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Privatdetektei Roderich, Hupe und von Rhoden stand in bunten Buchstaben auf einem handgefertigten Tonschild.

Fred Roderichs Großvater hatte seine berufliche Karriere als armer Töpfer begonnen und als reicher Steuerberater beendet. Der Brennofen stand noch immer im Keller der Villa an der Klütstraße und half Fred Roderichs Freund Axel, seine Tage mit Anstand hinter sich zu bringen. Einer bezahlten Beschäftigung ging er nicht nach.

Fred Roderichs Äußeres entsprach dem eines in die Jahre gekommenen Yuppies, sein Ego litt unter den verpassten Chancen, die ihm das Leben geboten hatte. In jungen Jahren hatte er Gott weiß was werden wollen – und können -, war aber an seiner eigenen Trägheit gescheitert. Die dreistöckige Villa hatten ihm seine Großeltern hinterlassen, als sie sich auf ihren Altersruhesitz in Kitzbühel zurückzogen. Wer weiß, mochten sie gedacht haben, vielleicht ist dieses Geschenk für unseren Versager von Enkel so etwas wie ein Fußtritt in den Allerwertesten, der ihn zu großen Taten anfeuert. Das war vor drei Jahren gewesen.

Das Konzept ging seltsamerweise auf. Fred Roderich gab sich und seinem Leben einen entschiedenen Ruck nach vorn. Er vermietete die beiden oberen Etagen der Villa und – obgleich er von den Mieteinnahmen locker hätte leben können - eröffnete er im Erdgeschoss eine Privatdetektei. Detektiv schien ihm der geeignete Beruf für jemanden ohne Ausbildung, vor allem, wenn er sein eigener Herr sein wollte und ein einigermaßen interessantes Tätigkeitsfeld suchte. Preislich unterbot er die schon länger in Hameln ansässigen Privatdetekteien, und die Auftragslage erwies sich im ersten Jahr als unerwartet gut. Die Kriminalitätsrate stieg ebenso an wie die Scheidungsrate, und Nachbarschaftsstreitigkeiten mit nächtlichen gegenseitigen Attacken explodierten geradezu.

Roderichs erster Fall, eine Frau, die ihren Mann der Untreue verdächtigte und für zweihundert Euro täglich den Privatdetektiven Fred Roderich in Anspruch nahm, löste sich quasi von selbst. Dem fremdgehenden Ehemann, Herrn Kaminski, fiel die knallgrüne Ente auf, die ihm den lieben, langen Tag folgte und es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Detektiv und observierter Person, in dessen Verlauf Fred Roderich sich ein blaues Auge einfing und dankend auf sein Honorar verzichtete. Danach fuhr Herr Kaminiski nach Hause, gestand Frau Kaminiski nicht nur einen, sondern gleich drei Seitensprünge und reichte die Scheidung ein. Frau Kaminiski zeigte sich beeindruckt von diesem detektivischen Blitzerfolg, auch wenn sie sich gar nicht hatte scheiden lassen wollen.

Obgleich er kläglich versagt hatte bei dieser seiner ersten Observierung, zog sie einen Schwanz ähnlicher Anfragen aus dem Umfeld der Kaminskis nach sich. Auf nachdrückliches Bitten seiner Eltern stellte Roderich im Jahr darauf seine Cousine zweiten Grades, Alice Hupe, ein, die nach einem schweren Schicksalsschlag aus der Metropole München in die Heimat zurückgezogen war. Er und Alice hatten sich schon als Kinder nicht ausstehen können, und daran änderte sich auch im Verlauf ihrer Zusammenarbeit nichts. Welcher Schicksalsschlag sie bewogen hatte, ins Weserbergland zurückzukehren, dorthin, wo der Bär nicht mal dann tobte, wenn man ihm Knallfrösche in den Hintern schob, erfuhr er nie. Vielleicht gab es gar keinen, und seine Eltern waren Alices Lügen ebenso aufgesessen wie er den Tränen und Beschwörungen seiner Mutter. Zwei Wochen nach Alice Hupes Einstellung fuhr sein Vater den Familienvolvo frontal gegen eine Platane, und Fred war Waise.

