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»Jingle bells, jingle bells, jingle all the way …” Um sich wach zu halten, sang Fred leise vor sich hin, und da ihm nichts Besseres einfiel, sang er Weihnachtslieder. Sein Radio hatten sie ihm in der Woche zuvor geklaut, als er dem Wagen bei einer anderen nächtlichen Überwachung für zwei Minuten den Rücken zukehrte, um in die Hecke zu pinkeln. Wenn er nicht gleich zurückgekommen wäre, hätten ihm die Diebe mit Sicherheit auch noch das Funkgerät ausgebaut, das momentan lustlos vor sich hinrauschte. Auf dem Relais Köterberg, das er als einzige Frequenz auf Kurzwelle klar empfing, war seit Mitternacht tote Hose. Und das, obwohl der Köterberg mit den beiden Relais auf der Wasserkuppe und dem Wurmberg verlinkt war, aber auch Funkamateure mussten gelegentlich schlafen. Ab und an meldete sich ein Mobiler von irgendeiner Autobahn mit Rufzeichen, aber die meisten waren so verrauscht, dass er nicht einmal in Versuchung kam zu antworten.

Es war Viertel nach zwei am Morgen und die Nacht so duster wie der Tag Null vor der Schöpfung. Regen pladderte auf die Windschutzscheibe, Regen pladderte aufs Autodach, und Regen lief die Seitenfenster hinunter. Er hatte das Fahrerfenster einen Spaltbreit heruntergekurbelt, um überhaupt etwas sehen zu können.

Alle drei Grundstücke lagen in völliger Finsternis. Die Häuser hoben sich nur schwach gegen den schwarzen Himmel ab. Aus keinem der Fenster schien Licht. Stille lag über dem Stadtrand von Hameln, nur hin und wieder gurrte schlaftrunken eine Taube. Fred Roderich hatte gegen zehn Uhr abends seinen schwarzen Saab rückwärts in den Feldweg zwischen den Häusern und dem angrenzenden Feld manövriert und Angst um seine Stoßdämpfer gehabt, als der Wagen durch die tiefen Fahrspuren der Trecker rumpelte, die von der Frühjahrsbestellung der Felder übrig geblieben waren.

Was für ein Job. Wenn er eins hasste am Beruf eines Detektiven, dann diese verdammten Nachbarschaftsgeschichten. Besprayte Garagen, ausgerissene Büsche, vergiftete Hunde. Der Meier war’s, Herr Roderich, da schwör ich tausend Eide drauf. Man beschuldigte sich gegenseitig, man prügelte sich im Vorgarten, man beschäftigte die Gerichte. Und was fand der Herr Privatdetektiv heraus? Der eigene Enkel war’s gewesen. Oder eine der Jugendbanden aus der Südstadt. Nur nicht der Meier, aber kaum drehte man der Geschichte den Rücken zu und rieb sich zufrieden die Hände, überfuhr der Meier den Spaniel des Nachbarn. Versehentlich versteht sich, nicht etwa aus Rache für die vorangegangenen falschen Anschuldigungen.

Diesmal ging es um Tauben. Genauer gesagt um Taubenkot, ums Gurren und um ihre angeblich menschenbedrohlichen Krankheiten. Dabei handelte es sich bei den Bewohnern des Taubenschlags hinten am mittleren Haus um schlanke weiße Brieftauben, die noch nie im Leben mit dem Dreck einer Großstadt in Berührung gekommen waren. Brieftauben, keine Ratten der Lüfte. Sie flogen über die Wälder und Felder des Weserberglandes, sie pickten reinliches Futter im heimischen Taubenschlag, allenfalls noch strahlende Weizenkörner von den Feldern rund ums Kernkraftwerk Grohnde, und ab und an landete eine von ihnen im Kochtopf ihres Besitzers.

