paar Schweinsfüße, dann ein ungeheures Nadelkissen, ein halber Eimer Äpfel, ein Paar Jetohrringe, ein Bündel spanische Zwiebeln, ein Dominospiel, ein Kanarienvogel samt Käfig oder eine gepökelte Schweinskeule.
Auch seine Liebeswerbung war ganz eigentümlicher Art. Er sprach selten ein Wort und konnte stundenlang in derselben Stellung wie im Wagen beim Feuer sitzen und Peggotty anglotzen.
Eines Abends machte er, wahrscheinlich von Liebe begeistert, einen Vorstoß auf das Wachslicht, mit dem sie immer ihren Faden wichste, steckte es in die Westentasche und nahm es mit. Von da an bereitete es ihm ein Hauptvergnügen, den Stumpf, wenn er gebraucht wurde, aus der Tasche zu holen, was nicht ganz leicht war, da er, unterdessen halb geschmolzen, regelmäßig am Taschenfutter festklebte.
Er schien sich bei uns sehr wohl zu fühlen, aber durchaus nicht veranlasst zu sehen, irgendetwas zu sprechen. Selbst wenn er Peggotty auf der Ebene spazierenführte, machte er sich keine Sorgen darüber. Er fragte sie nur zuweilen, ob sie sich »behaglich fühle«, und Peggotty hielt sich dann, wenn er fortgegangen, die Schürze vors Gesicht und konnte halbe Stunden lang lachen. Auch wir freuten uns alle mehr oder weniger, ausgenommen höchstens die unglückliche Mrs. Gummidge, deren Brautstand von ganz ähnlicher Art gewesen sein musste, da sie sich immer an den »Alten« erinnerte.
Als meine Besuchszeit ihrem Ende entgegenging, hieß es eines Tages, dass Peggotty und Mr. Barkis einen Festausflug machen wollten und Emly und ich sie begleiten sollten. In Erwartung des großen Vergnügens, Emly einen ganzen Tag für mich zu haben, konnte ich die Nacht vorher schon kaum schlafen. In aller Frühe waren wir auf den Beinen, und während wir noch beim Frühstück saßen, wurde Mr. Barkis in der Ferne sichtbar, eine Kutsche auf den Gegenstand seiner Neigung zulenkend.
Peggotty trug wie gewöhnlich ihre sauber stille Trauerkleidung, aber Mr. Barkis strahlte in einem neuen blauen Rock, den der Schneider so reichlich angemessen, dass die Ärmel im kältesten Winter Handschuhe überflüssig gemacht hätten, während der Kragen so hoch war, dass Barkis Haare auf dem Hinterkopf wegstanden. Die blanken Knöpfe waren von der größten Gattung. Ausgestattet mit hellen Beinkleidern und einer gelben Weste schien mir Mr. Barkis ein Wunder von Vornehmheit zu sein.
Als wir alle reisefertig vor der Tür standen, bemerkte ich, dass Mr. Peggotty mit einem alten Schuh bewaffnet war, der als Glückszeichen hinter uns hergeworfen werden sollte, und dass Mr. Peggotty ihn Mrs. Gummidge zu diesem Zweck hinhielt.
»Nein, lieber soll es jemand anders tun, Daniel«, wehrte Mrs. Gummidge ab. »Ich bin ein einsames, verlassenes Geschöpf, und alles, was mich ans Gegenteil erinnert, geht mich der Quere.«
»Komm, Alte«, rief Mr. Peggotty, »nimms nur und wirf ihn.«
»Nein, Daniel«, wehrte Mrs. Gummidge ab und schüttelte tränenden Auges das Haupt. »Wenn ich weniger fühlte, könnte ich mehr tun. Du fühlst nicht wie ich, Daniel. Die Sachen gehen dich nicht der Quere und du ihnen nicht, s ist besser, du tusts selber.«
Aber hier rief Peggotty, die in großer Eilfertigkeit von einem zum anderen gegangen war und alle geküsst hatte, aus dem Wagen heraus, dass Mrs. Gummidge es unbedingt tun müsste. So tat es denn Mrs. Gummidge und warf auch leider zugleich einen traurigen Schatten auf den festlichen Charakter unseres Ausflugs, indem sie in Tränen ausbrach und ganz gebrochen Ham mit den Worten in die Arme sank, dass sie aller Welt eine Last sei und am besten auf der Stelle ins Armenhaus ginge. Schade nur, dass Ham es nicht zur Ausführung brachte.