In der Detektei allerdings erwies sich Alice Hupe als äußerst effektiv, womit sie ihm keine Chance gab, ihr Angestelltenverhältnis wegen Unfähigkeit aufzukündigen. Um sie zu ärgern und einen Gegenpol zu schaffen, stellte er im dritten Jahr eine weitere Frau ein, obgleich die Auftragslage gerade eben zwei Vollzeitdetektive auslastete. Melanie von Rhoden war der letzte Spross eines total verarmten Adelszweiges und lebte vom Frühjahr bis zum Herbst in einem Gartenhäuschen der Kleingartenkolonie Am Heideweg. Ganz oben auf dem Berg im letzten Haus vor dem Feld. Wo sie im Winter abblieb, würde sich herausstellen, sie arbeitete erst seit vier Wochen in der Detektei, und der Kalender zeigte gerade mal die erste Maiwoche an.

Damit die Detektei größer und bedeutender klang, ließ Fred Axel ein Schild töpfern, auf dem Roderich, Hupe und von Rhoden stand, was allein schon rein rechtlich eine Falschaussage war. Eingetragener Gründer und Betreiber der Detektei war einzig und allein Fred Roderich. Die Ergänzung Hupe und von Rhoden diente lediglich der Augenwischerei. Eine Kragenechse stellt ihren Kragen auf, um größer und bedrohlicher zu wirken, Fred ließ Axel ein Schild mit drei Namen töpfern.

An diesem Morgen schloss Melanie von Rhoden die Tür zu Freds Gründerzeitvilla auf und nahm jene heilige Handlung in Angriff, die in jedem Büro zu Beginn der Arbeitszeit in Angriff genommen wird: Wasser in die Maschine füllen, den alten Filter in den Abfall werfen, den neuen einlegen. Mit anderen Worten: Kaffee kochen. Und das, obgleich sie selbst nur Kräutertee trank.

Melanie von Rhoden war ein zierliches Persönchen mit dicken braunen Haaren, die ihr in einem Zopf den Rücken hinunter bis zur Taille hingen. Aus dem herzförmigen Gesicht blickten große, grüne Augen ein wenig erstaunt in die Welt, und auch ihre bevorzugte Kleidung, karierte Faltenröcke zu flauschigen Rollkragenpullovern und Birkenstocksandalen, ließ gern und schnell den Verdacht des weltfremden Träumerchens aufkommen.

Doch was sich hinter ihrer glatten Stirn an Zahnrädern drehte, war weder altmodisch noch blockiert, sondern fraglos auf dem neusten Stand der Technik. In den vier Wochen, die sie für Roderich nun arbeitete, hatte sie der Detektei eine Internetpräsenz verschafft und den Quellcode jeder einzelnen Seite der gesamten Website eigenhändig und mit überaus flinken Fingern in HTML und Cascading Style Sheets geschrieben. Nur zwei Wochen später entdeckte Google die Website, und wer heute die Begriffe Hameln und Privatdetektiv googelte fand die Detektei an erster Stelle.

Allerdings hatte sich an der diesjährigen Frühjahrsauftragsflaute noch nicht viel geändert, aber der erhoffte Ansturm konnte schließlich jeden Tag einsetzen. Durchaus auch morgen oder übermorgen. Oder erst in drei Tagen. Aber er würde kommen, da waren sich alle einig.

Als die Kaffeemaschine die letzten Wassertropfen durchgurgelte, und eine verführerische Duftwolke durch die Villa zog, tauchte Fred Roderich aus dem Privattrakt des Erdgeschosses auf, den er zusammen mit seinem Freund Axel bewohnte. Wie immer frisch gestylt und in geschmackvollem Arbeitslook knitterfrei gekleidet. Helle Leinenhose, weißes Hemd und zur Auflockerung eine Weste, die an leuchtender Farbigkeit ihresgleichen wohl kein zweites Mal fand, zumindest nicht in Hameln. Seine blonden Haare mit den ausgeprägten Geheimratsecken, beides ein Erbteil seines Vaters, standen scheinbar ungebändigt, in Wirklichkeit aber sorgsam gegelt, in alle Richtungen ab. Seine Mutter hatte ihm dunkle Augen unter dunklen Brauen hinterlassen. Seine Brille mit den eckigen, schwarz gefassten Gläsern stammte mit Sicherheit aus keinem Kaufhaus und beherrschte das schmale Gesicht mit den markanten Zügen. Lange über seine Jugend hinaus musste er wie ein liebenswerter Lausbub ausgesehen haben, jetzt wirkte er wie der Vater des Lausbubs, der in die Jahre kommt. Der schmale Silberreif in seinem linken Ohrläppchen war mit dezenten Brillantsplittern gespickt.

