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»Hofbräuhaus«, entgegnete Alice Hupe und ihre schulterlangen roten Locken sprühten Feuer. »In München.«

»München? O ja, klar, das Hofbräuhaus steht natürlich in München.«

»Nicht unbedingt«, stellte Alice mit einem kleinen Lächeln richtig. »Es gibt unter anderem auch in Berlin, Nürnberg, Hamburg und Dresden Hofbräuhäuser, außerdem mit Sicherheit das eine oder andere in den USA und Australien.«

Die Personalchefin der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen bemühte sich vergeblich um einen neutralen Gesichtsausdruck, während über ihrem Büro auf Gleis 2 mit quietschenden Bremsen der Intercity aus Hildesheim hielt und die Deckenlampe an ihrer Strippe ins Pendeln geriet. Die Frau vor ihr, groß, schlank, gut aussehend und geschmackvoll gekleidet, bewarb sich um einen Job als Servicekraft auf dem Fahrgastschiff Libelle. Für acht Euro die Stunde. Sie kam freiwillig und war keineswegs vom Jobcenter zwangsexpediert. Zu allem Überfluss aber hatte sie, nach eigenen Angaben, lange Jahre im Hofbräuhaus in München gekellnert. Die Personalchefin konnte es kaum fassen, und da sie befürchtete, diese morgendliche Luftblase könnte einfach so zerplatzen, wenn sie ihrer Begeisterung offen Ausdruck verlieh, versuchte sie krampfhaft ihre Züge im Zaum zu halten.

Zwei vom Amt geschickte Bewerber hatten sich bereits am Vortag vorgestellt. Eine Frau in einem ausgebeulten Trainingsanzug und ein Kerl, der während des Bewerbungsgesprächs auf seinem Stuhl kleiner und kleiner wurde, bis sie glaubte, ihre Lupe aus der Schreibtischschublade holen zu müssen. Selbst geschnittene Haare alle beide und Turnschuhe an den Füßen. Sie hatte sie mit dem Überlandbus zu Jansen nach Holzminden geschickt. Offiziell, damit sie auf der Nixe einen Probetag absolvierten, inoffiziell, damit Jansen sie am Hals hatte und nicht sie.

Für Hameln hielt sie nach einem anderen Kaliber Ausschau und die Chancen, es gerade eben gefunden zu haben, standen nicht schlecht. Diese Frau hier, diese Alice Hupe, die ihr mit übergeschlagenen Beinen völlig entspannt gegenübersaß und nicht nur perfekt gekleidet war, sondern auch das ausstrahlte, was den anderen Servicekräften fehlte – Kompetenz -, diese Frau war der Traum einer jeden Personalchefin. Es gab da nur ein klitzekleines Problem: Eddie, Chris, Inga und die Aushilfen auf der Libelle würden sie ablehnen. Die Aushilfen konnte sie austricksen, in dem sie sie in den nächsten Wochen auf der Libelle einfach nicht einsetzte. Höchstens für die Charterfahrten. Aber das Problem blieb die Stammbesetzung. Inga, das durfte sie keineswegs unterschätzen, hatte diesen besonderen Draht zum Chef, der ihr persönlich schon lange ein Dorn im Auge war. Man munkelte so einiges. Inga würde die Neue als Konkurrenz ansehen und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen. Bei Eddie und Chris waren die Probleme ein wenig anders gelagert. Die erste Zeit würden sie um die Neue wie verliebte Gockel herumtänzeln und sie erst dann ablehnen, wenn sie merkten, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die mit Nautikern in die Koje hüpfte, bloß weil er eine Uniform mit Schulterklappen trugen. Sie konnte nur hoffen, dass die Neue diese Hürde mit viel Diplomatie umschiffte.

Nein, das Schiffsvolk stand selbstbewussten, gut aussehenden und teuer gekleideten Servicekräften, die überdies auch noch belehrend auftraten (siehe Hofbräuhäuser) und alle in Grund und Boden kellnerten, eher skeptisch gegenüber.

