Читать книгу Mörderische Schifffahrt - Charlie Meyer - Страница 15
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Оглавление»So«, gähnte Alice und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. »Alles paletti. Die Getränke hätten wir in der Kasse, den Ordermen habe ich auch einigermaßen im Griff. Mir fehlt zwar noch die Routine, aber Übung macht bekanntlich den Meister. Was macht ihr gewöhnlich um diese Zeit? Ich meine nach den Rundfahrten?«
»Klar Schiff. Mit Staubsauger, Schrubber und viel Wasser.« Inga nippte an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. Dank Gottes Spionin war an Bord die Prohibition ausgerufen worden, und der Kaffee in ihrem Becher war eben nichts anderes als stinknormaler, schwarzer Kaffee. Heißer Kaffee. Drei Tische weiter hockten Eddie und Chris, mittlerweile wieder in Zivil mit Schlabber-T-Shirts und Jeans, und starrten irritiert zu ihnen hinüber. Den Maschinenraum hatten sie schon vor Urzeiten in Ordnung gebracht, doch als sich Eddie auf den Kühlschrank stürzte, waren alle Sektflaschen daraus verschwunden gewesen. Ausgerechnet Inga hatte urplötzlich behauptet, dieser Sekt sei Okko Jansens Sekt, und eine Flasche von Okko Jansens Sekt auszutrinken, sei Diebstahl. Gestern noch war es Medizin gewesen, heute war es Diebstahl. Einfach so – ohne ein näheres Wort der Erklärung.
Alice seufzte. Nach dem aufregenden Nachmittag hatte sie eigentlich nicht vorgehabt, auch nur einen Finger zu rühren. Auf der anderen Seite brauchte sie in den nächsten Tagen das Wohlwollen der drei Crewmitglieder oder wenn schon nicht das Wohlwollen, so doch zumindest die Bereitschaft, mit ihr zu reden. Ohne Informationen keine Chance, den Mord zu lösen, ohne die Überführung des Mörders keine Zukunft. Die Weichen waren gestellt, und wenn sie schlau war, achtete sie bei ihrem Zug auf die richtige Spurweite.
»Okay, also klar Schiff machen. Da ich annehme, dass du allen Neuen gewöhnlich die Klos aufs Auge drückst, melde ich mich freiwillig für die Tische auf dem Freideck und für das Wischen der Gänge. Irgendwelche Einwände?«
Inga guckte skeptisch und zuckte unbestimmt die Achseln. Die Klos selbst putzen zu müssen, stand nicht auf ihrem Plan zu delegierender Aufgaben. Andererseits konnte es nicht schaden, sich nach den Pleiten des Tages nachgiebig zu zeigen. »Habe ich eine andere Wahl?«
Alice lachte. »Nicht wirklich, aber ich schwöre bei den Schuppen der kleinen Meerjungfrau, ab morgen zumindest eins der Klos zu übernehmen. Wer von uns beiden die Herren und wer die Damen bekommt, können wir jeden Tag neu ausknobeln. So, bevor ich mich aufs Oberdeck begebe und Tische abschrubbe, stelle ich dir ein paar meiner angekündigten Fragen. Ich gehe mal davon aus, du bist am Samstagabend die Charter der Banker mitgefahren?«
Inga nickte mürrisch und schauderte, als sie an den Ruck dachte, der durchs Schiff gegangen war, als sie Eddie und Chris gerade einen Becher kalten Kaffee ins Steuerhaus brachte. Ein dicker Ast sei wohl in einem der beiden Heckstrahler geraten, hatten sie gemeint, die beiden. Nur, dass das fragliche Stück Holz im Nachhinein gesehen, durchaus auch die Arme des Rattenfängers gewesen sein konnten. Typisch, sich gerade auf der Libelle erstechen und über Bord werfen zu lassen. Als ob es in Hameln keine anderen Fahrgastschiffe gab, deren Besatzungen über eine kleine Abwechslung im täglichen Einerlei gar nicht mal so traurig wären. Sie hatte mit Eddie und Chris auch ohne Mord an Bord Abwechslung genug, siehe Gottes Spionin. Aber nein, stundenlang krochen die Leute von der Spurensicherung am Montag in ihren weißen Overalls auf der Libelle herum, und puderten auf der Suche nach Fingerabdrücken das halbe Schiff ein. Schließlich zogen sie bedröppelt wieder ab, aber nicht ohne ihr, Inga, einen dermaßen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, dass sie selbst nahe dran war, ein paar Messer in ein paar Nacken zu rammen. War es etwa ihre Schuld, dass sie nach einer Charter das Schiff besonders gründlich putzen ließ? Auf Chartern, besonders auf denen mit Getränkepauschalen, soffen manche Gäste wie die Löcher, mit dem Resultat, dass sich in den entlegensten Ecken des Schiffes der Inhalt ihrer Mägen wiederfand. In der Regel spritzten Eddie und Chris alles ab, was sich abspritzen ließ, vom Vorschiff über das Freideck bis hinten zum kleinen Achterdeck, auf dem das Rettungsboot hing. Währenddessen widmeten sich die Servicekräfte, einschließlich ihrer Wenigkeit, der Innenreinigung, schäumten Teppiche und Klos ein und verfluchten das blöde Büro, das ihnen ständig diese Chartern aufhalste. Geradeso, als wüsste die Besatzung der Libelle an den Abenden mit ihrer Zeit nichts anzufangen, während die Bürotussies in Mo’s Cocktailbar an der Theke hockten, Caipirinhas tranken und über das Schiffsvolk herzogen. Das hatte ihr ein Bekannter, der ab und an dort kellnerte, erst neulich brühwarm erzählt.