Dafür, dass sich Fred Roderich beinahe zwanzig Jahre lang von seinen Eltern und Großeltern hatte aushalten lassen, während er Tag und Nacht vor dem Funkgerät hockte und mit Funkamateuren aus aller Welt QSL-Karten austauschte, war sein sozialer Aufstieg spektakulär zu nennen. Die Zeiten der QSL-Karten und der grünen Ente waren vorbei, er fuhr mittlerweile einen sportlichen Zweisitzer, einen nachtblauen Triumph Spitfire, Baujahr 1965, mit aufklappbarem Verdeck natürlich und sein ganzer Stolz. Für Observierungen und den täglichen Krimskrams standen der Detektei ein schwarzer Saab und zwei Fahrräder zur Verfügung.

Hameln hatte sechzigtausend Einwohner, die beidseits der Weser lebten und arbeiteten. Die Stadt war das kulturelle Zentrum des Landkreises Hameln-Pyrmont, Mittelpunkt des Zuckerrübenanbaus und stolzer Besitzer eines eigenen Krematoriums. Von Jahr zu Jahr lebte Hameln ein wenig mehr von den Tagestouristen, die in großen Gruppen durch die Gassen der Innenstadt zogen und unter Ohs und Ahs die alten Fachwerkhäuser und das Hochzeitshaus im Stil der Weserrenaissance bewunderten. Darüber hinaus lag die Stadt am Weser-Radweg, der von Hannoversch Münden bis an die Nordsee führte, und schleuste in der Saison täglich Hunderte von Radfahrern durch seine Straßen. An manchen Tagen schob sich eine zähflüssige Menschenmasse durch die Fußgängerzone und die Gassen der Altstadt, aber abends, egal zu welcher Jahreszeit, rollten die Einwohner mit Einbruch der Dunkelheit die Bürgersteige auf und verschanzten sich in ihren Wohnungen.

Es gab einen Hausberg, den Klüt, den seit 1845 ein Aussichtsturm überragte, es gab das eine oder andere zweckentfremdete Forsthaus in den Wäldern, in denen die Hamelner an den Wochenenden speisten, um sich der Natur näher zu fühlen. Es gab die Weser mit einer Insel, dem Werder, mitten im Strom, es gab zwei Wehre, von denen sich eins nützlich machte und Strom erzeugte. Es gab die einzige Rundbogenschleuse in ganz Norddeutschland, was man allerdings nur erkannte, wenn man es wusste. Im Sommer tuckerten die Ausflugsdampfer der drei Hamelner Schifffahrtsgesellschaften weserauf- und weserabwärts.

Alles in allem war Hameln ein hübsches Städtchen in der idyllischen Landschaft des Weserberglandes, in dem, wie in anderen Städten ähnlicher Größenordnung, im Untergrund gern an alten Werten festgehalten wurde. Fred Roderich zog es daher vor, in der Öffentlichkeit keine rote Schleife am Revers zu tragen und auch nicht Hand in Hand mit Axel durch die Straßen zu schlendern. Und das, obgleich es vor nicht allzu langer Zeit sogar eine gleichgeschlechtliche Hochzeit im Hamelner Standesamt gegeben hatte.

Alice Hupe, die Dritte im Bunde, fuhr auch im Dienst ihren Privatwagen, einen weißen Fiat Panda, der eben jetzt die Auffahrt zur Villa hoch brauste und unter dem Dach des Carports mit einem unanständigen Rülpser abrupt zum Stehen kam. Nur Zentimeter vor den hinteren Stützbalken.

»Sobald sie den Carport zum Einsturz bringt, feuere ich sie«, sagte Fred hoffnungsvoll. »Zehn mündliche Abmahnungen sollten reichen. Gemeingefährliches Fahren auf einem Firmen- und Privatgrundstück. Gefährdung von Mitarbeitern und Kunden. Gibt es für so was eigentlich keinen Passus im BGB?«