Die Personalchefin nicht. Ihr Ziel war es seit ihrer Einstellung zwei Jahre zuvor, auf den Schiffen einen Fünfsterneservice zu schaffen, und selbst, wenn sie von den fünf Sternen ein bis zwei als allzu optimistisch ansah, brauchte sie doch personell gesehen geeignetes Material. Wie diese Neue hier. Sie seufzte. Eigentlich, und das war das Fatale an der ganzen Geschichte, verrichtete sie ihren Job eher widerstrebend und brachte für die Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen nicht wesentlich mehr Interesse auf als für die sonntäglichen Aufführungen der Rattenfängersage auf der Hochzeitshausterrasse.

Sie hatte in Hamburg Theaterwissenschaften studiert und bis zuletzt gehofft, die ausgeschriebene Stelle als Intendantin des Hamelner Theaters zu ergattern. Leider hatte sich die Stadt für jemanden mit zwanzigjähriger Intendantinnen-Erfahrung entschlossen und nicht für eine Einunddreißigjährige Newcomerin. So war sie der Not gehorchend erst als Servicekraft auf dem Glühwürmchen gelandet, dann vom Schiffsvolk ins Büro abgeschoben worden und schließlich eines Morgens auf demselben Stuhl aufgewacht, auf dem der alte Personalchef verstorben war. Der Schlag hatte ihn getroffen, was sie bei dem ganzen Ärger mit dem Personal nicht weiter verwunderte. Mitunter träumte sie von dem Einsatz einer mentalen Transformationsmaschine: vorn marschierten all diese eigenwilligen Persönlichkeiten hinein, mit denen sie sich tagtäglich abplagte, und hinten heraus kamen willige, freundlich lächelnde Kolleginnen und Kollegen in adretter Uniform, die ihr aufs Wort gehorchten.

Seit zwei Jahren redete sie sich ein, eine Bühnenshow zu inszenieren, sobald sie früh um sieben die Bürotür aufschloss, und in der Tat gab es zwischen Theater und Firma keine gravierenden Unterschiede. Hüben wie drüben hing der Erfolg der Inszenierung vom Können und den Launen der Mitwirkenden ab, und hier wie da beurteilte das Publikum das Stück. In der letzten Saison war der Ordner Beschwerden dermaßen aus den Nähten geplatzt, dass sie einen zweiten Ordner hatte anlegen müssen. Im Binnenschifffahrt-Katastrophengesetz gehörte die Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen mit Fug und Recht auf Platz eins der Gefahrenliste. Schon vor der diesjährigen Saison war es zu einer Beinahe-Katastrophe gekommen, als Eddie und Chris mit der Libelle den Tündernanleger aus dem Hamelner Hafen schleppten, um ihn an seinem rechtmäßigen Platz unterhalb der Holländischen Windmühle zu vertäuen, und sich der Ponton losriss. Was heißt losriss? Irgendwo im unkontrollierten Arbeitsablauf gab es ein Kuddelmuddel helfender Hände, und die starke Flussströmung nahm sich des plötzlich herrenlosen Pontons an und trug ihn in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Zumindest ein Stück weit, die Hälfte des Weges ungefähr. Bevor ihn zwei mutige Mitarbeiter des DRLG mit Hakenstöcken einfangen konnten, riss er etlichen Anglern die Ruten aus den Händen und brachte ein Schlauchboot zum Kentern. Nur eine der vielen Katastrophen, die sich alljährlich in Jansens Schifffahrtsgesellschaft häuften. Es war, als läge ein Fluch auf der Firma.

Die Sache mit der Schleuse hatte sich in der letzten Saison ereignet. Natürlich war es ein Fehler des Schleusenwärters gewesen, dazu ein grober Verstoß gegen die Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung, die Sportboote vor einem Fahrgastschiff in die Schleuse zu lassen, aber du meine Güte, bei der Schleuse handelte es sich um eine Schleppzugschleuse, zwei offene Kammern mit einer Länge von insgesamt zweihunderteinundzwanzig Metern und elf Metern Breite. Die Schrecke maß vom Bug bis zum Heck keine fünfundvierzig Meter, wo also hatte das Problem gelegen, rechtzeitig die Maschinen zu drosseln?