Jedenfalls war am Sonntag nach der Charter Großreinemachen angesagt gewesen, nachmittags, als sie alle wieder aus den Augen gucken konnten. Eddie hatten sie außen vor gelassen, er war in letzter Zeit nicht besonders gut drauf, und in eine seiner Weltuntergangsstimmungen geraten, in denen man ihm am Klügsten aus dem Weg ging. In bestimmten Stimmungen neigte der kleine, bierbäuchige Eddie zu aggressiven Schüben, die schon zweimal in ihrer Gegenwart in Schlägereien ausgeartet waren.
Inga seufzte. Eigentlich machte sie sich weniger um Eddie als um Chris Sorgen. Eddie war schon ein großer Junge, im letzten Jahr sechzig geworden. Ein alter Hase, der selbst sehen musste, auf welchen Abgrund er zusteuerte. Aber Chris? In einem Jahr, vielleicht auch erst in zwei Jahren, stürzte er in denselben Abgrund. Eddie und er taten sich nicht gut auf dem Schiff. Chris war ein anständiger Kerl, aber auch anständige Kerle wurden zu Säufern. Und sie selbst? Gab es eigentlich einen Tag in der Woche, an dem sie keinen Alkohol trank? Auf dem Schiff so gut wie nie. Der eine freie Tag zu Hause zählte kaum. Konnte es sein, dass auf der Libelle im Laufe der Jahre ein Schlendrian eingekehrt war, der sie früher oder später alle in den Abgrund stürzte? Unter ihrer Oberaufsicht gewissermaßen?
»Was?« Inga schrak aus ihren düsteren Gedanken hoch, als sie Alices sonderbarem Blick begegnete.
»Ich sagte, die Banker hatten doch einen der Rattenfänger engagiert, oder?«
»Die Leiche, ja«
Alice stutzte einen Moment. Der Mord als solcher hatte noch nicht in der Zeitung gestanden, nur eine kurze Notiz in der heutigen Dewezet über eine Wasserleiche, die jemand aus der Weser gezogen hatte. Ihr Name, warum auch immer, tauchte in dem Artikel nicht auf. Einerseits war sie froh darüber, weil sonst ihre Tarnung aufgeflogen wäre, andererseits ärgerte sie sich über diesen Schreiberling von Polizeireporter, der ganz offensichtlich vor seinem Funkscanner gepennt haben musste. »Verstehe, die Polizei ist also schon bei euch an Bord gewesen.« Was erwartete sie eigentlich? Das Schiff war ein Tatort, die Crew verdächtig. »Was hat die Polizei auf der Libelle herausgefunden? Erzähl einfach alles, was du weißt, bevor wir zu einem anderen Thema kommen.«
Inga schloss kurzzeitig die Augen. Ihr war sonnenklar, was hier vor sich ging. Einlullen, in Sicherheit wiegen und dann den Knüppel hoch und drauf. Das andere Thema musste zwangsläufig irgendeine falsche Abrechnung sein, vielleicht sogar die der Charterfahrt am Samstag, denn Okko Jansen löste keine Sudokus, wenn er sich langweilte, er rechnete Abrechnungen nach. In der Regel war sie ihm nicht einmal gram deshalb. Erstens war sie eine lausige Abrechnerin, das wusste er, und zweitens fehlten bei jeder Inventur, die er zweimal in der Saison anordnete, die Hälfte der Neuanschaffungen. Sie wusste es nicht definitiv, ahnte aber, wo das Zeug abblieb. Chris und Eddie ahnten beziehungsweise wussten es ebenfalls, nur Gott schlug ahnungslos die Hände über dem Kopf zusammen und fragte sich, wie so viele seiner schönen, neuen Sachen plötzlich Flügel bekommen konnten. Zumindest tat er so, auch wenn sie ihm nicht jede seiner zur Schau gestellten Unwissenheiten abnahm.
Eigentlich war dieser Job zum Kotzen. Kaum freie Tage zwischen April und Oktober, eine miese Bezahlung, Überstunden und jede Menge nörgelnder Gäste. Die diesjährige Saison fing eben erst an, und schon geriet ihnen ein Rattenfänger in die Schraube. Kaum wechselte ein Fünfeuroschein den Besitzer, schon teilten sich die Wolken am Himmel und der Blitz in Gestalt von Gottes Spionin streckte einen nieder. Und jetzt auch noch die Fragerei.
Sie atmete tief durch und erzählte vom Rattenfänger. Von seinem Rumgehopse zwischen den Tischen, von den jämmerlichen Flötentönen und wie er dann seine Klarinette auf dem Tresen zurückließ und spurlos verschwand.
»Wo ist die Klarinette und wohin verschwand er denn?«, fragte Alice mit der neutralen Professionalität einer langjährigen Ermittlerin.
Inga stöhnte ungeduldig, verdrehte die bergseeblauen Augen, und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich habe nicht die blasseste Ahnung. Die Bullen haben mich das auch schon alles gefragt. Eben war er noch da, der Rattenfänger, plötzlich war er weg. Über Bord gefallen. Er stand an der Theke, dann ging er aus dem Salon und löste sich – Simsalabim – in Luft auf. Mareike und ich hatten in dem Moment dringlichere Dinge zu tun, als für einen mordgefährdeten Aushilfsrattenfänger Kindermädchen zu spielen.«
»Und die Klarinette?«, erinnerte sie Alice geduldig, als die verantwortliche Servicekraft der Libelle den Mund wieder zuklappte.