In der Straßenverkehrsordnung, wollte Melanie eigentlich aushelfen, doch dann schluckte sie die Worte hinunter und beobachtete voll Unbehagen das Lächeln, das über Freds Züge glitt. Sie war vor achtundzwanzig Jahren unter dem Sternzeichen des Krebses geboren, ein Menschenkind mit großem Harmoniebedürfnis, und die ewig unter dem Deckel brodelnde Antipathie zwischen ihren Kollegen belastete sie in zunehmendem Maße. Die beiden Zankhähne kamen mit ihrem chronischen Zwist wesentlich besser zurecht als sie. Aber der Job war ohnehin nur eine Übergangslösung für Melanie, genannt Mellie. Es gefiel ihr nicht sonderlich, im Privatleben wildfremder Leute herumzuschnüffeln und Frauen dabei zu fotografieren, wie sie sich in Abwesenheit der Gatten vom Gärtner zwischen die Beine greifen ließen. Oder, schlimmer noch, treu sorgende Familienväter, die sich ihr Quantum Sex im Puff holten, während Frau zu Hause die sechs Kinder großzog. Bisher hatte sie zwar niemanden observieren müssen und nur einmal Fred bei einer nächtlichen Überwachung begleitet, aber allein die Vorstellung, es könnte eines Tages so weit sein, versetzte sie in Angst und Schrecken.

Ihr schwebte eher ein Tätigkeitsbereich im Webdesign vor, und sie sparte von ihrem Lohn, soviel sie konnte, um sich eines Tages auf eigene Beine zu stellen. Detektivspielen war nichts für zartbesaitete Krebse mit moralischen Wertvorstellungen.

Als Alice Hupe zur Tür hereinstürmte, schien mitten im Raum ein Bündel Energie zu explodieren. Sie war groß und schlank, und eine wilde Mähne roter Locken umgab ihr blasses Gesicht wie ein lodernder Feuerkranz. Sie war keineswegs schön mit dem breiten Mund, der Himmelfahrtsnase und den grau verwaschenen Augen, doch sie hatte das gewisse Etwas, und die Männer fielen ihr reihenweise zu Füßen. Alle bis auf ihren Großcousin Fred.

Alice Hupes Ehrgeiz in der Verfolgung ganz eigener Ziele machte aus ihr eine ausgezeichnete Detektivin. Sie legte Schlingen aus, und sobald sich ihr Opfer verfing, trug sie sein Fell kalt lächelnd zu Markte.

Der Raum, den Fred Roderich in den Anfangstagen der Detektei zum Büro umfunktioniert hatte, war der ehemalige Empfangsraum seiner Großeltern, ein großer, trotz Nordseite lichtdurchfluteter Raum zur Klütstraße hinaus mit zimmerhohen Fenstertüren. Ein Bogendurchgang, von zwei marmornen Halbsäulen flankiert, führte in das angrenzende Besprechungszimmer. Büro und Konferenzraum wiesen die für das Geldbürgertum rechts und links der Klütstraße üblichen hohen, stuckverzierten Decken auf, die Gründerzeitvilla eine ansprechende Fassade mit Erkern und einem Türmchen, in dem Perserkater Hamlet Spinnen fing, sobald es ihm gelang, Axels allgegenwärtiger Fürsorge zu entkommen.

Rechts und links der gewundenen Auffahrt zum Carport und grüppchenweise im großen Vorgarten zwischen Haus und Straße verteilt, fristeten Buchsbaumtiere ihr starres Dasein. Eichhörnchen, Reh, Hase und was sonst noch alles in europäischen Wäldern kreuchte und fleuchte, aus der Heckenschere von Freds Freund Axel entstanden. Es gab sogar Exoten: unter anderem eine Giraffe mit nur einem Horn und einen flügellahmen Flamingo mit überdimensionalem Schnabel. Bei Mellies erster und letzter Zählung am Tag ihres Firmeneintrittes waren es vor, hinter und neben dem Haus achtundzwanzig Buchsbaumwesen gewesen. Manche mehr, manche weniger identifizierbar, und für die eine oder andere Blätterskulptur empfahl sich eine Beschilderung. Der Löwe beispielsweise wurde von Kunden gern als das Ding, aus dem die Sonnenblume wächst, bezeichnet, von der Maus ganz zu schweigen.

»Na Jungs und Mädels, wie war euer Wochenende?« Alice ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, ergriff mit flüchtigem Nicken den Becher mit Kaffee, den Mellie ihr reichte, und schlug die schlanken Beine über. »Alles im grünen Bereich bei euch beiden? Ihr seht ein wenig, wie soll ich es ausdrücken – von der Rolle aus. Läuft das Liebesleben nicht so?«

»Lass uns einfach zum Geschäftlichen übergehen, okay? Einsatzbesprechung.« Fred Roderich lehnte am Aktenschrank, die Arme über der Brust verschränkt, die Beine gekreuzt.