An die Sache mit dem Frachter, als sie selbst in ihrer Anfangszeit auf der Libelle ausgeholfen hatte, und sich Frachter und Libelle ausgerechnet in der Vlothoer Gosse begegneten, durfte sie gar nicht denken. Bei Niedrigwasser. Noch heute wachte sie manchmal schweißgebadet auf, während Chris’ Gebrüll Volle Kraft zurück durch ihre Träume geisterte. Der Frachter hätte Vorfahrt gehabt, klar doch. Die Vlothoer Gosse war aufgrund der Felsen im Flussbett als Engstelle gekennzeichnet, ein schmales Fahrwasser, gerade mal für ein Schiff ausreichend. Als Talfahrer hatte nun mal der Frachter Vorfahrt gehabt, und die Schrecke hätte natürlich vor dem Achtung-Engpass-Schild gewartet, wenn Eddie gewusst hätte, dass ihm Frachter Isolde auf Talfahrt entgegentuckerte. Ebenso natürlich hatte die Isolde vor Einfahrt in die Engstelle den vorgeschriebenen Funkspruch abgesetzt, den Eddie jedoch nicht hören konnte, weil er vergessen hatte, das Funkgerät einzuschalten.

Eigentlich, so dachte die Personalchefin oft, müssten alle Schiffe der Schifffahrtsgesellschaft Jansen nach dem morgendlichen Ablegen das Bleib-weg-Signal hören lassen. Eine Viertelstunde aus vollem Horn tuten, abwechselnd ein kurzer und ein langer Ton und dazu noch im Bug und im Heck jeweils eine Person, die eine rote Laterne schwenkte. Ein Bleib-weg-Signal eben. Ein Kommt-uns-bloß-nicht-zu-nahe-wir-sind-unberechenbar-Signal.

Seit zwei Jahren also versuchte die Personalchefin der Schifffahrtsgesellschaft Jansen das Serviceniveau auf dem Schiff um ein paar Sterne anzuheben, aber bedauerlicher Weise brauchten vielversprechende Neue durchschnittlich nur vierzehn Tage für die Erkenntnis, sich für zu wenig Geld mit zu vielen Widerständen an Bord abplagen zu müssen. Es war diese verdammte Dickschädeligkeit der Schiffsleute, denn auch wenn die Personalchefin auf der Gehaltsliste ganz oben stand, wurden alle wichtigen Entscheidungen direkt auf den Schiffen getroffen und dort auch auf der Stelle umgesetzt.

Rein theoretisch teilte sie als Personalchefin die Aushilfskräfte für das Wochenende ein. Praktisch aber gaben schließlich nicht Rainer und Ute am Montagmorgen ihre unterschriebenen Stundenzettel ab, sondern Marlene und Ruth. Inga und die Serviceleitungen der übrigen Schiffe praktizierten ihre eigene Personalpolitik. Dies führte zu einer zunehmenden Irritation Okko Jansens, der bei seinen Kontrollbesuchen auf den Schiffen nicht die Servicekräfte von der Liste vorfand, die sie, die Personalchefin, ihm Tag für Tag nach Holzminden faxte. Zwangsläufig musste er sich fragen, ob seine Personalchefin den Überblick verloren hatte oder unter alzheimerschen Schüben litt. Das Schiffsvolk arbeitete jedenfalls mit Eifer daran, Jansen genau dies glauben zu machen. Sechs Schiffe, vier Schiffsbesatzungen, eine Personalchefin mit abgekauten Fingernägeln.

Im Hamelner Büro, das sich sinnigerweise in einem Nebengebäude des Bahnhofs befand, weit weg vom Anleger, dafür direkt unter Gleis 2, hockten nach Meinung des Schiffsvolks Frauen mit angemalten Fingernägeln und manikürten Händen. An Bord brach man sich die Fingernägel alle Nase lang ab. Die Frauen im Büro gingen in eine ausgedehnte Mittagspause, die Frauen an Bord schlangen ein kaltes Würstchen im Stehen hinunter, und auch da mussten sie sich schon über die Schultern blicken, ob nicht zufällig der Chef hinter ihnen stand und das Würstchen vom Lohn abzog. Die Frauen im Büro schlossen nach acht Stunden auf die Minute pünktlich die Bürotür hinter sich ab und gingen shoppen, während das Schiffsvolk nach den Rundfahrten eben erst in den Hafen tuckerte und die stinkenden Klos putzte.