»Sie lag auf der Theke, weil der Kerl an der Theke gestanden und Sekt getrunken hat. Übrigens ohne zu bezahlen, der Schmarotzer. Er hat tatsächlich geglaubt, er könne sich hier auf Kosten der Firma durchtrinken. Also habe ich mit ihm erst mal Tacheles geredet. Eine Piccolo Sekt kostet immerhin fünf Euro, und dieser Schnorrer von Rattenfänger wollte sie geschenkt. Ich weiß, es ist böse und pietätlos, über Tote schlecht zu reden, aber so eine Anspruchshaltung regt mich wirklich auf. Entschuldigung!« Aufregen tat es sie tatsächlich, wie man unschwer sah.
Gott, dachte Alice, ohne jemandem im Besonderen zu meinen. Da säuft das Schiffsvolk den Sekt des Chefs kaffeebecherweise, und der Rattenfänger von Hameln wird gnadenlos abgezockt.
»Er hat also bezahlt?«
»Eben nicht. Er ließ die Klarinette da und verschwand. Ich wollte, dass er sein Geld holt und gleich bezahlt, aber er sagte, jemand habe seine Kabine abgeschlossen, sodass er nicht an sein Portemonnaie käme. Dann zog er beleidigt ab. Ich meine, klar, Eddie hatte die Kabine abgeschlossen, warum auch immer, und wenn weniger los gewesen wäre, hätte einer von uns nach oben ins Steuerhaus gehen können, um den Schlüssel zu holen. Aber so ... Als Eddie jedenfalls dran dachte, die Kabine wieder aufzuschließen, so gegen kurz nach halb drei, lagen die zivilen Klamotten des Rattenfängers natürlich alle noch auf dem Bett. Nur der Rattenfänger war eben verschwunden und die Klarinette ebenfalls. Folglich sind wir an Bord davon ausgegangen, er sei eben in seinen Rattenfängersachen nach Hause gegangen und habe die Klarinette mitgenommen, ohne den Sekt zu bezahlen.« Ging es etwa darum? Um die Piccoloflasche Sekt, die nicht bezahlt worden war? Inga erinnerte sich, an jenem Abend eine Strichliste geführt zu haben, weil die Computerkasse tagsüber schon zweimal abgestürzt war und erst von einem EDV-Fachmann überprüft werden sollte. »Geht es um die Charterabrechnung. Habe ich mich vertan?«
Alice lächelte unbestimmt. »Die Klarinette lag also noch auf der Theke, nachdem der Rattenfänger verschwunden war? Und wo ist sie abgeblieben?«
Inga zuckte die Schultern. »Ich habe nicht den geringsten Schimmer. Eben lag sie noch da, plötzlich war sie weg. Genau wie der Rattenfänger.«
»Also könnte sie geklaut worden sein?«
»Glaube ich nicht. Ich habe sie ...« Inga hielt abrupt inne. Ach du liebes Lieschen, es ging um die verdammte Klarinette. Ganz plötzlich kam die Erinnerung wieder. Sie selbst hatte sie vom Tresen heruntergenommen und unter das Regal mit den Gläsern gelegt, weil sie sich Sorgen gemacht hatte, einer der Kunden könnte sie klauen. Na ja, eigentlich nicht ganz. Sie hatte die Klarinette als Pfand einbehalten für den Fall, dass der Rattenfänger von Bord gehen wollte, ohne die Piccoloflasche Sekt zu zahlen. Irgendwann danach war das Instrument jedoch spurlos verschwunden, und jetzt schrien mit Sicherheit die Angehörigen der Leiche Zeter und Mordio.
»Du hast sie was?«, hakte Alice nach.
»Ich habe sie nichts. Ich habe sie liegen gelassen, schließlich dachte ich, der verdammte Kerl kommt jeden Moment wieder und bezahlt seine Schulden bei mir«, fauchte Inga und überlegte krampfhaft, welcher ihrer Kollegen oder Kolleginnen Klarinetten stahl. Eddie verscherbelte nebenbei Sachen aus Wohnungsauflösungen auf dem Flohmarkt, Chris trat ab und an auf der Kinderstation des Krankenhauses als Clown auf und sammelte für bedürftige Kinder Spielzeug und Spenden. Und hatte Mareike nicht eine Schwester, die an der Musikhochschule in Hannover studierte und drei oder vier Instrumente gleichzeitig spielte?
Wer war an dem Abend noch dabei gewesen?
»Wer ist an dem Abend noch bei der Charter gewesen? Eddie und Chris. Du und wer noch? Lina?«
Inga schüttelte den Kopf. »Nein, Lina hatte Dünnpfiff, die saß zu Hause auf dem Pott. Mareike stand mit mir hinter der Theke. Gelaufen sind Ruth und Kirsten und zwei Mitarbeiter vom Caterer.« Ruth musste man zwar von Pralinen, nicht aber von Klarinetten fernhalten, da war sie sich sicher, es sei denn, sie hatte die Klarinette gestohlen und verkauft, um ihre Pralinenvorräte wieder aufzufüllen. Und Kirsten? Inga hatte keine Ahnung, woher Kirsten kam, wohin sie ging und was sie in ihrer Freizeit so trieb. Sie arbeitete nur in den Ausnahmefällen auf der Libelle, in denen alle anderen Aushilfskräfte verhindert waren. Kirsten studierte irgendetwas und sah auf die anderen herab, das schuf kein gutes Arbeitsklima. Wie sie, Inga immer zu sagen pflegte: Die Chemie muss stimmen, Erbse und Prinzessin vertragen sich nicht miteinander. Lara und Thorben, die beiden anderen Läufer im Service waren Angestellte des Caterers gewesen. Von denen kannte sie nicht einmal die Telefonnummern.