»Ooooch!«, dehnte Alice. »So schlimm. Wer war denn der böse Bube. Axel oder du?«

Fred rührte sich nur minimal, nicht mehr als ein Zucken durchlief seinen Körper, aber Mellie schien die Erde unter wütend scharrenden Hufen zu erbeben und kleine weiße Wölkchen aus geblähten Nüstern zu quellen.

»Einsatzbesprechung«, echote sie hektisch. »Los kommt schon, ihr beiden, lasst uns anfangen. Was gibt’s heute an Aufträgen und wer erledigt welchen? Fred? Hat schon jemand die E-Mails abgerufen? Alice, du? Was ist mit der Post? War der Briefträger schon da? Weiß ich eigentlich, wo der Briefkasten ist?«

Eine verblüffte Stille folgte Mellies Ausbruch hektischer Betriebsamkeit, dann begann der normale Alltag in der Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden. Alice arbeitete nach wie vor an einer Scheidungsgeschichte, Fred musste morgens zum Gericht, um im Fall eines um sich schlagenden Familienvaters auszusagen. Mellie wurde wie immer zur Bürohüterin ernannt. E-Mails gab es nur Spams, die Post kam erst gegen elf. Kurze Zeit später war sie allein im Büro, als Hamlet, Axels Perserkater mit düsterem Gesicht zur Tür hereinstolzierte und um ihre Beine strich. Das hatte er noch nie getan. Offenbar mochte er sie und warb um ihre Gunst. Mellie lächelte beglückt.

Als der Kater auch noch kläglich zu miauen begann, konnte ihr Herz nicht widerstehen. Sie legte ihre Hände sanft um seinen Körper und hob ihn vom Boden hoch. Im nächsten Augenblick implodierte Hamlet. Was sie für einen harmlosen, liebebedürftigen Kater gehalten hatte, mutierte im Bruchteil einer Sekunde zu einer fellbewachsenen, fauchenden Kampfmaschine aus Krallen und Zähnen.

Sie ließ ihn fallen wie eine heiße Kartoffel und schlug instinktiv die Hände vors Gesicht. Doch er griff kein zweites Mal an. Dafür sauste eine Fellrakete zur Bürotür hinaus. Sie hinterließ eine geschockte Mellie, die unter Tränen zwischen ihren Fingern hindurchblinzelte, und einen tiefen Kratzer in Mellies Unterarm, aus dem Blut auf das helle Parkett tropfte.

In diesem sensiblen Augenblick läutete die Türglocke.

Einen Moment lang setzte Mellies Herzschlag aus. Kundschaft? Sie hatte noch nie einen Kunden empfangen und schon gar nicht allein. Bisher hatte sie doch nur am Computer gesessen, Kundendaten eingegeben, Überwachungsprotokolle vom Diktafon getippt, Rechnungen geschrieben, an ihrer Statistik gearbeitet und Kaffee gekocht. Davon abgesehen brauchte niemand zu klingeln, man musste nur die Türklinke hinunterdrücken, schließlich war eine Detektei so etwas Ähnliches wie ein Ladengeschäft, in das man hineinspazierte, um sich irgendetwas zu kaufen. In diesem Fall die Dienste eines Detektiven.

Die Türglocke bimmelte ein zweites Mal. Mellie schniefte ausgiebig, wischte sich dann hastig die Tränen ab und stolperte, noch halb blind, zur Haustür.

Es gab Männer, vor denen sie sich fürchtete oder zumindest so großen Respekt hatte, dass sie ihnen kaum in die Augen zu sehen wagte. Große, gut aussehende Männer mit einem Ego, das ihre Körperlänge noch um einiges überragte. Wie Fred Roderich. Hatte sie zumindest anfangs geglaubt. Mittlerweile konnte sie Schein vom Sein trennen und von Freds Ego war bei Licht besehen nicht viel mehr als ein Fingerhut voll übrig geblieben. Ihr Besucher jedenfalls gehörte nicht zu diesen Ego- und Gestaltriesen. Klein, schmächtig, die blassen Augen hinter verschmierten Brillengläsern, vor Nervosität flatternde Hände – Mellie fühlte sich spontan von ihm angesprochen. Er weckte ihre Gluckeninstinkte, und kaum, dass sie ihm die Tür öffnete, breitete sie auch schon ihre Flügel aus. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sie sich von einem grauen Büromäuschen in die Chefin einer erfolgreichen Detektei. Sie presste ein Taschentuch auf den blutenden Kratzer und legte los.