Nun ging es weiter auf unserm Festpfad und das erste, was wir taten, war, dass wir vor einer Kirche anhielten, wo Mr. Barkis das Pferd an ein Gitter band und mit Peggotty hineinging, während Emly und ich allein zurückblieben. Ich benutzte diese Gelegenheit, meinen Arm um Emlys Taille zu legen und ihr vorzuschlagen, da ich ja bald fort müsse, wollten wir uns recht gut sein und uns den ganzen Tag so glücklich wie möglich gestalten. Da die kleine Emly zustimmte und mir erlaubte, sie zu küssen, kam ich ganz aus der Fassung. Ich sagte ihr, ich könnte nie eine andere lieben und wäre bereit, jeden umzubringen, der sich um sie zu bewerben wagte.
Wie sich die kleine lustige Emly darüber lustig machte! Mit einer Miene, als sei sie unendlich viel gescheiter und älter als ich! Sie sagte, die kleine Hexe, ich sei ein kindischer Junge, und lachte dann so entzückend, dass ich den Schmerz über die demütigende Benennung über der bloßen Freude, sie ansehen zu dürfen, vergaß.
Mr. Barkis und Peggotty blieben ziemlich lang in der Kirche, kamen aber endlich wieder heraus. Dann fuhren wir hinaus aufs Land. Unterwegs wendete sich Mr. Barkis nach mir um und sagte, indem er listig ein Auge zukniff:
»Was fürn Namen hab ich in den Wagen geschrieben?«
»Klara Peggotty«, antwortete ich.
»Was fürn Namen müsst ich jetzt anschreiben, wenn ein Dach da wäre?«
»Nicht wieder Klara Peggotty?« fragte ich.
»Klara Peggotty-Barkis!« erwiderte er und brach in ein Gelächter aus, dass die ganze Chaise wackelte.
Kurz, sie waren verheiratet und waren zu keinem anderen Zweck in die Kirche gegangen. Peggotty hatte gewünscht, dass es in aller Stille geschähe, und hatte keine Zeugen zu der Feierlichkeit eingeladen. Sie wurde etwas verlegen, als Mr. Barkis mit dieser Mitteilung herausplatzte, und konnte mich nicht genug umarmen, um mir ihre unveränderte Liebe zu zeigen. Bald beruhigte sie sich wieder und sagte, sie sei froh, dass alles vorbei wäre.
Wir hielten dann an einem kleinen Wirtshaus, wo wir erwartet wurden und ein sehr gutes Mittagessen einnahmen und den Tag sehr angenehm zubrachten. Wenn Peggotty täglich einmal in den letzten zehn Jahren geheiratet haben würde, hätte sie nicht unbefangener sein können. Sie war ganz wie sonst und machte mit der kleinen Emly und mir vor dem Tee einen kleinen Spaziergang, während Mr. Barkis philosophisch seine Pfeife rauchte, offenbar damit beschäftigt, sich sein künftiges Glück auszumalen. Das schien seinen Appetit anzuregen, denn ich erinnere mich genau, dass er zum Tee noch eine ziemliche Menge kalten Schinken zu sich nahm, trotzdem er schon zu Mittag ziemlich viel Schweinebraten und Gemüse gegessen und dann mit ein oder zwei jungen Hühnern noch nachgeholfen hatte.
Ich habe seitdem oft daran denken müssen, was für eine seltsame unschuldige und ungebräuchliche Hochzeit das damals war.
Bald nach Dunkelwerden stiegen wir wieder in den Wagen und fuhren gemütlich zurück und betrachteten die Sterne und sprachen über sie. Ich führte hauptsächlich die Konversation und klärte Mr. Barkis’ Geist in ganz erstaunlicherweise auf. Er hätte wahrscheinlich alles geglaubt, was ihm zu erzählen mir eingefallen wäre, denn er empfand die größte Hochachtung vor meiner Gescheitheit und sagte seiner Frau, ich sei der reinste »Roeshus«. Damit meinte er ein Wunderkind.
