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»Ist nicht dein Ernst«, staunte Fred und verdrehte in Mellies Richtung die Augen.

»Hey, ihr könnt’s mir glauben!« Alice betastete das Pflaster an ihrer Schläfe und hätte am liebsten ebenfalls die Augen verdreht. Allerdings mehr aus Ärger über sich selbst. Sie war umgekippt. Einfach so. Eben noch führte sie die Polizisten zum Tatort und wies darauf hin, dass allein sie es gewesen war, die die verstümmelte Leiche des Rattenfängers aus dem Wasser gezogen hatte, und kaum wollte ein Polizist ihre Personalien aufnehmen, schon sah sie den Boden auf sich zukommen.

Als sie wieder aufwachte, flirtete sie ein wenig mit den beiden netten Sanitätern im Rettungswagen, ließ sich ein Pflaster auf die Stelle kleben, wo Schläfe und Stein Freundschaft geschlossen hatten und entließ sich selbst. Schließlich war nicht sie die Leiche, für die der Rettungswagen bestellt worden war. Da sie ebenso wenig mit dem Kombi des Gerichtsmediziners mitfahren wollte, trabte sie zu ihrem Fiat Panda zurück – zugegebenermaßen ein wenig wackelig – und fuhr direkt zur Detektei, um mit ihrem Abenteuer anzugeben.

Dort allerdings stieß sie auf einen ungläubigen Thomas.

»Der Rattenfänger, ja?«, fragte Fred. »Du behauptest also, du hast den Rattenfänger in all seinen bunten Klamotten aus der Weser gezogen? Mit einem Messer im Nacken und zwei halben Armen? Was haben wir heute? Den ersten April? Den Dösbaddel-Tag? Okay, gehen wir zum Tagesgeschehen über. Mein Gerichtstermin war dahin gehend erfolgreich, dass der Kerl zu zwei Jahren auf Bewährung verknackt wurde.«

Alice brauchte keine zwei Sekunden, um von der Leiche des Rattenfängers auf Angriff umzuschalten. Fred Roderich Kontra zu bieten, war ihr ebenso in Fleisch und Blut übergegangen wie ihm, alles, was sie sagte, infrage zu stellen. »Zwei Jahre auf Bewährung bezeichnest du als verdiente Strafe für diesen gewalttätigen Kerl, der seiner Frau ein Auge ausgeschlagen und den zweijährigen Sohn aus dem Fenster geworfen hat? Du meine Güte, was ist denn mit dir passiert? Und da dachte ich schon, ich sei mit dem Kopf auf einen Stein geknallt.« Alice saß noch immer auf Mellies Schreibtisch, auf den sie sich gleich nach ihrer Ankunft geschwungen hatte, einfach aus dem Grund, weil er mitten im Raum stand und damit auch mitten im Fokus der Aufmerksamkeit. Ihr eigener Schreibtisch stand direkt vor dem Fenster mit Blick auf den flügellahmen Flamingo, doch aufregende Botschaften erforderten exponierte Plätze.

»Ich finde, Alice hat recht«, mischte sich Mellie entrüstet ein, die immer noch daran herumbastelte, wie sie den beiden ihr heutiges Kundengespräch mit dem Verrückten beichten sollte. Ob überhaupt. »Er gehört schon allein deshalb lebenslänglich weggesperrt, weil er den Kleinen angefasst hat.«

»Himmel noch mal, Melanie, er war der Vater, er durfte den Kleinen anfassen. Die ganze Sache ist doch folgendermaßen passiert. Der Vater steht mit dem Kleinen auf dem Arm vor dem offenen Fenster und zeigt ihm die Rotkehlchen im Kirschbaum. Da klingelt es an der Haustür. Der Vater macht auf den Hacken kehrt. Der Kleine aber, dieses hyperaktive Kerlchen, hält sich mit beiden Händen am Fensterkreuz fest und gleitet Papa aus den Armen, als der zur Tür geht. Papa merkt es erst zwei Meter weiter und stürzt zurück, den Sohnemann zu retten, der freihändig auf der Fensterbank steht. Kurz vor der Fensterbank stolpert Papa über den Teppich, der Kleine bekommt unabsichtlich einen Schubs, und schon war’s passiert. Übrigens war das Fenster im Erdgeschoss, und Sohnemann hat sich lediglich ein paar blaue Flecken geholt.«

»Ach«, sagte Mellie baff erstaunt. »Aber du hast selbst doch gesehen, wie der Vater den Kleinen ...«