»Willkommen in der Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden. Kommen Sie herein, setzten sie sich – da bitte, ja, da ist es perfekt.« Sie führte ihn zur Sitzecke im Glaserker. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Nein? Okay, dann erzählen Sie bitte, was wir für Sie tun können.«

Seine flatternden Hände falteten sich in seinem Schoß, und ein Nerv im linken Augenwinkel begann hektisch zu zucken. Während er nach Worten suchte, fand sie Zeit, ihn näher zu betrachten. Er trug Jeans mit ausgebeulten Knien und ausgefransten Säumen, Jeans, die schon vor zwei Wochen hätten gewaschen werden müssen. Das angegraute T-Shirt hatte einen Riss etwas unterhalb der linken Brustwarze, und das labberige schwarze Jackett, das er offen darüber trug, wies abgescheuerte Ärmel und blanke Ellenbogen auf. Seine Haare waren hellbraun und wirr, und vom Kinn hing ihm ein spitzer brauner Ziegenbart. Er roch, und das nicht nach Deo und Aftershave. Keine angenehme Erscheinung, alles in allem, doch Mellies Intuition meldete sich unverzüglich zu Wort: ein hilfloser kleiner Kerl, der deine Hilfe braucht, obgleich da etwas in seinem Blick war, das sie mit seiner Erscheinung und seinem Verhalten nicht recht in Einklang zu bringen vermochte. Etwas, das sie nicht benennen konnte.

»Verraten Sie mir doch erst einmal Ihren Namen. Ich heiße Melanie von Rhoden.«

»Hajo«, murmelte er kaum verständlich und räusperte sich zu einem Neuanfang. »Hajo Claus. Ich wohne hier in der Nähe und ... »

»Ja?«

»Sie werden denken, ich bin durchgeknallt.«

»Ach, um Himmels willen, ganz bestimmt nicht. Erzählen Sie einfach und überlassen Sie das Übrige uns. Sie sind in dieser Detektei in den allerbesten Händen, und solange ich hier arbeite, ist noch keiner unserer Kunden in einer Zwangsjacke abtransportiert worden.« In den vier Wochen, die sie in der Detektei arbeitete, hatte sie genau zwei Kunden kennengelernt. Aus sicherer Entfernung versteht sich. »Na kommen Sie, den ersten Schritt haben Sie bereits getan, in dem sie durch diese Tür spaziert sind. Der Rest ist doch ein Kinderspiel.«

Er hob den Kopf und starrte sie intensiv an mit seinen blassen Augen durch die verschmierten Brillengläser. Mellie wurde ein wenig unbehaglich zumute. Da war es wieder, dieses bestimmte Etwas in seinem Blick.

»Meine Nachbarn mögen mich nicht. Sie bestrahlen mich.«

Ach du Schande, dachte sie erschrocken. Durchgeknallt.

»Und sie hören mich ab«

»Was? Warten Sie mal ...«

»Sie belauschen mich. Wenn ich Selbstgespräche halte, und sogar, wenn ich aufs Klo muss.«

»Herr ...« O mein Gott, wie war noch der Name gewesen? »Hajo, ich darf doch Hajo zu Ihnen sagen, ja? Jetzt hören Sie …«

»Sie hören mein Telefon ab, verstehen Sie. Sie haben sich in die Hausleitung eingeklinkt und hören zu, wenn ich telefoniere.«

»Hajo, Sie ...«

»Sie verfolgen mich, wenn ich rausgehe. Auf dem Fahrrad und zu Fuß. Eben konnte ich sie abhängen, in dem ich kreuz und quer durch die Seitenstraßen gefahren bin und mein Fahrrad ganz woanders abgestellt habe, verstehen Sie. Sonst folgen Sie mir immer, egal wohin ich fahre. Und ist das nicht komisch? Selbst, wenn ich Ihnen gleich zu Anfang entwischen kann, mit dem Fahrrad, meine ich, finden sie mich wieder. Sogar wenn ich nach Rinteln oder Bodenwerder fahre.«

Erst jetzt entdeckte Mellie die Fahrradklammer an seinem rechten Hosenbein.

Er schniefte und kramte ein löchriges Papiertaschentuch aus der Hosentasche, das wohl schon die eine oder andere Woche in Gebrauch war.

Klapsmühle, dachte sie geschockt. So ein armes Kerlchen.

