Читать книгу Mörderische Schifffahrt - Charlie Meyer - Страница 9
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Оглавление»Wie ist es bei dir gelaufen?« Fred Roderich sah blass aus, übernächtigt, mit schwarzen Ringen unter den Augen, und er fühlte sich noch viel schlimmer als er aussah. Die Ellenbogen auf dem Tisch, stützte er seinen Kopf mit beiden Händen. Was für eine fürchterliche Nacht!
Es war zehn Uhr am Morgen. Die Mitarbeiter der Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden saßen um den großen Walnussholz-Esstisch von Roderichs Großeltern, der in seinen Glanzzeiten unter gefüllten Fasanen in Trüffelsoße und mit Cognac flambierten Rehrücken zusammenzubrechen drohte. Er stand nach wie vor an seinem alten Platz im ehemaligen Esszimmer von Oma und Opa Roderich, nur war das Esszimmer mittlerweile Besprechungsraum und durch einen von zwei Halbsäulen flankierten Rundbogen vom Büro getrennt. An der Wand, wo das Sideboard aus Walnussholz gestanden hatte, hatte Fred Herd und Spüle einbauen lassen, womit der Besprechungsraum gleichzeitig auch als Küche fungierte. Die eigentliche Küche war hinten im Privattrakt der Etage, den Fred und Axel bewohnten.
Heute trug der große Tisch nicht mehr als die leichte Last dreier Handys und zweier Ellenbogen sowie Freds Kopf.
Melanie von Rhoden fuhr mit der Zeigefingerkuppe die Maserung nach. »Was?«
»Wie es bei dir gelaufen ist, möchte ich wissen«, wiederholte Fred stirnrunzelnd.
»Ganz gut«, murmelte sie, ohne aufzusehen.
»Ist der Kunde zufrieden?«
»Denke schon.«
Fred verdrehte die Augen, Alice stöhnte übertrieben.
»Geht’s ein bisschen genauer?«, fragte er genervt. Das fehlte ihm gerade noch, eine Mitarbeiterin, die sich wie ein pubertierendes Gör jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen ließ. Vielleicht war ihre Einstellung ein wenig überstürzt vonstattengegangen. Schließlich verdankte sie ihren Job lediglich seinem Stress mit Alice. Er musste unbedingt versuchen, seine Launen in den Griff zu bekommen.
»Okay. Klar doch. Also – ich bin dem Klienten kreuz und quer durch Hameln gefolgt, und zweimal hatte ich tatsächlich das Gefühl, er wird verfolgt. Außer von mir, meine ich. Das erste Mal war es ein Radfahrer ganz am Anfang. In der Salamanderstraße.« Sie sah noch immer nicht auf. »Das zweite Mal in der Innenstadt ein Fußgänger. Die Osterstraße hinunter bis zum ECE. Aber sicher bin ich mir nicht, es könnte auch Zufall gewesen sein. Der Radfahrer verschwand nach zwei Minuten schon wieder, und den Fußgänger habe ich im Kaufhaus aus den Augen verloren.«
»Verzettle dich bloß nicht«, sagte Alice und gab sich keine Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. »Niemand folgt deinem Typen, schon gar nicht ein ausgeklügeltes Netzwerk mit einer vierundzwanzig Stunden währenden Rundumüberwachung. Du sollst ihn von seiner Paranoia befreien und sie weder verstärken noch dich von ihr anstecken lassen. Denk immer dran: Es ist eine Hilfe meine Nachbarn bestrahlen mich Geschichte, wie du ganz richtig gesagt hast, und davon hat sich bis dato mit Sicherheit keine als wahr erwiesen.« Die Morgensonne, die durchs Küchenfenster schielte, ließ ihre roten Locken förmlich glühen. Man glaubte, das Feuer knistern zu hören. »Nimm ihm einfach die Angst, auf der Straße verfolgt zu werden, und der Rest seiner Paranoia legt sich von selbst. So etwas nennt man höhere Psychologie. Du folgst ihm fünf Tage, dann knöpfst du ihm tausend Euro dafür ab, dass er von nun an wieder ruhig schlafen kann, weil da niemand ist, der ihm etwas Böses will. Die beiden angeblichen Verfolger heute waren bestimmt nur Zufall. Dein Klient wird dir glauben, gerade weil er für diese Info viel Geld gezahlt hat.«
Melanie schob die Unterlippe vor und ging dazu über, das Ende ihres dicken braunen Zopfes zwischen den Fingern zu drehen. Sie trug wie üblich einen flauschigen Rollkragenpullover zu einem karierten Faltenrock, beides in warmen, beruhigenden Erdfarben. »Was, wenn ihm doch jemand folgt?« Was, wenn Fred dich gleich nach den Fotos fragt?
»Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber Alice hat recht«, meinte Fred seufzend. »Du verrennst dich.« Er kratzte sich im Nacken und schob seine rutschende Brille mit den eckigen Gläsern auf die Nasenwurzel zurück.
»Wer sagt das?«, murmelte Melanie mürrisch.
»Ich, und zwar in meiner Eigenschaft als dein Chef und desjenigen, der die größere Erfahrung hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass dein Herr Claus tatsächlich verfolgt wird, ist zwar verschwindend gering, liegt aber nichtsdestotrotz im Bereich des Denkbaren. Ein auf ihn fixierter Spinner, ein verliebter Fan, was weiß ich. Aber mehrere Verfolger an einem Tag? Eine organisierte Vierundzwanzigstundenüberwachung und dann noch diese Bestrahlungsgeschichte? Also wirklich, ich bitte dich. Solche Dinge geschehen einfach nicht.« Während er sprach, versuchte Fred verzweifelt, den mordenden Kater im Taubenschlag auszublenden. Solche Dinge geschehen einfach nicht. Hamlet war im allgemeinen Tohuwabohu entkommen, dafür fuhr jetzt Axel mit einer Stinklaune Hamelns Straßen ab und suchte nach seinem Baby. Statt sich dafür zu entschuldigen – oder zumindest davon zu distanzieren - wie dieses Mistvieh von Kater in der Nacht Freds Auftrag sabotiert hatte, gab Axel Fred die Schuld. Und wie bitte soll Hamlet in den Saab gekommen sein, wenn ihm nicht jemand die Tür aufgeschlossen hat? Eine mittlere Beziehungskrise bahnte sich an, und Fred fühlte sich momentan nicht stark genug, sie einfach auszusitzen.
»Hast du Fotos geschossen?«
Mellie errötete und nuschelte etwas Unverständliches.
»Wie bitte?« Fred hielt sich die Hand hinters Ohr.
»Ich wollte, aber der Akku war leer.«
Niemand sagte etwas. Ärgerlich, aber ein typischer Anfängerfehler. Früher waren es volle Filme, heute im Zeitalter der Digitalkameras leere Akkus. Die Welt änderte sich, das Resultat blieb das Gleiche.
»Schlechte Arbeit«, kommentierte Fred nach einer Weile halbherzig, während vor seinem geistigen Auge blutige Taubenfedern durch die Luft wirbelten. Statt die massakrierten Tauben zu bedauern, fürchtete Axel einzig und allein um Hamlets Gesundheit. Vogelgrippe, ein Knöchelchen, quer im Schlund stecken geblieben, Federflusen in der Lunge. Sollte Hamlet wieder auftauchen, was Fred aus ganzem Herzen nicht hoffte, würde sich der Kater zwei Minuten später in einer Tierarztpraxis in der CT-Röhre wiederfinden, während ihm fleißige Helferchen Blut und Urin abzapften und ihn gegen dreißig Ansteckungen gleichzeitig impften.
»Setzt du die Überwachung heute fort?«, fragte er ohne großes Interesse.