»Und das Auge«, fuhr Fred unbeirrt fort und stolzierte im Zimmer auf und ab. »Also mit dem Auge verhielt es sich folgendermaßen. Der liebevolle Ehemann und Trottel vom Dienst kauft seiner Gattin auf dem Nachhauseweg einen Blumenstrauß. Ein kleines Dankeschön für Speis und Trank oder was weiß ich. Er spaziert zur Wohnungstür hinein. Seine Frau sieht den Blumenstrauß und stürzt auf ihn zu, um ihre dankbaren Arme um seinen liebenden Hals zu schlingen. Er aber streckt im selben Moment seinen Arm aus, um ihr den Strauß zu überreichen. Da die Frau nur so ein kleines Persönchen ist«, er deutete eine Stelle knapp oberhalb seines Magens an. »stoßen Auge und die Faust, die den Blumenstrauß hält, so unglücklich zusammen, dass nur die Faust überlebt.«

»Und diesen Schwachsinn glaubst du dem Kerl?«, fragte Alice ungläubig.

Fred feixte. »Ich nicht, wohl aber der Richter. Dem Himmel sei Dank waren die beiden Schöffen Frauen, und deren empörter Argumentation konnte der Herr über Freiheit und Knast nicht lange standhalten. Ansonsten wäre der Kerl mit einem glatten Freispruch aus dem Gerichtssaal marschiert.«

»Und was war mit deiner Aussage? Du hast gesehen, wie er den Kleinen aus dem Fenster geworfen hat. Beim zweiten Mal hast du die Frau schreien hören und bist ins Haus gestürmt. Da war doch kein Blumenstrauß. Oder doch?« Mellie schenkte Kaffee nach. »Ich meine, der Kerl war weg, aus dem Fenster gesprungen und abgehauen, aber doch wohl nicht mit einem Blumenstrauß in Händen.«

»Ich durfte nicht aussagen, weil ich angeblich befangen sei und ihn seit langem hasse. Er habe mich mal verprügeln müssen, als ich seinen Bruder anbaggerte, und ich würde seitdem immer mal wieder versuchen, mich an ihm zu rächen.« Er trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Das mit dem Anbaggern stimmt, nur war nicht ich derjenige, der Prügel bezog, sondern er, und zwar nicht von mir, sondern von seinem Bruder. Ja, so ist das hier. Hameln ist eine Kleinstadt. Jeder kennt jeden, und die Idioten sterben auch nicht aus.«

Mellie räusperte sich. »Apropos Idioten. Ich hatte heute einen Kunden, der glaubt, seine Nachbarn verfolgen ihn und so ein Zeugs.« Ihr Mund schloss sich wieder, worüber sie selbst am erstauntesten war. Hatte sie sich nicht die ganzen Tage darauf vorbereitet, die Story so amüsant wie möglich und in allen verrückten Einzelheiten zu erzählen? Und alles, was ihr in dem Moment einfiel, in dem es darauf ankam, war ... und so ein Zeugs. Gott, irgendetwas musste während der Sozialisation in ihrer Kindheit schief gelaufen sein.

»War’s das?«, fragte Fred und beobachtete zwei Männer, die sich vorn an der Straße in den Armen lagen. Ein Hauch von Sehnsucht spiegelte sich in seinen Zügen.

»Ja. Glaube schon.« Mellie blickte in die unergründlichen Tiefen ihres Kräutertees und konzentrierte sich darauf, wie ihr die Schamröte in die Wangen stieg.

»Okay, dann übernimm den Fall. Hast du seine Telefonnummer? Gut, dann ruf ihn gleich an, nicht, dass er zu einer anderen Detektei wechselt.«

»Was? Fred, der Typ hatte einen Dachschaden und leidet unter ausgeprägter Paranoia. Er erzählt diese verrückten Hilfe meine Nachbarn bestrahlen mich Geschichten. Wenn ich den Fall übernehme und zweihundert Euro pro Tag kassiere, wäre das so, als würde ich einem unmündigen Kind das Sparbuch abräumen. Der arme Kleine ist komplett durchgeknallt. Vielleicht ist er sogar schon entmündigt worden und aus der Klapse geflohen. Ich kann das nicht.« Melanie war den Tränen nahe.

»Meine liebe Melanie, wir, die Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden leben davon, erwachsenen Kindern die Sparbücher abzuräumen. Schon vergessen? Sieh dir doch all die Idioten mal an, die Gott weiß wem einen Detektiv auf den Hals hetzen. Deshalb existieren wir!« Fred hielt ein wenig erschöpft inne und wedelte ihr mit der Visitenkarte vor der Nase herum. »Ist das seine?«

Sie nickte unter seinem scharfen Blick.