»Hey, ihr Schlüpfer da drüben, seid ihr bald fertig?«, brüllte Eddie von der Backbordseite herüber.
»Schnauze!«, brüllte Inga zurück. »Schwingt die Hufe, ihr Transusen, und putzt die Klos. Und dann ab in den Hafen, wenn’s recht ist. Ich hab’ heut noch was vor.«
Alice lachte. Der raue Ton auf See, dachte sie, und zwei Seebären, die sich herumkommandieren lassen und brav die Klos putzen gehen. »Du hast sie gut im Griff«
»Muss ich auch, sonst geht hier nix mehr. Die beiden hecken nur Unsinn aus, und wenn du nicht wie ein Luchs aufpasst, fahren sie los, ohne das Kabel vom Landstrom auszustöpseln. Eins kann ich dir verraten: Bis zur Radfahrerbrücke über den Hafen reicht das Kabel nicht, das haben Eddie und Chris schon mehrfach ausgetestet. Außerdem laufen volle Wasserbunker unweigerlich über, wenn man den Schlauch längere Zeit aus den Augen lässt. Und neulich hätten wir beinahe das Wehrpatent gemacht, weil die beiden oben im Steuerhaus eine Wette darüber laufen hatten, wie weit man an die Wehrkante heranfahren kann, ohne auf Grund zu laufen. Männer eben!«
»Schlüpferheinis!«
Eine Sekunde lang lächelten sich die beiden Frauen verschwörerisch an, dann verpuffte der magische Moment auch schon wieder im Nichts.
»Ich bräuchte die Telefonnummern von allen Servicekräften an dem Abend. Und die Telefonnummer des Bankers, der die Charterfahrt in Auftrag gegeben hat. Am besten alle Informationen, die du über die Charter hast.« Alice blickte an Inga vorbei. Am Fenster des Schiffes drückte sich von außen ein glatzköpfiger Mann die Nase platt, und einen erwartungsvollen Augenblick lang hoffte sie, Jansen zu erkennen. Aber es war nur ein neugieriger Tourist, der auf der Weserpromenade spazieren ging. Enttäuscht wandte sie sich wieder Inga zu. Okko Jansen mochte zwar ein knickriger Knauser und ein schwuler Macho mit einer fürchterlichen Lache sein, aber er sah toll aus. Zum Anbeißen geradezu. Alice dachte an Romeo und seufzte.
»Wieso bekommst du die Telefonnummern nicht über das Büro?« Ingas Misstrauen war erneut geweckt. Der ganze Aufwand für eine einzige geklaute Klarinette? Oder, schlimmer noch, für eine nicht bezahlte Piccoloflasche Sekt? Sollten alle Servicekräfte und alle Banker des besagten Abends einzeln dazu verhört werden, oder wofür brauchte diese Alice die Telefonnummern?
Alice räusperte sich, während sie krampfhaft überlegte. »Das Büro hat von meinem Auftrag hier an Bord keine Ahnung«, gab sie zögernd zu, »und es liegt in deinem eigenen Interesse, es dabei zu belassen. Für das Büro bin ich die Aushilfe Alice, und so soll es auch bleiben.« Bitte, fügte sie in Gedanken hinzu.
Inga starrte sie verblüfft an. Das Büro wusste nichts vom Spion des Chefs? Ach du jemine, was wohl so viel hieß, dass auch das Büro überprüft wurde. Eine Art Rundumschlag. Und der Herr sprach, es werde Licht, und es ward Licht. Ihre Neugier wurde weiter angeheizt. Was auf den Schiffen im Argen lag, wusste sie, weil sie und ihre Kollegen für einen Teil des Argen persönlich sorgten, aber was gab es im Büro zu vertuschen? Ging es etwa um eine Umstrukturierung der Firma, bei der zwecks Abspeckung der eine oder andere Kopf rollen musste? Bei den Büroköpfen hatte niemand vom Schiff etwas gegen das Rollen einzuwenden, was sie produzierten, war ohnehin nur Mist. Doch hier an Bord? Und wenn ja, welche Köpfe? Nautiker wurden gebraucht. Nautiker pflückte man nicht von den Bäumen, schon gar nicht, seit es auf der Oberweser keine Frachtschifffahrt mehr gab. Blieben eigentlich nur die Köpfe der Servicekräfte. Was lag da näher, als ihren Kopf rollen zu lassen? Gott sah sie nicht gern in dieser Position auf dem Schiff, das wusste sie.
»Ich bin nicht nur Servicekraft, ich bin auch noch Matrose«, stieß sie spontan hervor. »Mit Schifferdienstbuch.« Es gab da nur ein Problem. Ein Schiff von der Größenordnung der Libelle benötigte laut Binnenschiffahrtsstraßen-Ordnung einen Schiffsführer, einen Matrose-Motorenwart und einen Decksmann. Ein Matrose ohne Motorenwart, wie sie einer war, wurde nicht gebraucht. Ihr fehlten noch etliche Eintragungen im Schifferdienstbuch, bis sie weiter aufstieg. Die ganze kommende Saison gewissermaßen. Als Decksmann aber brauchte Okko Jansen nicht unbedingt sie, jede andere Servicekraft mit Schifferdienstbuch tat es auch.