Arbeitsbeginn war acht Uhr morgens, Arbeitsende laut Vertrag, wenn das Schiff im Hafen lag und sauber war. An sechs Tagen in der Woche, während die Bürodamen auf ihre Fünftagewoche den größten Wert legten. Dazu kamen Sonderfahrten an den freien Dienstagen und Charterfahrten in den Abendstunden. Das Schiffsvolk war der Meinung, es habe die Arbeit erfunden, während sich die Damen aus dem Büro, so gut es eben ging, darum drückten.

Ganz so war es natürlich nicht. Während der Saison zwischen Mai und September klingelte das Telefon im Zweiminutentakt, und zwar alle Bürotelefone gleichzeitig, und wenn die Bürodamen abends mit rauchenden Köpfen nach Hause schlichen, waren sie heiser. Den lieben langen Tag gaben sie Auskunft, buchten Gruppen und Grüppchen auf die Schiffe, stellten Verträge aus, faxten, kopierten und versuchten die Kundschaft zu überreden, an Bord möglichst viel Geld auszugeben. Kaffeegedecke, Getränkepauschalen, Mittagessen oder Saloncharter, Jansen behielt den Gastroumsatz im Auge, und wenn der nicht stimmte, waren die Bürodamen seine ersten Ansprechpartner. Ebenso wie bei Havarien, Ausrastern des Schiffsvolks, Kolbenfressern der Maschinen, weil irgend ein Jemand zu dusselig gewesen war, Öl nachzufüllen, bei Hoch- oder Niedrigwasser, fehlendem Kuchen an Bord, bei allen sonstigen Pannen auf und an der Weser und sogar dann, wenn der Chef in seinem kleinen roten Flitzer auf dem Weg von Holzminden nach Hameln liegen blieb. Das Büro diente als Punchingball für Chef, Kunden und Schiffsvolk. Hier tobte man sich ungestraft aus.

Die Entfernung zwischen Büro und Anleger trug ihren Teil dazu bei, die Fronten zu verhärten. Statt Dampfer donnerten Züge über die Köpfe der Bürodamen hinweg, während die Leute vom Schiff nur im Büro auftauchten, wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann aber mit untrügsamem Spürsinn ausgerechnet in den wöchentlichen fünf Minuten, in denen die Bürodamen ausnahmsweise zusammenhockten und Kaffee tranken. Ansonsten verständigte man sich lediglich über das Telefon, vorausgesetzt die Schiffsleute ließen sich dazu herab, ans Schiffshandy zu gehen, wenn auf dem Display die Nummer des Büros erschien.

Manchmal hatte die Personalchefin der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen alles einfach nur noch satt. Nicht, dass sie das Schiffsvolk nicht verstanden hätte. Fast alle Schiffsführer kamen vom eigenen Frachtschiff, aus der Selbstständigkeit, in der ihnen außer Frau und Kindern niemand Vorschriften gemacht hatte. Verbindliche Preise für die Ladungen bestimmte ein Frachtenausschuss, der sich zur Hälfte aus Abgesandten deutscher Großfirmen wie Bayer oder Thyssen und zur anderen Hälfte aus Vertretern der wichtigsten Binnenschifffahrts-Reedereien wie Stinnes und Lehnkering zusammensetzte. Mit dem Tarifaufhebungsgesetz 1994 und der Auflösung dieses Gremiums setzte unter den Binnenschiffern ein massiver Konkurrenzkampf ein und die Frachtraten fielen um bis zu sechzig Prozent. Viele Eigner sahen sich gezwungen, ihr Frachtschiff zu verkaufen oder zu verschrotten und fanden sich plötzlich in der Fahrgastschifffahrt wider und taten sich redlich schwer.