Als wir das Thema Sterne erschöpft hatten, oder besser gesagt, als ich die geistigen Fähigkeiten Mr. Barkis’ erschöpft hatte, nahmen die kleine Emly und ich ein altes Umschlagtuch als gemeinsamen Mantel um und blieben so während der ganzen Rückfahrt sitzen. Ach, wie sehr ich sie liebte! Welche Seligkeit, dachte ich, wenn wir verheiratet wären und hinaus in die weite Welt gehen könnten, um unter den Bäumen und in den Feldern zu leben, – wenn wir niemals älter und klüger zu werden brauchten, immer Kinder Hand in Hand im Sonnenschein über blumige Wiesen wandeln und abends im Schlummer der Unschuld und des Friedens das Haupt aufs weiche Moos legen dürften; welche Seligkeit, dereinst von den Vögeln des Himmels begraben zu werden, wenn wir stürben. Solche Traumbilder, lichtstrahlend wie unsere Unschuld, unerreichbar wie die Sterne über unsern Häuptern, gaukelte mir mein Geist vor den ganzen Weg. Es freut mich, dass zwei so unschuldvolle Herzen wie Emly und ich Peggottys Hochzeit verschönten.
Wir kamen noch beizeiten zu dem alten Boot; dort nahmen Mr. und Mrs. Barkis Abschied von uns und fuhren gemächlich nach Hause in ihr eignes Heim. Da fühlte ich das erste Mal, dass ich Peggotty verloren hatte. Unter jedem anderen Dache als hier, wo ich die kleine Emly bei mir wusste, wäre ich mit blutendem Herzen zu Bett gegangen.
Mr. Peggotty und Ham sahen mir an, worunter ich litt, hielten ein Abendessen bereit und setzten ihre gastlichsten Gesichter auf, um mir meine traurigen Gedanken zu vertreiben. Die kleine Emly saß neben mir auf dem Koffer – das erste Mal, seit ich hier weilte, und es war ein wundervoller Schluss für einen herrlichen Tag.
Diese Nacht war Flut. Und bald, nachdem wir uns schlafen gelegt, fuhren Mr. Peggotty und Ham zum Fischen aus. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, in dem einsamen Haus als Beschützer Emlys und Mrs. Gummidges zurückgelassen zu sein, und wünschte mir nur, dass ein Löwe oder eine Schlange oder ein anderes bösartiges Ungeheuer uns überfallen möchte, damit ich es vernichten und mich mit Ruhm bedecken könnte. Aber da nichts dieser Art auf den Dünen von Yarmouth herumstreifte, ließ ich mir, um diesem Mangel abzuhelfen, bis zum Morgen von Drachen träumen.
Am Morgen kam Peggotty und rief mich wie gewöhnlich ans Fenster, als ob Mr. Barkis, der Fuhrmann, von Anbeginn an nur ein Traum gewesen wäre. Nach dem Frühstück nahm sie mich mit sich nach Hause. Sie bewohnten ein wunderschönes kleines Heim. Von allen Möbeln darin machte mir ein alter Schreibtisch aus dunklem Holz im Empfangszimmer, dessen Deckel aufgeschlagen ein Pult bildete, worauf eine große Quartausgabe von Fox’ »Buch der Märtyrer« lag, den tiefsten Eindruck. Als Wohnstube diente eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Küche. Das kostbare Buch, von dem ich keine Silbe mehr weiß, entdeckte und studierte ich sogleich; nie wieder später besuchte ich das Haus, ohne auf das Pult zu klettern und es zu verschlingen. Am meisten erbauten mich die vielen Bilder, die alle Arten von Martern darstellten; die Märtyrer und Peggottys Haus sind seitdem in meiner Seele unzertrennlich miteinander verknüpft.