Inga dachte scharf nach. Gott hin oder her, ihr gefiel das Leben auf dem Fluss, und solange sich ihr keine attraktive Alternative bot, würde sie den Job gern behalten. Vielleicht, wenn sie einfach mit der Neuen kooperierte? Inga verzog das Gesicht. Das Wort Kooperieren rutschte seit ein paar Jahren auf ihrer Liste gern gebrauchter Worte immer weiter nach unten.
»Warte mal, unter Umständen habe ich was für dich.« Sie stand auf, schlenderte betont langsam zur Theke hinüber und kam mit ein paar zusammengehefteten Seiten eines Computerausdrucks zurück. »Das ist der Wochenplan, den uns das Büro an jedem Freitag ausdruckt, damit wir wissen, wie viele vorgemeldete Gruppen wir zu erwarten haben. Davon hängt die Anzahl der Servicekräfte ab, die ich mir bestelle.« Sie grinste unwillkürlich. Serviceleitung auf dem Schiff machte Spaß, wenn sie der Personalchefin eins auswischen konnte, in dem sie die von ihr bestellten Servicekräfte wieder abbestellte. Das blöde Büro hatte nicht den blassesten Schimmer, wer gut arbeitete und vor allem, wer zu ihnen aufs Schiff passte. »Die Liste beginnt immer am Samstag und endet mit dem darauffolgenden Freitag. Natürlich ändert sie sich noch hundert Mal, wenn neue Gruppen dazukommen, bereits gebuchte Busladungen stornieren oder irgend etwas im Gastrobereich nachbestellt oder abbestellt wird. Kaffeegedecke, Tellergerichte und so was. Für dich ist wohl nur der letzte Samstag interessant. Die Charter der Libelle.« Inga fummelte mit ihren abgebrochenen Fingernägeln die Heftklammer auf, schob Alice zwei eng beschriebene Computerausdrucke über den Tisch und sah ihr mit gerunzelter Stirn zu, wie sie den Text anlas.
»Okay. Danke.« Alice gab sich Mühe nicht zu triumphieren. Als Spionin des Chefs zu gelten, war wie ein Hauptgewinn im Lotto. Unter dem Strich sparte sie jede Menge Zeit ein, und das Beste war, dass Fred bei seiner offiziellen Recherche nie im Leben an Unterlagen wie diese herankam. Auf der anderen Seite barg ihre Rolle auch Gefahren. Was, wenn Gott zu Ohren kam, dass sie seinen Namen missbräuchlich nutzte ...?
»Du hast eben erwähnt, du bist Matrose, also Nautiker. Wieso arbeitest du dann im Service?« Sie las den Text an. Bingo! Der Kunde hieß Felix von Hohenrodt und hinter seinem Namen stand eine Telefonnummer. Die restliche Seite nahmen die Anweisungen für die Umsetzung der Vertragsklauseln zwischen Charterkunde, sprich Bank, und Schifffahrtsgesellschaft ein: Dekoration, Fahr- und Liegezeit, Büffet und was sonst noch alles zum geregelten Ablauf einer Charterfahrt gehörte, die ein paar tausend Euro gekostet hatte. Zum Beispiel die Buchung des Rattenfängers von halb sieben am Abend bis gegen ein Uhr nachts zum Preis von ... Alice stutzte. Ein Schnäppchen war der Kerl nicht gerade gewesen. Vielleicht sollte sie ihre Zukunftspläne noch einmal überdenken und statt der eigenen Detektei einen Rattenfängervermietungsservice aufziehen. Sie faltete alle Blätter sorgsam zusammen und verstaute sie in ihrer geräumigen Handtasche. In so kurzer Zeit an so viele Informationen zu kommen, sollte ihr Mellie erst mal nachmachen. Oder Fred, der Blödmann.
»Was?«, fragte sie aufgeschreckt. »Entschuldige, ich war gerade abgelenkt.«
Inga gab sich Mühe mit ihrer Geduld. »Ich sagte, um auf deine Frage zurückzukommen. Nautiker wird man automatisch dadurch, dass du dir beim Wasser- und Schifffahrtsamt in Minden ein Schifferdienstbuch ausstellen lässt. Sobald du es in Händen hälst, bist du automatisch Decksmann. In dem Ding werden in der Folgezeit all deine Fahrten auf den Schiffen eingetragen, und wenn du eine bestimmte Anzahl von Fahrten innerhalb einer bestimmten Zeit zusammenbekommst, rückst du auf der Nautikerleiter automatisch eine Stufe höher.« Inga schob sich den überlangen Pony aus dem Gesicht. Hoffentlich endete diese Befragung bald. Sie war müde, sie hatte Durst auf etwas anderes als heißen Kaffee, und es juckte ihr in den Fingern, nach dem Handy zu greifen, um all ihre Kollegen zwischen hier und Hannoversch Münden vor Gottes Spionin zu warnen. Obwohl, wenn herauskam, dass sie diese streng geheime Information ausgeplaudert hatte, war ihr Kopf tatsächlich der erste, der rollte. Bei Licht besehen, würde sie sogar Chris und Eddie gegenüber den Schnabel halten müssen. Wenn die beiden getrunken hatten, war das Letzte, auf dass sie sich bei ihnen verlassen konnte, Diskretion.