»Webdesigner hört sich nicht eben nach Entmündigung an. Und wenn du sagst, du kannst das nicht, frage ich mich ernsthaft, was du dann in einer Detektei zu suchen hast. Meine Einstellungsbedingungen waren hoffentlich klar. Du erledigst die Sekretariatsarbeit, und wenn Zeit bleibt, übernimmst du nach Anleitung die leichten Fälle. Eine Vollzeitsekretärin kann sich die Detektei nicht leisten, nur damit das klar ist. Okay?«

Mellie biss sich auf die Unterlippe und nickte schniefend.

»Sieh’s mal so«, meinte Alice. »Du folgst ein paar Tage lang einem Verrückten und seinen Geistern, und dann kannst du ihm mit Fug und Recht bescheinigen, dass ihm außer dir nicht eine Socke gefolgt ist. Damit heilst du ihn von seinem Verfolgungswahn, und wir sind um einen Tausender reicher. Alles klar?«

Mellie schniefte noch immer.

»Das wäre also geklärt. Erledigen wir noch den Papierkram, dann könnt ihr meinetwegen für heute Feierabend machen.« Fred rollte auf seinem Schreibtischstuhl rückwärts zum Aktenschrank und schob die Hängeordner hin und her.

»Danke, großer Bwana, aber könnten wir vielleicht noch einmal auf den Rattenfänger zurückkommen? Ich meine, die verstümmelte Leiche, die ich aus der Weser gezogen habe? Hallo! Jemand im Raum, der Interesse an verstümmelten Rattenfänger-Leichen hat? Poch! Poch!« Sie klopfte sich mit dem Fingerknöchel gegen den Kopf und verzog schmerzhaft das Gesicht. Die Rettungssanitäter hatten eine kurze schmale Schneise in ihre lodernde Lockenpracht schneiden müssen. Aus Wundhygienegründen und damit das Pflaster hielt. Es war eine Art einseitige Geheimratsecke geworden.

»Du beharrst also auf dem Märchen. Du bist nicht einfach nur mit dem Auto gegen den Pfosten des Carports gebumst und hast dir den Kopf angeschlagen? Hör zu, Großcousine Alice, ich musste mir die letzten Stunden vor Gericht schon die horrendesten Märchen anhören, also zwing mich nicht, lauter zu werden, um der Farce ein Ende zu setzen.« Fred schüttete den Kaffee in den großen Topf des Ficus. »Bah, was für ein Gift war das denn?«

»Tut mir leid, ich bin noch in der Einarbeitungsphase«, murmelte Mellie und zog ein letztes Mal die Nase hoch. Dann nahm sie allen Mut zusammen, schnappte sich den Telefonhörer von Alices Schreibtisch und wählte eine Nummer.

»Hallo, hier ist Melanie von Rhoden. Ich hätte gern Frau Struckmeier gesprochen. Was? Oh, ja danke, ich warte. Tourist-Information«, wisperte sie in Freds Richtung, der sie mit gerunzelter Stirn anstarrte. Er verzog das Gesicht. »Hallo Heide! Melanie hier. Was? Melanie von Rhoden. Mellie. Ja, genau, die Mellie, die in der Grundschule hinter dir saß. Du, sag mal, ich weiß, es gibt so wahnsinnig viel zu erzählen, weil wir uns so wahnsinnig lange nicht gesehen haben und wir müssen uns unbedingt demnächst mal treffen und über die alten Zeiten quatschen. Was? Nein, mir geht’s gut, nur eine kleine Erkältung. Schnupfen. – Was? Na ja, ich weiß von deiner Mutter, wo du arbeitest. Oder von deiner Schwester? Ist auch egal, im Augenblick habe ich nur eine Frage an dich: Habt ihr von der Stadt eigentlich noch alle eure Rattenfänger beisammen?«

Die anderen beiden starrten sie fassungslos an, doch diesmal ließ sich Mellie nicht beirren. »Warum ich frage? Oh, meine Kollegen und ich hier haben gerade gewettet, wie viele es zurzeit sind, und der Verlierer muss uns andere zum Essen einladen. Ich meine, so richtig schick ins Restaurant. Also, ich bin ja der Meinung, es sind vier Rattenfänger, aber Alice sagt, es seien momentan nur drei, weil sie das Gerücht gehört hat, einer der Rattenfänger sei plötzlich verschwunden. Fred stimmt für fünf. Wie viele arbeiten denn nun tatsächlich für euch? Ich meine, genau heute, in diesem Moment.« In den nächsten Minuten lauschte sie gebannt in den Hörer und stieß nur ab und an mitfühlende oder empörte Ach!’s aus, die alles bedeuten konnten.