»Okay, Hajo, lassen Sie uns mal sehen ...«

»Wenn ich meine Schuhe anziehe und meine Jacke und mit den Schlüsseln klappere, ich meine, bei mir im Flur, dann öffnet sich in der Wohnung unter mir schon das Klofenster, und wenn ich aus dem Haus komme, dann hängt sie oben über der Fensterbank und guckt auf mich runter und dann ...«

Er stockte.

»Und dann?«, hakte Mellie sanft nach. »Was tut sie dann? Und wer ist diese sie überhaupt?«

»Sie ist seine Frau. Rosenbuschs Frau. Sie sagt ihm die Richtung, in die ich gehe. Und er kommt dann aus dem Haus und schleicht mir nach. Beinahe jeden Tag. Wenn nicht er, dann folgen mir die anderen. Den ganzen Tag über. Egal, wohin ich gehe. Sogar, wenn ich nachts das Haus verlasse. Wer die sind, weiß ich nicht, aber es sind mehrere.« Hajo Claus sackte auf seinem Stuhl noch weiter in sich zusammen. Ein Häufchen Unglück auf zwei Beinen, die ihn offenbar kaum noch trugen. Mit einem Kopf, in dem das Wort Chaos eine neue Bedeutung bekam.

»Wer, Hajo? Wer folgt Ihnen?« Webdesign, dachte sie. Alles andere ist besser als dieser Job. Computer leiden nicht unter Verfolgungswahn.

Ihr Kunde hob mit großer Anstrengung sein Kinn. Aber er sah nicht sie an, sondern starrte an ihrem linken Ohr vorbei in die Zimmerecke. Dorthin, wo der zwei Meter hohe Ficus benjamini von Tag zu Tag kahler wurde.

»Mein Nachbar aus dem Haus«, flüsterte er. »Sage ich doch. Der unter mir wohnt. Herr Rosenbusch. Und Frau Rosenbusch hängt aus dem Klofenster und zeigt ihm die Richtung, in die ich gehe. Oder sie lauert mir auf der Treppe auf, oder unten beim Briefkasten, oder vorm Haus, und dann ... dann fragt sie mich, wo ich hin will. Auf der Straße folgen mir auch die anderen. Sie lösen sich ab, verstehen Sie? Sie sind perfekt organisiert. Ich weiß nicht, wie sie sich unterwegs verständigen. Per Handy vielleicht? Außerdem sind da noch die Autos ...« Er verstummte und schien nach Worten zu suchen.

»Die Autos?«

Hajo Claus nickte bedeutungsschwanger.

»Sie stehen am Radweg an strategisch günstigen Stellen, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Bin ich zu Fuß, parken sie einfach irgendwo am Straßenrand, und dann, wenn ich vorbeikomme, dann fängt wieder das Kribbeln an. Dann wird mir übel, und ich verliere ganz plötzlich das Gleichgewicht. Die Ohren sind zu, und dann fangen diese grässlichen Kopfschmerzen an. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Zu Hause kann ich nicht mehr lesen. Sie bestrahlen mich, verstehen Sie? Mit Hochfrequenz. Überall. Nicht nur zu Hause, sondern auch draußen. Sogar im Bus. Und nachts kommt dann die Wolke von unten. Oder besser der Strahl. Aus Rosenbuschs Wohnung. Wenn ich liege, fühlt es sich unter mir an wie sprudelndes Wasser. Als wenn man in einem Whirlpool mit dem Rücken vor der Düse sitzt. Nur ist es kein Wasser, sondern Energie. Eine sprudelnde Energiequelle, nur eine Handbreit im Durchmesser. Unter mir, wenn ich im Bett liege.«

Mellie schluckte und schwieg. Was gab es da noch zu sagen?

»Die bestrahlen mich, vielleicht sogar mit Strahlung im Mikrowellenbereich, verstehen Sie, weil ich dann doch immer das Gleichgewicht verliere. Und ich will wissen wer. Ich meine außer Rosenbuschs natürlich. Rosenbuschs Adresse kenne ich ja, aber wer sind die anderen? Wie heißen sie? Wo wohnen sie? Deshalb bin ich hier. Manchmal hupen sie auch, die Autofahrer, damit ich merke, dass sie mich aufgespürt haben. Die im Auto trauen sich so etwas. Die mir zu Fuß folgen, kriegen Schiss und laufen weg, wenn ich mich umdrehe und auf sie zugehe.«

Mellie atmete tief durch. »Was genau soll ich für Sie tun, Hajo? Was kann ich tun?«, stieß sie krächzend hervor, und ihre Stimme schwankte unsicher.