»Also so ganz verstehe ich das nicht. Was meinst du mit eine Stufe höher?« Alice versuchte sich zu konzentrieren, aber eben machte Chris auf dem Anleger die Leinen los und sprang an Bord. Die Libelle tuckerte Richtung Hafen.
»Wenn dir das zuständige Wasser- und Schifffahrtsamt ein Schifferdienstbuch ausstellt, steht als Eintrag Decksmann drin. Die unterste Stufe der Nautiker-Karriereleiter. In dieses Schifferdienstbuch lässt du dir fleißig jede deiner Fahrten eintragen. Wenn du ausreichend Eintragungen hast, rückst du automatisch eine Stufe höher. Du wirst erst Matrose, dann Matrose-Motorenwart und schließlich Steuermann. Nach ein paar Jahren dann kannst du dein Streckenpatent als Schiffsführer machen. Immer vorausgesetzt, der Schiffsführer, unter dem du fährst, ist nicht so ein fauler Sack wie Eddie und trägt dir jeden Abend tatsächlich deine Fahrten ein. Sowohl ins Logbuch des Schiffes als auch in dein persönliches Schifferdienstbuch.«
Alice runzelte die Stirn. »Aber du musst vor jedem Karrieresprung theoretische und praktische Prüfungen ablegen?«
Inga grinste halbherzig. »Nö! Nur wenn du als Schiffsführer dein Streckenpatent machst. Dann musst du im WSA in Minden ein paar Fragen beantworten.«
»Und eine Art Führerschein machen, hoffe ich jedenfalls. Ich meine, praktisch unter Beweis stellen, dass du fahren kannst.«
»Nö!« Ingas sommersprossiges Gesicht verzog sich diesmal zu einem ausgesprochen breiten Grinsen. »Wenn du zum Beispiel dein Streckenpatent auf der Weser zwischen Hameln und Bodenwerder machen willst, muss im Schifferdienstbuch stehen, dass du die Strecke achtmal zu Berg, also weseraufwärts, und achtmal zu Tal, sprich weserabwärts, gefahren bist. Ich meine, ob du tatsächlich gefahren bist, im Sinne von am Steuer gestanden hast, das kann im Amt kein Schwein nachprüfen. Sobald du die mündliche Prüfung bestehst, bist du Schiffsführer mit Streckenpatent. Auf diese Art haben früher die Ehefrauen der Frachtschiffeigner ihre Streckenpatente gemacht. Viele Binnenschiffer konnten sich einen zweiten Nautiker an Bord finanziell nicht leisten, also ließen sich die Ehefrauen hochschreiben, legten schließlich die theoretische Prüfung ab und fuhren als zweiter Schiffsführer mit. Anders wären viele Binnenschiffer finanziell gar nicht über die Runden gekommen, und da auf den Frachtschiffen häufig die ganze Familie wohnte und mitfuhr, konnten sie ein Gehalt vollständig einsparen.«
Alice glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. »Heißt das, wenn ich in Zukunft Dampfer fahre, kann es sein, dass oben am Steuer jemand steht, der vom Fahren null Ahnung hat und nur auf dem Papier Schiffsführer ist? Weil er im WSA ein paar Fragen beantworten konnte?«
Inga lachte. Diese Neulinge auf der Weser waren so etwas von strohdumm, dass es schon wehtat. »Wohl kaum«, entgegnete sie. »Die Oberweser ist ausgesprochen kurvenreich und schwierig zu befahren. Sie ist kein kanalisierter Fluss, und es ist auch nicht so, dass du dich immer nur in der Mitte halten musst. Es ist wichtig zu wissen, wo die Fahrrinne verläuft, selbst bei einem Flachgänger wie der Libelle, die laut Schiffsattest nur sechzig Zentimeter Tiefgang hat. Auf der Oberweser misst die Tiefe des Fahrwassers in trockenen Jahren auch schon mal nur siebzig Zentimeter oder weniger. In dem Fall würde die Libelle auf Grund laufen, sowie der Schiffsführer Backbord mit Steuerbord verwechselt oder eben einfach nur versucht, sich mittig zu halten. Deshalb brauchst du für jede einzelne Strecke auch ein gesondertes Patent, und niemand, der eine Zeitlang auf einem Schiff mitgefahren ist, würde sich ohne Übung und Kenntnis der Verhältnisse an das Ruder eines Fahrgastschiffes stellen. Um Schiffsführer zu werden, musst du mindestens vier Jahre als Mitglied der Decksmannschaft mitgefahren sein. Übrigens gibt es auch noch eine reguläre Ausbildung auf einer Schifferberufsschule, praktisch und theoretisch, die nach drei Jahren mit dem Erwerb des Matrosenbriefes endet.«
»Also fährst du momentan als der dritte vom Gesetz vorgeschriebene Nautiker mit, arbeitest aber als verantwortliche Servicekraft, womit dein Herr und Meister, Gott, zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Wirklich geschickt.« Alice feixte. Mittlerweile bogen sie in die Hafeneinfahrt ein. An der Backbordseite tuckerten sie an den hohen Getreidesilos der ehemaligen Kampffmeier-Wesermühlen und den Waggons der Hafenbahn vorbei, steuerbord an ein paar Hausbooten, die mehr oder minder verrottet aussahen.