Statt wochenlang in Eigenregie über Europas Flüsse und Kanäle zu schippern, fuhren sie jetzt jeden Tag ein und dieselbe Strecke, schreckten flussauf- und flussabwärts jeden Tag dieselben Reiher und dieselben Kormorane am Ufer auf, sahen dieselben Kirchtürme auftauchen und wieder verschwinden und mussten, zeitweise sogar im Stundentakt, Horden anmaßender Passagiere an Bord ertragen. Nicht zu vergessen einen Chef, dem sie Rechenschaft schuldeten, bloß, weil sie einen dieser verdammten Anleger übersehen hatten.

Am Schlimmsten waren die Rundfahrten in Hameln. 4,6 Kilometer weseraufwärts, vom Hamelner Anleger bei Stromkilometer 134,5 bis zur alten Fährstraße zwischen Tündern und Ohr bei Stromkilometer 129,9. Dann wenden und die 4,6 km wieder flussabwärts, erneut wenden, anlegen, eine Viertelstunde später wieder ablegen, 4,6 km weseraufwärts, wenden und so weiter und so fort. Im Stundentakt von morgens halb zehn bis nachmittags um halb sechs, sechs Tage die Woche, bis das Schiffsvolk die Orientierung verlor.

Eddie und Chris hielten den Drehwurm mit einem kräftigen Schluck aus der Buddel in Schach, Inga stopfte sich mit Schokolade voll. Im letzten Jahr hatte sie mindestens zehn Kilo zugenommen und würde, wenn sie nicht gewaltig aufpasste, wie ein Hefekloß auseinandergehen. Dazu gab es in jeder Saison auf jedem Schiff ein oder mehrere Besatzungsmitglieder, die einen Saisonkoller bekamen und nicht selten erheblichen Schaden anrichteten. Auf dem Rundfahrtschiff in Holzminden hatte sich der Saisonkoller in der letzten Saison darin entladen, dass die Schiffscrew in seltener Einigkeit eines Morgens die Schiffsäxte schwang, auf dem Oberdeck Tische und Bänke zerlegte und über die Reling ins Wasser warf. Eine halbe Bank hatte einen Schwan erschlagen, ihr Pendant war zwölf Kilometer weserabwärts getrieben worden, bevor er in Polle erst den Radkasten des Schaufelrads vom Raddampfer Wieland zertrümmerte und dann die Schaufeln des Rades.

Immer öfter träumte die Personalchefin vom richtigen Theater, den Brettern, die die Welt bedeuteten und nicht von Planken über schwankendem Grund. Dieses Theater hatte sie gründlich satt. An diesem Morgen zum Beispiel. Erst rief Malte, der Schiffsführer eben jener Seerose an, die in Holzminden Rundfahrten fuhr, und schiss sie, die Personalchefin, zusammen, weil das Büro für eine vorgebuchte Gruppe auf dem Schiff zehn Kaffeegedecke zu wenig nachgemeldet hatte. Gleich darauf heulte ihr Jan-Erik, die Nervensäge von der Neptun aus Minden, die Ohren voll, weil er sich von Jansen missverstanden fühlte, und anschließend rief der Bürgermeister von Kleinkleckersdorf an, der sich über die Besatzung der Libelle beschwerte. Eddie hatte in Fuhlen nicht angelegt, weil er vergessen hatte, dass eben jener Bürgermeister dort aussteigen wollte, um mit seiner Ehefrau im dortigen Gasthaus die silberne Hochzeit zu feiern. Auf seine Frage beim Aussteigen in Rinteln, wie er denn jetzt nach Fuhlen kommen sollte, hatte Eddie lapidar laufen geantwortet.

Ich muss mit dem Chef über diesen verflixten Fuhlenanleger sprechen, dachte die Personalchefin, während sie mit wohlwollendem Lächeln die neue Kandidatin musterte.