Mellie zuckte die Achseln. »Heute Nachmittag vielleicht.«
»Was heißt vielleicht? Hat er dich weiter mit dem Fall beauftragt oder nicht?«
»Er war ein wenig eingeschnappt. Ich meine, wegen der Kamera und dem leeren Akku. Bei der Sache mit dem Radfahrer in der Salamanderstraße konnte ich ihn hinhalten, aber dann, nachmittags, als ihm der Typ in der Osterstraße folgte, bestand er darauf, die Fotos sehen. Klar, dass er erst einmal sauer war und sich ein bisschen ...« Sie stockte und suchte nach Worten.
»Verarscht vorkam«, ergänzte Alice trocken. »Also bist du den Kunden los.«
Mellie zuckte erneut die Achseln und spielte weiter an ihrem Zopf herum.
Fred öffnete den Mund zu einer geharnischten Strafpredigt – und schloss ihn wieder. Für geharnischte Strafpredigten war er eindeutig nicht in Stimmung. Zu viele Taubenfedern im Kopf.
»Was gibt’s bei dir Neues im Fall Hep... Hepple...?«, fragte er matt und deutete eine Kopfbewegung in Alices Richtung an.
»Frau Heppelweit-Nieberg? Nichts Neues an der Front. Keine Mordpläne, keine Mordanschläge, keine Morde. Nur Liebesgeflüster und das höchstwahrscheinlich auch dort, wo unser Richtmikrofon gegen Wände stößt. Ich meine wortwörtlich gegen Wände stößt. Wenn es in den nächsten Tagen keine eindeutigeren Hinweise auf ein Komplott gegen meine Klientin gibt, sollte ich abbrechen, sonst wird die ganze Sache unseriös.« Alice trank einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Bah, was für ein Zeug.« Eine Detektivin, die sowohl zu dusselig war, eine Digitalkamera zu bedienen als auch trinkbaren Kaffee zu kochen, war unbestritten das i-Tüpfelchen in dieser miesen Detektei. Reichten nicht schon ein unfähiger Chef und paranoide Kundschaft aus? Alice war sich ziemlich sicher, dass irgendetwas bei Freds nächtlicher Überwachung schief gelaufen war, sie spürte es förmlich, sobald sie ihn ansah. Es könnte sogar sein, dass sie dieses schiefgelaufene Etwas am nächsten Morgen in der Zeitung würde nachlesen dürfen.
»Und wie war’s bei dir heut Nacht, Cousin Fred? Ich hoffe, es kam keine Langeweile auf, und alle Täubchen erfreuen sich bester Gesundheit.« Sie lächelte.
Fred verzog das Gesicht. »Die beiden, die überlebt haben, ja, danke der Nachfrage. Ein paar werden noch vermisst, der Großteil wurde begraben und flattert in den Ewigen Fluggründen herum. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber die Polizei geht davon aus, dass etwas wie ein Fuchs in den Taubenschlag eingedrungen ist. Er schlug rasend schnell zu. Keine Chance für mich, das Massaker zu verhindern.« Er log. Sowohl Karolus Breuer als auch seine beiden Nachbarn rechts und links beschworen in seltener Einigkeit, eine Katze und keinen Fuchs, Dachs oder sonstigen Räuber gesehen zu haben. Das würde voraussichtlich morgen früh in der Zeitung stehen. Vierundzwanzig Stunden, sich gegen Alices Gelächter zu wappnen. Es sei denn, ihm fiel ein, wie er das Unheil abwenden konnte.
»Ein Fuchs?«, rief Alice in gespielter Überraschung. »Und ich hatte schon Angst, es könnte ein Kater gewesen sein. Ein gewisser verschwundener Kater, dessen Namen ich nicht nennen möchte.«
In diesem Moment klingelte eins der Telefone im Büro. Während Melanie und Fred gleichzeitig aufsprangen und ein Wettrennen veranstalteten, blieb Alice in aller Ruhe sitzen und schüttelte grinsend den Kopf. War es nicht herrlich, als Einzige in dieser Detektei ein gutes Gewissen und alles im Griff zu haben, auch wenn ihre eigene Observierung ebenfalls für die Katz war?