Ich nahm an diesem Tage von Mr. Peggotty und Ham und der kleinen Emly Abschied und schlief in der Nacht bei Peggotty in einem Dachstübchen, – das Krokodilbuch lag in einem Fach zuhaupten des Bettes – das immer mein Zimmer sein und immer für mich hergerichtet bleiben sollte.
»Solange ich lebe, lieber Davy, und unter diesem Dache wohne«, sagte Peggotty, »sollst du dieses Zimmer vorfinden, als ob ich dich jede Minute erwartete. Ich will es jeden Tag bereit halten, wie dein früheres altes kleines Zimmer, und wenn du selbst nach China gingst, soll es die ganze Zeit, wo du abwesend bist, auf dich warten.«
Ich fühlte von ganzem Herzen die Wahrheit aus diesen Worten meiner lieben alten Kindsfrau heraus und dankte ihr, so gut ich vermochte. Es fiel nicht sehr überschwenglich aus, denn sie gab mir ihre Versicherung, die Hände um meinen Hals gelegt, erst an dem Morgen, als ich mit ihr und Mr. Barkis nach Hause fuhr. Sie verließ mich am Gartentor in Blunderstone.
Es war ein bedrückender Anblick für mich, den Wagen mit Peggotty fortfahren zu sehen, während ich unter den alten Ulmen vor dem Hause stand, in dem kein Blick von Liebe oder Zuneigung mehr auf mir ruhen sollte.
Von diesem Zeitpunkt an verfiel ich in einen Zustand des Verlassenseins, auf den ich ohne Ergriffenheit nicht zurückblicken kann. Gänzlich vernachlässigt, ohne Gesellschaft von Knaben meines Alters, war ich ohne jede Aufgabe, allein gelassen mit meinen eignen trüben Gedanken, die selbst jetzt noch, wo ich dies schreibe, ihren Schatten auf das Papier zu werfen scheinen.
Was würde ich darum gegeben haben, wenn man mich wieder in eine Schule geschickt hätte – und wäre sie noch so streng gewesen –, mich auch nur das Geringste gelehrt hätte. Keine Hoffnung lag vor mir. Man konnte mich nicht leiden, sah hartnäckig und mürrisch an mir vorbei. Ich glaube, Mr. Murdstone besaß damals wenig Mittel, aber das tut wenig zur Sache. Er konnte mich nicht ausstehen, und ich glaube, er wollte meine Ansprüche an ihn vergessen, indem er mich vernachlässigte.
Ich wurde nicht tätlich misshandelt. Man schlug mich nicht und tadelte mich nicht. Aber das Unrecht, das ich litt, war ohne Unterbrechung und wurde mir in systematischer leidenschaftsloser Weise zugefügt. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat wurde ich kalt vernachlässigt. Was sie wohl mit mir angefangen hätten, wenn ich krank geworden wäre? Ob mich jemand gepflegte hätte oder ob sie mich in meinem einsamen Zimmer einfach hätten verschmachten lassen!?
Wenn Mr. und Miss Murdstone zu Hause waren, nahm ich meine Mahlzeit mit ihnen ein. In ihrer Abwesenheit aß und trank ich allein. Zu allen Zeiten trieb ich mich unbeachtet im Hause und in der Nähe herum. Sie gaben nur eifersüchtig acht, dass ich mit niemand Freundschaft schlösse, wahrscheinlich, damit ich mich nicht beklagen könnte.
Wohl aus demselben Grunde war es mir fast nie erlaubt, mit Mr. Chillip einen Nachmittag zu verleben, trotzdem er mich sehr oft einlud. Nur selten durfte ich ihn besuchen. Ebenso selten die ihnen so verhasste Peggotty. Ihrem Versprechen getreu kam die gute Seele einmal in der Woche zu mir, oder wir trafen uns in der Nähe, und nie kam sie mit leeren Händen. Aber wie viele, viele Male täuschte ich mich bitter in der Hoffnung, Erlaubnis zu bekommen, sie in ihrer Wohnung besuchen zu dürfen. Hie und da wurde es mir gestattet, und bei einer solchen Gelegenheit brachte ich heraus, dass Mr. Barkis eigentlich ein Geizhals, oder wie sie es nannte, ein bisschen knickerig war, und viel Geld in einem Koffer unter seinem Bette versteckt hielt, der angeblich voll Kleider und Hosen sein sollte. Mit solcher Zähigkeit verbarg Barkis seine Schätze, dass auch die kleinste Summe nur durch List aus ihm herausgelockt werden konnte. Peggotty musste jedes Mal eine wahre Pulververschwörung anzetteln, um samstags ihr Haushaltungsgeld zu bekommen.