Sie schnappte sich einen Ordner aus dem Regal und suchte nach den Vertragsformularen. »Da ist es ja«, sagte sie zufrieden. »Wir fangen mit einem Vertrag auf vierhundertfünfzig Euro an, und wenn Sie sich in einem Monat bewährt haben, stelle ich Sie als verantwortliche Servicekraft für die Schrecke ein.« Wenn ein Wunder geschieht und Jansen einen neue Nautiker für die Schrecke findet, dachte sie fromm. Soweit würde es voraussichtlich nicht kommen, aber die Neue sah ehrgeizig aus und verantwortliche Servicekraft klang besser als Aushilfe. »Diesen einen Monat arbeiten Sie allerdings zur Eingewöhnung auf der Libelle.« Alles andere würde sich finden, und Ende der Saison würde sie, die Personalchefin, ohnehin kündigen. Allerdings schwebte ihr vor, bis dahin das Niveau auf den Schiffen dermaßen anzuheben, das man mit Respekt an sie zurückdachte.

»Mädels«, wisperte sie händereibend im Büro, während die Neue im Nebenzimmer den Vertrag ausfüllte. »Wir haben gerade das große Los gezogen.«

Nebenan beugte sich Alice mit einem Kugelschreiber in der Hand über den Vertrag und lauschte mit halbem Ohr dem Flüstern aus dem Büro. Die Büromäuse steckten die Köpfe zusammen und taten ganz aufgeregt.

Tja, Leute, dachte sie selbstzufrieden. So was wie mich kriegt ihr nicht jeden Tag serviert. So sieht eine verdeckte Ermittlerin aus, auch wenn ihr nicht die geringste Ahnung davon habt.

Der Zeit auf dem Schiff sah sie mit freudiger Spannung entgegen. Sie sah sich gern Das Traumschiff oder Love Boat im Fernsehen an, und vielleicht gab es ja an Bord den einen oder anderen feschen Steward, der willens war, ihren Romeo abzulösen. Ach was, Steward! Wer wollte einen Steward, wenn es auch Kapitäne mit Streifen und Sternen auf den Schulterklappen gab. Sie sah sich bereits eingehakt bei einem schnieken Herrn in Uniform durch Hamelns Fußgängerzone flanieren. Aber erst einmal galt es den Mord aufzuklären, dann kam die Geschichte mit den Fernsehkameras und anschließend, wer weiß ...

Servicekraft, schrieb sie schwungvoll in die Spalte, vor der Beruf stand und grinste. Gib dem Pöbel, was er erwartet, und lass dir die Füße küssen. Außerdem konnte die Arbeit einer Servicekraft nicht so kompliziert sein wie der Job einer Detektivin. Man brachte die Getränke an die Tische, kassierte die Trinkgelder und das war es auch schon. Eine ruhige Hand, ein nettes Lächeln, einen kleinen Hüftschwung, was brauchte eine erstklassige Servicekraft mehr?

Einen Moment lang sah sie sich und den Kapitän im mondbeschienenen Steuerhaus, hörte das leise Aneinanderklirren der Sektkelche, ein gehauchtes Ti amore, bella, falls er zufällig italienisch sprach ...

»Fertig, Liebes?«, fragte die laute Stimme der Personalchefin direkt neben ihrem Ohr, und um ein Haar wäre Alice Hupe vor Schreck vom Stuhl gefallen. Ihr schien, im Büro blieb wenig Zeit zum Träumen. Die Telefone klingelten alle auf einmal, das Fax spuckte Seite um Seite aus, und die Stimmung schwankte zwischen betriebsam und hektisch.

Ihr armen Luder, dachte Alice, während sie ihren Vertrag unterschrieb und die kleine, schmächtige Büromaus in der Ecke aus irgendeinem undefinierbaren Grund in Tränen ausbrach. Jede Menge Hektik die ganze Saison über und ein Gehalt, von dem ihr euch bestimmt keinen Schnorchelurlaub auf den Malediven leisten könnt.