Er drehte den Kopf, starrte sie an und runzelte die Stirn. »Wie ich schon sagte: Ich will Namen. Namen und Adressen. Ich will wissen, wer mir folgt und wer mich bestrahlt. Außer Rosenbuschs, meine ich. Ich kann nicht mehr. Ich halte es nicht länger aus. Es muss aufhören. Ich kann nicht mehr schlafen, weil da diese Strahlenquelle nachts unter meinem Bett sprudelt. Mein Herz holpert. Meine Füße und Hände tun mir so furchtbar weh. Vor allem die Fußsohlen brennen ganz schrecklich. Die Füße und Hände sind voll mit kleinen, sich verzweigenden Nerven, wussten Sie das? Deshalb tun Verletzungen an Füßen und Händen besonders weh. Es ist auch nicht so, dass die Strahlung nur von unten kommt. Auch von den Seiten. Von draußen. Aus anderen Wohnungen. Wenn ich Namen und Adressen habe, dann kann ich etwas unternehmen, wissen Sie? Mir Hilfe holen und machen, dass es aufhört. Von Ihnen brauche ich nur die Namen und Adressen, weiter nichts.«

Mellie hielt es ebenfalls nicht länger aus und stieß mühsam hervor. »Ich sage Ihnen, was wir machen. Sie geben mir ihre Telefonnummer. Ich bespreche Ihren Fall mit meinen Kollegen, und vielleicht hat der eine oder andere eine Idee, wie wir Ihnen helfen können. Und bis dahin fahren Sie einfach wieder nach Hause und trinken eine schöne Tasse Tee.«

Nerventee. Oder Baldrian. Am besten ein Tranquilizer in hoher Dosierung.

»Ich wusste es. Sie glauben mir nicht. Sie denken doch nur, Herrgott noch mal, was ist der Kerl durchgeknallt.« Er sprang erstaunlich geschmeidig auf die Beine. Mellie fuhr ebenfalls hoch und trat hastig einen Schritt zurück, die großen grünen Augen weit aufgerissen.

Sein Benehmen war wie ausgewechselt, unverhohlene Wut verlieh ihm offenbar einen Energieschub, der die letzten Reserven aus seinem schmächtigen Körper zu holen schien. Er bebte am ganzen Leib, selbst sein Ziegenbart bebte. Was, wenn er sie angriff, dieser Verrückte? Doch er langte nur in seine Jacketttasche und zog eine verknitterte Visitenkarte heraus. »Hier, da steht alles drauf. Name, Telefonnummer, alles. Sie rufen mich an? Klar doch. Tut uns leid, Herr Claus, aber Verrückte verweisen wir grundsätzlich an die Landesklinik weiter. Toll und danke auch.« Er holte Luft. »Aber bitte, wenn Sie kein Geld verdienen wollen, ist das Ihre Sache. Und steht nicht auf Ihrer Website: Wir nehmen jeden Auftrag an? Bei uns sind Sie in den besten Händen? Himmel, wie konnte ich nur so blöd sein? Wenn ich übrigens höre, dass Teile dieses Gesprächs die Detektei verlassen haben, oder wenn der sozialpsychiatrische Dienst bei mir klingelt, verklage ich Sie.«

Ohne ein weiteres Wort fuhr er auf den Hacken herum und knallte die Haustür hinter sich zu, dass der Ficus in der Ecke sich weiterer Blätter entledigte.

Mellie sank in den Sessel zurück. Hatte sie diese brenzlige Situation nun brillant gemeistert oder nach Strich und Faden vermasselt? Sie wusste es selbst nicht, aber als sie in sich hineinhorchte, hörte sie eindeutig das Rumoren großen Unbehagens. Eins stand nun jedenfalls ohne Zweifel fest. Dieses Metier war nichts für sie. Hundertmal lieber als mit Verrückten unterhielt sie sich mit der Festplatte ihres Computers zu Hause im Gartenhäuschen.

Sie beugte sich vor und angelte nach der Visitenkarte, die der Möchtegernklient zurückgelassen hatte. Ihr stockte der Atem:

Ihre Präsenz im Internet. Hajo Claus. Webdesigner. Es folgte die Kontaktadresse. Na ja, vielleicht gab es auch noch andere Berufe, die ihr Spaß machten. Es musste nicht unbedingt Webdesign sein.

Mörderische Schifffahrt

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