Sie lehnte sich behaglich zurück und überlegte, mit wem sie in zwei oder drei Jahren ihre eigene Detektei aufziehen konnte. Vielleicht Romeo als Sekretär im Empfangszimmer? Ein Fingerschnippen, und er brachte ihr den Kaffee, zwei Mal schnippen, und er schloss die Tür ab und war ihr in anderer Sache zudiensten.
Nach zwei oder drei Minuten fiel ihr auf, dass sich die Atmosphäre drüben im Büro verändert hatte. Es war Freds Telefon gewesen, das geklingelt hatte, und er telefonierte noch immer, während Melanie kerzengerade auf ihrem Schreibtischstuhl saß und nicht einmal so tat, als höre sie weg. Im Gegenteil, sie starrte Fred an und ihr Mund stand offen. Drüben knisterte es förmlich vor Spannung. Alice erhob sich mit der geschmeidigen Bewegung eines Tigers, zupfte automatisch die weiße kurzärmelige Bluse über der grünen Stoffhose in Form und war mit zwei schnellen Schritten am Durchgang. Sie lehnte sich gegen eine der beiden Halbsäulen und hörte ebenfalls zu.
»Nein, Frau Müller, selbstverständlich wollte ich damit nicht ausdrücken, unsere Detektei sei nicht kompetent genug, einen Mord aufzuklären. Wir sind ein Team fundiert ausgebildeter Ermittler und werden Ihnen selbstverständlich mit all unseren Kräften zur Verfügung stehen, sollte dies Ihr Wunsch sein. Ich ...« Er unterbrach sich und lauschte. Als er Alices höhnisches Grinsen sah und ihr gewispertes Ein Team fundiert ausgebildeter Ermittler? hörte, drehte er ihr mit unwilliger Geste den Rücken zu. Alice lachte, während Melanie, den Finger auf den Lippen, ihr ein empörtes Pssst! entgegenzischte. Gott, was für ein Kindergarten.
»Sehen Sie, Frau Müller, der Mord an Ihrem Freund steht noch nicht einmal in der heutigen Ausgabe der Dewezet. Das könnte natürlich darin begründet liegen, dass die Polizei bereits auf einer brandheißen Spur ist, und die Information aus diesem Grund zurückhält. Vielleicht sollten Sie einfach noch mal zwei Tage abwarten ... Wie bitte?« Er lauschte erneut. »Ach, um Himmels willen, Frau Müller, missverstehen Sie mich doch nicht. Natürlich nimmt die Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden Aufträge an, und was könnte für uns reizvoller sein, als eine Morduntersuchung, aber ... aha ... aber ja doch ... aha ... äh ... zweihundert Euro pro Tag. Spesen werden gesondert abgerechnet. Ja natürlich, ich setze sofort den Vertrag auf. Wäre Ihnen zehn Uhr morgen früh für die Unterschrift recht?« Fred Roderich blies die Backen auf und ließ langsam die Luft entweichen, während er behutsam den Hörer auf die Gabel legte.
»Wow!«, hauchte Melanie. »War das wirklich die Freundin des toten Rattenfängers?«
Fred nahm die Brille ab und wischte sich müde über die Augen. »Jepp! So wie’s aussieht, haben wir einen neuen Job.«
»Das wundert mich«, stellte Alice ein wenig spitz fest, doch ihr war die Aufregung von den Augen abzulesen. »Du hast schließlich alles dafür getan, die Sache zu vermasseln. Das war die klassische Demonstration von Antiwerbung. Um Himmels willen, nehmen Sie bloß nicht uns Versager, sie schmeißen Ihr Geld zum Fenster raus. Wenden Sie sich an die Bullen, die Bullen werden das Kind schon schaukeln. Stellst du deine Mitarbeiter nur gern als Dumpfbacken hin oder willst du die Detektei in den Ruin treiben?«
Wenn ich dich damit loswerde, durchaus eine überdenkenswerte Alternative, dachte Fred Roderich und widerstand der Versuchung, den Kopf auf die Arme zu legen und den verpassten Schlaf am Schreibtisch nachzuholen. Tatsächlich war es so, dass der Auftrag zu keinem schlechteren Zeitpunkt hätte kommen können. Er konnte vor Übermüdung keinen klaren Gedanken fassen, er fürchtete sich vor einer Auseinandersetzung mit Axel, und eigentlich hatte Alice sogar recht. Sie waren Versager, und zwar allesamt. Alice schaffte es nicht, bei ihrer Observierung ein einziges Gespräch aufzunehmen, das länger als zehn Sekunden dauerte. Ständig standen ihrem Richtmikrofon Hausmauern oder eiserne Jachtrümpfe im Weg. Melanie knipste Fotos ohne Akku und fühlte sich einem Kerl solidarisch, der an Verfolgungswahn litt. Wahrscheinlich das Nightingale-Syndrom. Und er? Wie sollte er sich oder anderen Kater Hamlet im Taubenschlag erklären?