In diesem Moment flog die Bürotür auf, und alle drei Damen zuckten zusammen. Alice ebenfalls, auch wenn es bei ihr eher ein erotisches Schaudern war. Sekundenlang blieb die lichtüberflutete Gestalt in der Tür stehen, während über ihrem Kopf ein Frachtzug durch den Bahnhof donnerte und die Lampe wild zu schaukeln begann. Ein Mann, ein Meter neunzig schätzungsweise, braun gebrannt, keine Haare, aber einen derart formvollendeten Kopf, dass Alice ein zweites Mal schauderte. Schwarze Schatten auf der Kopfhaut zeigten an, wo Haare sein würden, wenn er es ihnen eines Tages gestattete zu wachsen. Ein schwarzer Bartschatten umgab sein Kinn. Er trug enge Jeans und ein blau-weißes Schifferhemd mit Stehkragen, das seine Muskeln bis in die letzte Naht ausfüllten. Sein Gesicht war ... Gott, es ließ sich nicht beschreiben. Männlich eben. Ein markantes Kinn, eine gerade Nase, dunkle Augen, dunkle Brauen. Ein Männermodel, das sich verlaufen hat, dachte Alice, die unwillkürlich aufgestanden war und hingerissen seufzte, den Vertrag gegen die Brust gedrückt. So einen findest du nur einmal auf dem Planeten.

Gleich darauf holte sie die Erkenntnis ein, dass Männer, die so aussahen, unweigerlich schwul waren. Alice seufzte ein zweites Mal. Die Gaben dieser Welt waren einfach ungerecht verteilt. Mit dieser deprimierenden Feststellung drückte sie der Personalchefin den Vertrag in die Hand und schritt zugleich mit ihr auf die göttliche Erscheinung zu, die ein Ding in einer Hand hielt, das wie ein Anker aussah, der mindestens dreißig Kilo wog. Schweiß stand auf seiner Stirn, und dieser Schweiß – stand ihm so perfekt, wie sie es nie zuvor gesehen hatte. Mit dem unter die Decke und du bist für den Rest deines Lebens für andere Männer verdorben, schoss es ihr durch den Kopf. Egal ob schwul oder hetereo. Sie wollte sich eben wortlos an ihm vorbeischieben, als die Personalchefin Zähne zeigte und ihre Hand ausstreckte.

»Herr Jansen, was für eine gelungene Überraschung. Wir haben Sie zwar wie immer nicht erwartet, aber gerade heute gibt es doch etliches, was wir gleich besprechen könnten, wenn Sie schon einmal hier sind. Was macht Holzminden? Steht noch, ja? Und auf den Schiffen alles okay? Prima, dann hätte ich heute zum Beispiel den Fuhlenanleger zur Debatte, beziehungsweise die Schiffe, die dort nicht anlegen können.« Oder wollen, fügte sie stumm hinzu. »Außerdem das Glühwürmchen als Charterschiff. Also ich muss Ihnen sagen, das ist ein Unding. Zu laut, zu klapprig, und wer länger als zehn Minuten die Dieseldämpfe aus dem Maschinenraum einatmet, ist high. Ach ja, noch etwas, wo wir gerade alle beisammen sind: Darf ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen unsere neue Mitarbeiterin vorzustellen.« Sie deutete auf Alice, die verblüfft, aber geschmeichelt beobachtete, wie sich Jansens Augen bei ihrem Anblick ebenso weiteten wie die ihren bei seinem Anblick.

»Frau Hupe. – Herr Jansen, Reeder und Geschäftsführer der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen. Frau Hupe kommt aus München und hat im Hofbräuhaus gelernt. Ich schicke sie auf die Libelle, damit das Niveau dort ...« Sie verzog den Mund. »Na ja, Sie wissen schon.«

»Eine Gelernte?« Jansens Augenbrauen schnellten in die Höhe.

»Eine Gelernte!«, bestätigte Alice. Für acht Euro die Stunde, du geiziger, gutaussehender Arsch.