Alice rutschte nervös auf der Schreibtischplatte herum, und auch Fred stand mit einem Mal die Spannung in den Augen geschrieben. Als Melanie auflegte, hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit von allen beiden. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

»Also – Samstagabend war ein für die Saison eingestellter Aushilfsrattenfänger für das Frühlingsfest der Banker gebucht worden. Die Feier fand auf einem gecharterten Schiff statt, einem Fahrgastschiff einer der hiesigen Reedereien. Und jetzt kommt’s: Dieser Rattenfänger wurde das letzte Mal gegen halb elf gesehen, als er an der Theke des Schiffes stand und ein Glas Sekt trank. Plötzlich war er dann weg, nur seine Klarinette lag noch auf dem Tresen. So gegen elf. Gebucht war er bis eins. Es kam wohl die eine oder andere Nachfrage, aber so richtig kümmerte sich niemand um den Verbleib des armen Kerls. Um halb eins legte das Schiff in Hameln wieder an, und die Feier ging noch bis etwa drei Uhr weiter. Ohne Rattenfänger. Als endlich alle von Bord waren, fiel einer der Servicekräfte auf, dass zwar die Klarinette vom Tresen verschwunden war, aber in der Kabine unter Deck, die der Rattenfänger zum Umziehen benutzt hatte, noch seine zivilen Klamotten lagen. Was allerdings nicht weiter verwunderlich war, weil der Schiffsführer zu Beginn des Abends die Kabine abgeschlossen hatte. Der Rattenfänger hätte sich also gar nicht umziehen können, bis derselbe Schiffsführer die Kabine gegen drei Uhr morgens wieder aufschloss. Heute Morgen dann erschien er nicht zur Arbeit. Der Rattenfänger, nicht der Schiffsführer. Was sagt ihr jetzt?«

Fred starrte sie wortlos an und schüttelte dann den Kopf mit einer Vehemenz, als wolle er etwas besonders Lästiges herausschütteln. »Das ist unglaublich!«

Alice grinste von einem Ohr zum anderen. »Glaubt’s ruhig, ich habe den armen Kerl eigenhändig aus dem Wasser gezogen.«

»Das meine ich doch gar nicht. Es ist einfach unglaublich, dass es in Hameln mehrere Rattenfänger gibt. Drei oder vier oder was weiß ich wie viele. O mein Gott, wenn ich bedenke, wie oft ich als Kind diesem Rattenfänger – mit Ehrfurcht bitte schön - nachgeblickt habe, und jetzt muss ich erfahren, dass es höchstwahrscheinlich gar nicht ein und derselbe Rattenfänger gewesen ist, sondern nur einer von vielen. Das ist ... das ist ein Sakrileg. Es hat damals nur einen Kerl gegeben, der Hameln von den Ratten befreit hat, und man kann doch wohl erwarten, dass dieser eine Kerl auch nur von einem Kerl repräsentiert wird. Bei uns läuft schließlich kein James-Bond-Film ab, bei dem Sean Connery von Bruce Sowieso und Bruce Sowieso von Bond Nr. 3 abgelöst wird. Und selbst wenn, wenn sie sich abgelöst hätten, diese Rattenfänger, weil einer eben in die Jahre gekommen oder krank geworden wär, ich sag euch, selbst das wäre noch okay gewesen. Aber drei oder vier Rattenfänger auf einmal, dass ist, als wenn ... als wenn es drei Weihnachtsmänner auf einmal gäbe oder ...« Fred fuchtelte mit hochrotem Kopf in der Luft herum. »... oder vier Jesusse. Ein Sakrileg, jawohl. Reiner Kommerz. O du heilige Scheiße, wie tief ist Hameln gesunken.« Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und hörte nicht mehr auf den Kopf zu schütteln. »Man identifiziert sich doch mit diesem einen Rattenfänger, man fühlt und leidet mit ihm, und wenn er dann die Kinder wegführt, denkt man: Seht ihr, ihr blöden Stadtoberen, das habt ihr jetzt davon. Wie kann sich die heutige Jugend mit jemandem identifizieren, der nichts anderes ist als ein Gestaltwandler? Den einen Tag groß und dünn, den nächsten klein und fett. Du meine Güte, wo wird das alles noch enden!« Er nahm seine Brille mit dem schwarzen, eckigen Gestell ab und begann, noch immer kopfschüttelnd, umständlich die Gläser zu putzen.

Es war still geworden im Büro. Hinter dem Bogendurchgang mit den Halbsäulen tickte unablässig die Standuhr, und jenseits der geschlossenen Tür zum Privattrakt von Fred und seinem Lebensgefährten hörte man das Kratzen von irgendwas auf Holz.

Hamlet schärft die Krallen, dachte Mellie und schauderte.

Zum ersten Mal, seit sie Alice kannte, hatte es auch der Kollegin die Sprache verschlagen.

Mörderische Schifffahrt

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