Doch die Nachbarn rechts und links des Taubenschlages fühlten sich unwohl. Dieses Unwohlsein äußerte sich in der Entladung einer Schrotflinte, aus dem Schutz nächtlicher Dunkelheit heraus, die im Taubenschlag keinen größeren Schaden anrichtete als ein paar herumwirbelnde Federn. Jockl, das Zwergkaninchen im Stall neben dem Taubenschlag hatte weniger Glück. Es lebte gerade noch lange genug, um im Arm seines Frauchens, der Frau des Taubenzüchters, in den Kaninchenhimmel überzuwechseln.

Es folgte eine Serie kleinerer Attacken gegen den Taubenzüchter, die allerdings nur Sachschäden verursachte, seinen Grimm jedoch schürte.

Es waren die Nachbarn. Klar doch, denn die beschwerten sich schon seit Jahr und Tag, und der Herr von links, der mit dem Taubenkot auf der Glatze, war nicht weniger wütend gewesen als die Dame von rechts, die ihren Gugelhupf zum Auskühlen auf den Terrassentisch gestellt hatte.

Dabei wohnte der Taubenzüchter noch nicht einmal in der Stadt, oder wenn doch, dann jedenfalls in der allerletzten Häuserreihe vor dem Land. Gleich hinter seinem Haus und dem der beiden aufmüpfigen Nachbarn blühte im Frühjahr nasenbetäubend der Raps und im Spätherbst holten die Bauern mit schwerem Gerät die Kartoffeln aus dem Boden und pflügten ihre Misthaufen unter. Es sah nach Land aus, es roch nach Land, aber beschwerten sich die Nachbarn darüber? O nein, sie schnupperten verzückt mit ihren hochgereckten Nasen und zeigten dem Besuch stolz das Nichts hinter ihren Jägerzäunen. Doch sowie Mutter Natur übergriffig zu werden drohte, wurden sie aggressiv. Unkraut rotteten sie mit Gift aus, Maulwürfe töteten sie in Wühlmausfallen, und für Tauben, seit biblischen Zeiten weltweit anerkannte Symbole des Friedens, engagierten sie einen Killer mit Schrotgewehr. Und Karolus Breuer, der Herr der Tauben, engagierte ihn, Fred Roderich, und da hockte er nun mitten in der Nacht in diesem himmlischen Wasserfall und wartete auf das nächste Attentat.

»CQ, CQ, CQ – DE3LK mobil ruft und hört. Allgemeiner Anruf von DE3LK mobil. Jemand auf Empfang?«

Fred zuckte zusammen und drehte am Funkgerät die Lautstärke herunter. Das Knattern und Pfeifen wurde leiser. » DI5XX mobil.« Er meldete sich mit seinem Rufzeichen, wenn auch widerwillig. »Du kommst ziemlich verrauscht an. Kennen wir uns?« Das war nicht gerade die höflichste Art, ein Gespräch zu beginnen, aber Fred war einfach nicht nach höflich sein zumute.

»Delta Echo drei Lima Kilo mobil, DE3LK mobil, das Rufzeichen... »

Ja, dachte Fred gelangweilt. Komm zur Sache, Junge.

»... mein DOK ist Leiptschig. QTH zurzeit auf der Autobahn zwischen Magdeburg und Bärlin. Name ist Fred. Fred ist der Name. Foxtrott Romeo Echo Delta. Fred. Ich steige über den Wurmberg im Harz ein.« QTH bezeichnete den momentanen Standort eines Funkenden, DOK den Ortsverband beziehungsweise Distrikt, dem der Funkamateur angehörte.

Oh nee, dachte Fred, einen sächsischen Fred ertrage ich um diese Zeit nicht. » DI5XX mobil für rufenden Mobilisten. Kann dich leider nicht verstehen. Momentan völlig verrauscht. Rapport 0 und 0. Gute Fahrt noch.«

»DB0KB - Relais Köterberg im Weserbergland«, verkündete das Relais emphatisch, gefolgt von hektischem Morsen. Der Relais auf dem knapp fünfhundert Meter hohen Köterberg bei Höxter war mit den Relais auf dem Wurmberg im Harz und dem auf der Rhöner Wasserkuppe verlinkt, sodass der mittlere Teil Deutschlands die Völkerverständigung per Funk weiter vorantreiben konnte.