Er gab ihr nicht die Hand, was sie guthieß, da es ihr zuwider war, verschwitzte Hände zu schütteln, aber er ließ den Anker auf den Boden knallen und trat ein paar Schritte um sie herum, geradeso, als prüfe er das Frischfleisch, bevor er sich entschied, ob er es selbst verspeiste oder an die Hunde verfütterte. Das wiederum gefiel Alice ganz und gar nicht. Sie hatte während ihrer abgebrochenen Ausbildung für einen Chef gearbeitet, der es als sein gutes Recht ansah, ihren Po zu tätscheln oder versehentlich mit dem Arm ihre Brust zu streifen, und zwar solange, bis sie ihm ihr Knie in die Eier rammte. Und dieser Chef hatte sie bei der Einstellung auf dieselbe Weise betrachtet wie Jansen es gerade tat. Neugierig und hungrig.

Sollte er doch nicht schwul sein?

»Okko und Sie reicht«, sagte Okko Jansen und zeigte von einem Ohr zum anderen zwei Reihen perfekter Zähne. »Wir von der Christlichen Seefahrt nehmen es nicht so förmlich.«

»Alice«, sagte Alice Hupe und lächelte zurück, obgleich ihr nach seiner Fleischbeschau das Knie bereits zuckte. Einerseits. Andererseits könnte sie ihm natürlich auch hingebungsvoll in die Arme sinken. Der Übergang zwischen Variante eins und zwei schien ihr plötzlich sehr fließend. Schwammig geradezu. »Ich dachte, ich hätte bei der Binnenschifffahrt angeheuert und nicht für einen Törn auf hoher See.« Himmeldonnerwetter noch mal, dachte sie gleich darauf wütend und biss sich auf die Unterlippe. Ständig musst du die Leute verbessern. Schaffst du es denn nicht ein einziges Mal, den Mund zu halten?

Okko Jansen lachte, und es klang tatsächlich so amüsiert, dass ihm Alice einen misstrauischen Blick zuwarf. Lachte er über ihren Witz oder machte er sich über sie lustig?

Die drei Bürodamen in seinem Rücken tauschten verstohlene Blicke. Eine war groß und dürr mit kastanienbraunem Bubikopf, die Zweite klein und dürr mit hellbrauner Dauerwelle, und Nummer drei, die Büroleiterin, mittelgroß und dürr, mit pechschwarz gefärbten Haaren und sorgsam gezupften Augenbrauen. Alle drei waren so dünn, dass es den Anschein erweckte, ihr Gehalt reiche nicht aus, sich satt zu essen. Drei unterschiedlich lange Striche in der Bürolandschaft.

»Wann dürfen wir mit Ihrem Arbeitsantritt rechnen, Alice?«, fragte Okko Jansen und sprach Alice wie Älice aus. »Ich hoffe doch, morgen schon? Wenn Sie einen Moment Zeit haben, gehen wir zwei beide eben mal auf einen Latte ins Café und besprechen Ihren Arbeitseinsatz, ja? Vielleicht lasse ich mich sogar erweichen, Ihnen zehn Cent mehr pro Stunde auszuzahlen, wo Sie doch eine Gelernte sind.«

»Ach wissen Sie, ich lebe nach der Devise. Geld beruhigt, macht aber nicht glücklich«, log Alice, ohne mit der Wimper zu zucken. »Solange es für eine Kante trockenen Brotes und ein Glas Leitungswasser reicht, bin ich vollauf beruhigt und hülle mich gern in Lumpen.« Sie lächelte und zupfte an ihrer schneeweißen teuren Bluse herum, die ihre rauchgrauen Augen perfekt zum Leuchten brachte. Zum Vorstellungstermin trug sie das kleine Kostüm, einen cremefarbenen Leinenrock, der eine Handbreit über dem Knie endete, und die dazugehörige cremefarbene, taillierte Schößchenjacke. Ihre langen sonnenbankbraunen Beine steckten in weißen Pumps. Sie wusste, wie gut sie aussah, und sie wusste auch, das ihm kein Detail ihrer Erscheinung entging. Sie sah ihn sogar den Teil seines Körpers einziehen, den er für seinen Bauch hielt. »Sie stimmen mir doch sicherlich zu?«

Einen Moment lang starrte er sie sprachlos an, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus.

Die vier Frauen zuckten zusammen.

Mörderische Schifffahrt

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