»Wir sind gleich da. Schnapp dir Eimer und Schwamm und fang mit den Tischen an, ich mache mich über den Salon her.« Inga stemmte sich in die Höhe. Zehn Kilo zu viel, dachte sie genervt. Vielleicht sollte sie doch die abendliche Tafel Schokolade weglassen und wieder, wie früher, joggen gehen.
»Okay, ich danke für deine Mitarbeit. Du weißt schon wer wird es wohlwollend zur Kenntnis nehmen.« Alice erhob sich ebenfalls und sprang leichtfüßig den Niedergang ins Unterdeck hinunter. In der Küche stellte sie einen Eimer in die Spüle und suchte vergeblich nach einem Wasserhahn, wie sie ihn kannte. Es gab nur einen langen Schlauch mit einer Düse, die über dem Becken baumelte, und sich mit Druck auf einem seitlich angebrachten Hebel Wasser abringen ließ. Während das Wasser in den Eimer spritzte, blickte sich Alice prüfend um. Die Küche war zweckmäßig eingerichtet mit dem überdimensionalen Gasherd, der großen, grauen Geschirrspülmaschine, mit Mikrowelle und Spüle an den Seiten und einer geräumigen Arbeitsinsel in der Mitte. Ein rutschfestes Noppenlinoleum undefinierbarer Farbe bedeckte den Fußboden, und die schwarzen Schlieren um einzelne Noppen zeugten davon, wie schwer es zu reinigen war.
Vor der Küche gab es noch einen kleinen Salon der Holzklasse, der laut Inga nur bei Charterfahrten und dann auch nur als Garderobe dem Publikum zugänglich gemacht wurde. Ansonsten diente er der Besatzung als Pausenraum, in dem sie zusammenhockte, rauchte, kalten Kaffee trank und sich gegenseitig ihr Leid klagten. Unterbezahlt – überarbeitet – frustriert. Hinter einem Vorhang in der Bugspitze lagerten, zu einer wackligen Pyramide aufgestapelt, Leergutkisten, das vorgeschriebene Kontingent an Rettungskissen und sonstiges Gerümpel.
Alice stellte das Wasser ab und begab sich schnurstracks aufs Oberdeck, das mit Ausnahme des Steuerhauses im vorderen Teil des Schiffes die gesamte Fläche einnahm. Ein paar Gläser standen noch auf den Tischen herum. Sie winkte Chris zu, der in der Tür zum Steuerhaus stand und ihr trübselig entgegenblickte, während der kleine Eddie hinter den halb geschlossenen Sonnenjalousien durch das rückwärtige Fenster nicht zu sehen war. Alice stellte den Eimer auf einem Tisch ab und beugte sich wie zufällig über die Reling. Erst Steuerbord, dann Backbord. Nein, wer von hier oben über die Stangen geschubst wurde, stürzte eine Etage tiefer unweigerlich an den breiten Salonfenstern vorbei. Irgend jemand musste den Fall des Rattenfängers bemerkt haben, wenn auch nur als stürzenden Schatten aus den Augenwinkeln. Höchstwahrscheinlich hätten die Chartergäste sogar den Platsch gehört, mit dem die Leiche in der Weser landete. Über die Reling achtern konnte er ebenfalls nicht gefallen sein, weil er sonst auf dem kleinen Deck mit dem Rettungsboot gelandet wäre.
Das Oberdeck kam also für den Mord nicht infrage, es sei denn Chris und Eddie hatten den Mord gemeinschaftlich verübt, was natürlich ebenfalls eine Variante war, wenn auch keine sehr wahrscheinliche.
Unter den kritischen Blicken von Chris’ blassen Augen und seinen skeptisch zusammengezogenen weißblonden Brauen begann sie mit Hochdruck, die langen Holztische vom Rest der Gläser zu befreien und mit der rauen Seite des Schwamms abzuschrubben. Keine zehn Minuten später hängte sie sich den Eimer über den Unterarm, fasste mit jeder Hand einen Schwung Bierseidel am Henkel, stiefelte vorsichtig die steile Eisentreppe hinunter und öffnete mit dem Ellenbogen die Glastür zum Achterdeck. Sie blieb einen Moment stehen, um sich vorzustellen, wie es hier im Dunkeln aussah. Durch das Glas der Tür musste auf begrenztem Raum Licht aus dem Gang gefallen sein. In einer Ecke, gleich neben der Reling, lag eine dicke Taurolle, deren übereinanderliegende Schlingen verrutscht waren. Ein schlampiger Nautiker oder hatte jemand auf dem Tau gesessen?
Hinter ihr öffnete sich die Glastür. Chris überragte sie um einen knappen Kopf und guckte trübsinnig auf sie hinunter. »Wenn du ein Tablett nimmst, geht’s schneller mit dem Abräumen. So musst du mehrmals laufen.«
»Was? O ja, sicher, das nächste Mal. Sag mal Chris, diese Taurolle, liegt die immer in dieser Ecke?« Warum, fragte sie sich plötzlich, hatte Chris eigentlich nicht einen Teil der Gläser mit nach unten gebracht. Ihr beim Abräumen geholfen, anstatt blöde Ratschläge zu erteilen?