Er sah schon die Schlagzeilen in der Zeitung: Dreiste Abzocke der Hamelner Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden an der armen Witwe des Rattenfängers. Leb wohl, Detektei, dachte er wehmütig. War schön, dich gehabt zu haben. Gott half bestimmt keinem schwulen Atheisten aus der Patsche, aber vielleicht konnte Mellie für sie alle ein Gebet sprechen. Das Kreuz zwischen ihren Brüsten unter dem Rollkragenpullover schien ihm größer als die Brüste selbst.
Fred Roderich seufzte. »Patrizia Müller engagiert uns genau für zehn Tage, soweit reichen voraussichtlich ihre Ersparnisse. Wenn wir den Mord innerhalb dieser Zeit nicht aufgeklärt haben, finden wir uns garantiert als Negativschlagzeile in der Dewezet wieder.«
»Wovon du ausgehst«, spottete Alice.
»Wovon ich ausgehe«, antwortete Fred mit Grabesstimme und schob die rutschende Brille zurück auf die Nasenwurzel. »Was meinst du dazu, Melanie?«
Mellie murmelte Unverständliches. Klar, diese Mordgeschichte war natürlich spannend für die Detektei, ein Prestigeobjekt. Aus der Distanz betrachtet. Aber Fred und Alice dachten hoffentlich nicht ernsthaft daran, sie in ihre Mördersuche mit einzubinden. Oder doch? Sie fühlte sich bereits bei Herrn Claus und seinen Geistern überfordert. Ihr Interesse, einen Mörder zu jagen, lag bei unter null. Mörder mordeten, und sie war auch ohne eine so offensichtliche Bedrohung nicht sicher, die Zeit in der Detektei unbeschadet zu überstehen. O nein, sie würde allen Beteiligten die Daumen drücken und sie anfeuern, gern auch aus der ersten Reihe, doch den Schritt auf die Bühne tat sie mit Sicherheit nicht.
»Zehn Tage nur, und wir dürfen die laufenden Fälle keinesfalls vernachlässigen. Also haben wir einen toten Rattenfänger am Hals, eine Ehefrau, die Angst hat, ihr Mann und dessen Geliebte könnten nicht nur ihr Konto plündern, sondern ihr auch noch an den Kragen gehen wollen. Nicht zu vergessen unser Paranoider, der vierundzwanzig Stunden pro Tag verfolgt und von seinen Nachbarn bestrahlt wird.« Und dieser verdammte Taubenschlag, dachte er. Obgleich ihm bei näherem Nachdenken schien, als seien die drei Fälle vom Vortag mittlerweile auf einen zusammengeschrumpft. Der Taubenzüchter war stinksauer, weil er Fred mit dem Kopf auf dem Lenkrad erwischt hatte, während dem Katzenvieh im Taubenschlag das Blut von den Schnurrhaaren tropfte. Höchstwahrscheinlich würde er der Detektei den Fall entziehen, zumal es kaum noch Tauben gab, die es zu schützen lohnte. Vielleicht weigerte er sich sogar, das Honorar zu zahlen. Oder verklagte die Detektei.
Melanies durchgeknallter Herr Claus war sauer wegen der fehlenden Fotos und würde die Detektei höchstwahrscheinlich ebenfalls abservieren. Blieb noch Alices Dreiecksgeschichte.