Während dieser langen Zeit fühlte ich allmählich jede Hoffnung schwinden und empfand die vollständige Vernachlässigung so tief, dass ich ohne meine alten Bücher ganz und gar elend gewesen wäre. Sie bildeten meinen einzigen Trost, und ich war ihnen so treu, wie sie mir, und ich las sie, ich weiß nicht mehr, wie viele Male durch.
Ich komme jetzt zu einem Zeitabschnitt meines Lebens, den ich nie vergessen kann und dessen Erinnerung mir oft ungerufen wie ein Gespenst erschienen ist und glückliche Zeiten getrübt hat.
Ich schlenderte wie gewöhnlich eines Tags zwecklos und träumerisch wie immer umher, da stieß ich, um eine Ecke biegend, unvermutet auf Mr. Murdstone, der sich in Begleitung eines Herrn befand. Ich wollte mich verlegen vorbeidrücken, als der Herr rief: »Hallo, Brooks.«
»Nein, Sir, David Copperfield«, sagte ich.
»Sei still, du bist Brooks von Sheffield«, sagte der Herr, »das ist dein Name.«
Bei diesen Worten sah ich mir den Gentleman genauer an und erkannte in ihm Mr. Quinion, der damals bei meinem und Mr. Murdstones Besuch in Lowestoft so gelacht hatte.
»Und was machst du und wo gehst du in die Schule, Brooks?« fragte Mr. Quinion. Er legte mir die Hand auf die Schulter und zog mich mit. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und blickte fragend auf Mr. Murdstone.
»Er ist jetzt zu Hause«, sagte Mr. Murdstone. »Er geht überhaupt nicht in die Schule. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Es ist ein schwieriger Fall.«
Sein alter falscher Blick ruhte eine Weile auf mir, dann runzelte er die Brauen und wandte sich mit Widerwillen von mir ab.
»Hum«, sagte Mr. Quinion und sah uns beide an. »Schönes Wetter.«
Eine Pause trat ein, und ich überlegte, wie ich mich am besten von ihm losmachen könnte und meines Weges gehen, als er sagte:
»Ich glaube, du bist doch ein ziemlich flinker Bursche, was, Brooks?«
»Ja, er ist flink genug«, sagte Mr. Murdstone ungeduldig. »Lass ihn doch gehen, er wird dirs nicht Dank wissen, dass du ihn festhältst.« Auf seinen Wink ließ mich Mr. Quinion los, und ich beeilte mich, wegzukommen. Als ich mich im Garten umdrehte, sah ich, dass Mr. Murdstone, am Kirchhof stehengeblieben, mit Mr. Quinion unterhandelte. Sie sahen mir beide nach, und ich merkte, dass sie von mir sprachen.
Mr. Quinion blieb die Nacht über bei uns. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen wollte ich eben das Zimmer verlassen, als mich Mr. Murdstone zurückrief. Er ging dann feierlich an den Schreibtisch seiner Schwester; Mr. Quinion schaute, die Hände in den Taschen, zum Fenster hinaus, und ich stand da und sah von einem zum anderen.
»David«, begann Mr. Murdstone, »für die Jugend ist dies eine Welt der Tat, aber keine zum Brüten und Faulenzen.«
»Wie du es machst«, fügte seine Schwester hinzu.