Er kratzte sich am Kopf und dachte nach. »Glaube schon. Das da ist das Tau von einem Hochseefrachter. Das nehmen wir als Deko für Charterfahrten und so. Warum?«
»Ach ich frag nur so, weil nach dem neuen Gesetz im Inneren des Schiffes ja Rauchverbot herrscht, und hier draußen könnte man sich einfach bequem auf die Taurolle hocken und eine qualmen.«
Der zweite Nautiker der Libelle fuhr sich mit der Hand durch den grauen Stoppelhaarschnitt. »Wenn keine Gäste an Bord sind, darfst du qualmen, wo du willst, Mädchen. Und jetzt muss ich das Schiff anbinden gehen.«
Alice verspürte einen deftigen Klaps auf dem Po, dann drehte sich Chris auf den Hacken um und die Tür fiel hinter ihm zu. Ihr hingegen stand der Mund offen. Du meine Güte, was strahlte sie denn für Signale aus? Und Mädchen? Der Kerl und sie waren etwa gleichaltrig. Na ja, wie der Herr so’s Gescherr, dachte sie, und sah Jansen vor sich, wie er im Büro um sie herumspazierte. Dies hier war nur einen Schritt weiter.
Zum zweiten Mal an diesem Tag knallten sie gegen einen Anleger. Diesmal gegen den Ponton im Hafen, der den Schiffen als Anleger diente und arg ins Schwanken geriet. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, schnappte sich Alice ein Tablett von der Theke und holte die restlichen Gläser vom Freideck. Drei Biertulpen hatte Eddies schwungvolles Anlegemanöver vom Tisch gefegt. Die Scherben lagen auf dem halben Deck verstreut. Als sie sich mit dem vollen Tablett vorsichtig die enge Eisentreppe hinuntertastete, saugte Inga gerade den Gang vor den Toiletten ab.
»Du, sag mal«, brüllte Alice gegen den Staubsauger an. »Hat der Rattenfänger eigentlich geraucht?«
Inga dachte angestrengt nach. »In meiner Gegenwart jedenfalls nicht«, sagte sie nach einer Weile achselzuckend und saugte um Alices Füße herum.
Alice spülte gerade Gläser, als sich Eddie hinter die Theke schob. In der nächsten Sekunde fühlte sie sich aufs Heftigste umarmt, und der ganze kleine, bierbäuchige Eddie mit allem, was er hatte, drückte sich gegen ihren Rücken, während seine Hände vorn auf Wanderschaft gingen.
»Hey«, protestierte Alice wütend. »Dir geht’s wohl zu gut.« Sie schlug über die Schulter mit dem Geschirrtuch zu und hörte einen empörten Schmerzensschrei. Die Hände ließen sie los. Sie fuhr herum, aber Eddie war bereits in die Ecke zur Kaffeemaschine geflüchtet und hielt sich das Auge, während er panisch: »Ist es noch drin? Ist es noch drin?«, rief und mit dem anderen Auge auf dem Boden umher spähte, als erwarte er, seinen herausgeschnippten Augapfel unter die Theke rollen zu sehen.
Och nee, dachte Alice erschrocken, ein gebrochener Finger, herausgeschnippte Augen, meine Anwesenheit tut dem Schiff nicht gut. »Hände weg und sehen lassen!«, kommandierte sie streng, und Eddie gehorchte. Der Streifen einer blutunterlaufenen Hornhaut mit Pupille und allem Drum und Dran blinzelte durch ein halb geschlossenes Augenlid.
»Alles bestens«, stellte Alice erleichtert fest. »Das Auge ist noch drin, aber wenn du so etwas bei mir noch mal versuchst, ist bald ein Teil von dir ab, den du schmerzlicher vermissen würdest als das Auge.«
»Was?«, fragte Eddie verständnislos.
»Ich sagte, ich kastrier dich beim nächsten Versuch. Das kannst du auch deinem Kumpel Chris ausrichten.«
»Ach so.« Eddie presste sich erneut die Hand aufs Auge und schlurfte von dannen. Der Kranz weißer Haare stand empört von seiner tomatenroten Platte ab.
Später, als sie ihre Sachen aus der Kabine holte, hörte sie, wie Eddie zu Chris in der Küche sagte: »Sie sieht ja ganz schnuckelig aus, aber wenn man sie nicht mal anfassen darf ...«
»Wahrscheinlich ne Lesbe«, sagte Chris, der Kinderkrankenhausclown, und stopfte sich ein kaltes Würstchen in den Schlund.
»Bis morgen«, brüllten beide Männer im Hafen am Senator-Meyer-Weg, als sie in ihre Autos einstiegen und davonbrausten. Das heißt, Eddie machte noch einmal eine Vollbremsung, fuhr zurück, kurbelte das Fenster herunter und starrte Alice aus eineinhalb Augen an. »Und nicht vergessen, einen frischen Schlüpfer anzuziehen.«
Dann war er weg, Chris ebenfalls und so wie es aussah, hatte sich auch Inga mit ihrem Roller bereits in den Feierabend verabschiedet, ohne ihrer neuen Aushilfe, Gottes Spionin, wenigstens Auf Wiedersehen zu sagen.
Und nun?, fragte sich Alice und blickte die unwirtliche Straße hinunter, die mehrere Schienenstränge der ehemaligen Hafenbahn kreuzten. Weit und breit kein Taxi, weit und breit keine Bushaltestelle, nur Silos und Fabrikhallen auf der einen Seite und der verlotterte Hafen auf der anderen. Alice seufzte und kramte nach ihrem Handy - bis ihr einfiel, dass es noch auf dem Schiff hinter dem Tresen lag.