»Von den drei Fällen kannst du wahrscheinlich zweieinhalb streichen«, bestätigte Alice seine Vermutung. »Mellie scheint ihren Kunden los zu sein. Wie sich dein Taubenzüchter nach der Fuchsattacke entscheidet, weiß ich nicht, Fakt ist jedoch, dass ich mit meiner Kundin auf die Dauer nicht weiterkomme. Mein Vorschlag wäre, ihr einen Abschlussbericht zu schreiben. Ihr Mann hat zwar eine Geliebte, aber mehr kann ich leider dazu nicht sagen. Viele Grüße, die Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden. Apropos: Das Honorar beträgt eintausend Euro. Nicht sehr professionell, dafür aber die Wahrheit. Ohne dass wir die Jacht oder die Wohnung der Geliebten verwanzen, kann ich noch tagelang hinter irgendwelchen Büschen hocken ohne auch nur einen einzigen Informationsgewinn.« Alice grinste freudlos. »Es ist mitunter wirklich seriöser, eine Überwachung abzubrechen als sie um jeden Preis fortzusetzen, und ich plädiere hiermit darauf abzubrechen, oder bist du anderer Meinung?«
Alice blickte Fred an. Fred schüttelte den Kopf.
»Okay, dann hätte zumindest ich schon mal den Rücken frei und könnte mich zu hundert Prozent auf den Rattenfänger-Mord konzentrieren. Wow, stellt euch bloß vor, wir lösen den Fall. Dann sind wir die angesagtesten Detektive auf zweihundert Kilometer im Radius. Ich sehe schon die Schlagzeile in der Zeitung.« Ungebremster Ehrgeiz blitzte aus ihren grauen Pupillen. Es gab Zeiten, da nahm das Leben tatsächlich interessante Formen an, und es kribbelte sie bis in die Spitzen ihrer roten Haare, diesen beiden Stümpern, ihrem Chef und der Kollegin, zu zeigen, wozu eine motivierte Frau fähig war.
»Schlagzeilen sehe ich, wie gesagt, ebenfalls, nur andere als du, das ist ja mein Problem«, stöhnte Fred und fragte sich, ob in der angebrochenen Flasche Single Malt Whiskey noch genug Inhalt war, um sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken zu können. Er hasste Frauen, die sich und andere in ihrem Ehrgeiz zerfleischten. Die Detektei lief gut, und ihm gefiel der Job, aber doch vor allem deshalb, weil er es ruhig angehen lassen konnte. Keine Prügeleien, keine wilden Verfolgungsjagden, keine Morde. Wenn er keine Nachtschicht schieben musste, machte er frühzeitig Feierabend und sah sich mit Axel DVDs an. Axel sah gern Doris Day. Spion im Spitzenhöschen und Bettgeflüster. Oder sie hockten auf der Couch und hörten Blues, während Hamlet am Leder seine Krallen schärfte. Ma Reiney, Muddy Waters und Blind Boy Fuller. Ein geruhsamer Abend nach einem geruhsamen Tag mit einem gepflegten Whiskey im Glas.
Fred Roderich hatte keinesfalls vor, durch übermäßigen Stress sein vorzeitiges Ende einzuleiten. Er wollte weder an AIDS noch am Herzinfarkt sterben, und bei beidem setzte er auf Prophylaxe. Die Hamelner Friedhöfe waren voll mit Leuten, die sich ihr Leben lang für ihre Rente abgerackert hatten und dann tot umfielen, bevor sie auch nur den ersten Monat ohne Arbeit genießen konnten. Wenn es nach ihm ging, würde er der älteste Einwohner Hamelns werden, und im gesegneten Alter von einhundert Jahren auf einer Bank in der Abendsonne sitzen, Blues hören und seinen Whiskey trinken (wenn da nicht die Sache mit dem Leben auf Pump gewesen wäre). Nur Axel kam in letzter Zeit nicht mehr so häufig in seinen Zukunftsvisionen vor.