»Jane Murdstone, überlasse das gefälligst mir! – Also ich sage dir, David, für die Jugend ist dies eine Welt der Tat und nicht ein Feld zum Brüten und Faulenzen, ganz besonders nicht für einen Jungen von deinem Charakter, der der Zucht bedarf und dem man den größten Dienst leistet, wenn man ihn zwingt, die Wege der arbeitenden Welt zu betreten, um ihn zu ducken und zu brechen.«
»Mit Trotz ist hier nichts auszurichten«, warf seine Schwester dazwischen, »dein Trotz muss gebrochen werden. Er soll und muss gebrochen werden.« Mr. Murdstone warf ihr einen halb abweisenden, halb billigenden Blick zu und fuhr fort:
»Ich glaube, du weißt, David, dass ich nicht reich bin. Jedenfalls weißt dus jetzt. Du hast eine beachtenswerte Erziehung genossen. Erziehung kostet Geld. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, würde ich es doch für vorteilhaft halten, dich nicht mehr in die Schule zu schicken. Was vor dir liegt, ist der Kampf mit der Welt, und je eher du damit anfängst, umso besser!«
Ich glaube, dass ich ihn in meiner eignen armseligen Art wohl schon lange begonnen hatte.
»Du hast wohl schon von dem Comptoir gehört?« fuhr Mr. Murdstone fort.
»Vom Comptoir, Sir?«
»Von Murdstone & Grinbys Weinhandlung.«
Ich muss vermutlich ein verwirrtes Gesicht gemacht haben, denn er sagte ungeduldig: »Das Comptoir, das Geschäft, der Keller, das Lager, kurz und gut.«
»Ich glaube, ich habe davon gehört, Sir, aber ich weiß nicht mehr wann.«
»Das ist schließlich gleichgültig«, antwortete er. »Mr. Quinion führt das Geschäft.«
Ich blickte den Gentleman, der immer noch aus dem Fenster schaute, ehrerbietig an.
»Mr. Quinion meint, dass er noch ein paar Jungen beschäftigen kann und keinen Grund sieht, warum er dich nicht auch unter denselben Bedingungen anstellen sollte.«
»Wenn Brooks schon sonst keine anderen Aussichten hat, Murdstone«, ließ Mr. Quinion halblaut fallen und sah sich nach uns um.
Ohne zu beachten, was er sagte, fuhr Mr. Murdstone ungeduldig, fast ärgerlich fort:
»Die Bedingungen sind, dass du so viel verdienst, dass du Essen, Trinken und Taschengeld hast. Deine Wohnung, die ich dir aussuchen werde, bezahle ich, ebenso deine Wäsche.«
»Die ich aussuchen werde«, sagte Miss Murdstone.
»Für deine Kleider wird auch gesorgt werden, da du für die erste Zeit sie dir nicht selbst wirst beschaffen können. Du gehst also jetzt mit Mr. Quinion nach London, David, um ein Leben auf eigne Rechnung zu beginnen.«
»Kurz, du bist versorgt«, bemerkte Miss Murdstone »und wirst gefälligst deine Pflicht tun.«
Ich verstand ganz gut, dass man mich nur loswerden wollte, weiß aber nicht mehr recht, ob ich mich darüber freute oder traurig war. Ich glaube, ich fühlte mich so verwirrt, dass ich zwischen beiden Empfindungen hin und her schwankte. Es blieb auch nicht viel Zeit, mir darüber klarzuwerden, da Mr. Quinion am nächsten Morgen abreisen sollte.
Ich sehe mich an jenem Morgen in einem alten abgetragnen weißen Hut mit einem schwarzen Trauerflor, in einer schwarzen Jacke und ein paar harten steifen Manchesterhosen, die Miss Murdstone vermutlich als die beste Rüstung im Kampfe mit der Welt, den ich jetzt beginnen sollte, ausgesucht hatte. In diesem Aufzug, alle meine Habseligkeiten in einem kleinen Koffer, ganz allein, »einsam und verlassen«, wie Mrs. Gummidge gesagt hätte, saß ich auf dem Wagen, der Mr. Quinion zur Londoner Post nach Yarmouth brachte.
Kleiner und kleiner wurden das Haus und die Kirche in der Ferne, das Grab unter dem Baum verschwand hinter den Häusern. Dann sehe ich den Kirchturm nicht über meinem alten Spielplatz mehr ragen, und der Himmel ist öde und leer.