»Ich setz den Vertrag auf, dann stellen wir uns alle gemeinsam an den Abgrund und springen runter. Hat einer was gegen den Hohenstein einzuwenden?«, fragte er matt.
Der Hohenstein war ein Kletterfelsen, ein Felsabbruch im Süntel, einem Höhenzug, der zum Wesergebirge gehörte. Weihnachten vor einem Jahr hatte sich eine Frau dort zu Tode gestürzt. Allerdings unabsichtlich, die Felskante war nicht gesichert, und ab und an blies eine Windböe allzu Wagemutige in die Tiefe.
»Nach dir«, sagte Alice gelassen, während ihn Melanie mit undefinierbarem Gesichtsausdruck anstarrte. »Ich für meinen Teil habe vor, das Rätsel des Rattenfänger-Mordes zu lösen. Was spricht dagegen? Wir sind drei mehr oder minder intelligente Lebewesen, und das ist vielleicht schon mehr als die Polizei zu bieten hat. Ansonsten gilt: no risk, no fun.« Bei der anschließenden Pressekonferenz würde natürlich sie die Wortführerin sein. Sie musste nur daran denken, sich die Nase zu pudern, bevor die Kameras der Fernsehsender sie ins rechte Licht rückten. Ihre Nase sah bei übermäßiger Aufregung rot und glänzend aus.
»Mit no risk, no fun, meinst du nicht etwa einen Bungeesprung mit dem Gummiband um den Hals?«
»Vergiss den Sprung, du bist doch jetzt schon scheintot, Cousin Fred. Kein Mumm in den Knochen, keine Power im Blut, und was sich da hinter deiner Stirn bewegt, möchte ich gar nicht wissen. Ist dir schon mal aufgefallen, dass du noch keine vierzig bist? Andere laufen in dem Alter zu ihrer Höchstform auf, und du Opa denkst schon an die Bank im Sonnenuntergang.«
Fred Roderich starrte seine Großcousine irritiert an. Konnte sie Gedanken lesen? Wundern würde es ihn nicht, erst neulich hatte er eine Anzeige ihrer Mutter in der Zeitung gefunden, in der sie ihre medialen Fähigkeiten pries und Kundschaft suchte, die zu den lieben Verstorbenen Kontakt aufnehmen möchte. Einen Moment lang wünschte er sich die guten alten Zeiten der Inquisition zurück, in denen Hexen auf dem Marktplatz verbrannt wurden und Jungs wie er die brennenden Fidibusse in Händen hielten.
»Okay«, sagte Fred und räusperte sich. »Dann sag mir mal eben, bevor ich den Vertrag aufsetze, wie du dir den ersten Schritt in diesem Fall vorstellst.« Er lächelte milde.
Alice zuckte mit den Schultern. »Kein Problem. So wie’s aussieht, ist unser Rattenfänger auf einem Schiff ermordet worden. Wir haben Anfang Mai, die diesjährige Saison in der Fahrgastschifffahrt hat laut Zeitung gerade erst angefangen. Bekanntermaßen zahlen Reeder schlecht, ergo rennen ihnen die Servicekräfte nicht gerade die Bude ein, ergo suchen sie ständig Personal, ergo fängt einer von uns als Servicekraft inkognito auf dem Schiff ein, zwecks Insiderinformationen, während die anderen beiden extern und ganz offiziell recherchieren. Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?«
Gott, wie ich sie hasse, dachte Fred Roderich und bückte sich nach den abgefallenen Blättern des suizidgefährdeten Ficus. Konnte sie anderen denn nicht einmal eine Chance geben, bevor sie sich dermaßen dreist prostituierte.
»Wir werden sehen«, nuschelte er im Bücken.
»Na los, komm, präsentiere uns deinen Vorschlag, wenn der so viel besser ist.« Die Aggressivität in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ich habe gesagt, wir werden sehen«, entgegnete Fred gereizt, während Melanie so traumverloren aus dem Fenster starrte, als hätte niemand auch nur einen Ton gesagt.