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Fred, als das hektische Morsen aussetzte. »Alle halbe Stunde derselbe Mist.«

»DI8QY für DE5XX mobil. Delta India 8 Quebec Yankee für Delta Echo 5 X-ray X-ray mobil.«

Fred verdrehte die Augen. Diese Trantüte hatte ihm gerade noch gefehlt.

»Tag Bruno.«

»Tag Fred. Wo steckst du denn? Bei mir kam der Ruf des Mobilisten prima an. Völlig rauschfrei. Rapport fünf neun. Gilt übrigens auch für dich.«

Bruno, der Besserwisser. Sein Rapport besagte rein gar nichts. Fünfhundert Meter entfernt von seiner Station, hundert Meter tiefer im Gelände oder hinter dem nächsten Hochhaus konnte die Empfangsqualität schon null null lauten statt fünf neun.

»Bei mir nicht. Starke Abschattung hier. Häuser, Bäume, du weißt schon«, entgegnete Fred prompt.

»Wie geht’s der Oberwelle?«

Fred grinste. Eine Oberwelle war etwas, was bei der Verstärkung von Wechselspannung entstand und selbst bei mittleren Sendeleistungen andere Funkstationen gewaltig stören konnte. Im Jargon der Funker war Axel Freds Oberwelle. Es gab gewisse Worte, die Funker auszusprechen vermieden, wie zum Beispiel Ehefrau oder Arbeitsstelle. Sie liebten es, sich in kryptischen Kürzeln und Zahlenkombinationen zu verständigen. 33 bedeutete freundschaftliche Grüße unter Funkerinnen, 55 hieß viel Erfolg oder alles Gute und 99 verschwinde. Ein OM war ein Old Man, ein alter Freund, hi hieß soviel wie, ich freue mich, und ein ham, ein Schinken, war ein Funkamateur, der Himmel mochte wissen warum. Während sich der kommerzielle Funkverkehr der sogenannten Z-Gruppe bediente, hatte sich im privaten Bereich aus der Telegrafie ein ebenfalls dreibuchstabiger Code entwickelt, der mit einem Q begann, die sogenannte Q-Gruppe. QTH bedeutete den Standort, QSO die Verbindung oder das Gespräch zwischen zwei Funkstationen, QAZ ein örtliches Gewitter, das die Sendestelle zum Abschalten nötigte. Eine globale Sprache mit einigen ländertypischen Abweichungen.

»So la la, Bruno. Stecken gerade ziemlich in der Scheiße, wenn du weißt, was ich meine.”

»O ja, wem sagst du das? Das kenn ich nur zu genau. Wenn ich mein Shack nicht hätte, wär’ ich echt gearscht.« Er meinte sein Gartenhäuschen, in dem seine Funkstation stand und er die Nächte verbrachte, während sich seine frustrierte Oberwelle Hilde im Einfamilienhaus nebenan die nötige Bettschwere antrank.

Fred verzog das Gesicht. Bruno kannte alles nur zu genau, egal ob es um Beziehungskrisen, Geldanlagen, Jobs oder die Mühen des Rasenmähens ging. In Wahrheit kannte er wohl nur eins zu genau: Schlaflosigkeit. Seit ihm zehn Jahre zuvor sein Raucherbein aboperiert worden war, hockte er im Rollstuhl und war zur funkenden Nachteule geworden. Er füllte in einem Monat mehr Logbücher, in denen er akribisch jede Funkverbindung vermerkte, als andere Funkamateure in einem Jahr.

»Sammelst du noch QSL-Karten. Ich hab’ ein Sonder-DOK am Hals. 725 Jahre Rattenfängersage. DJ8QY im QSO mit DI5XX mobil.«

»Vergiss es, ich hab’ vor ein paar Jahren mit dem Quatsch aufgehört.« Rattenfängersage? Wie passend. Über Jahre hinweg war er nach dem Sammeln von Empfangsbestätigungen fremder Funkstationen geradezu süchtig gewesen. Fred hatte sich an allen Wettbewerben beteiligt, die ihm zu Ohren kamen. Vor allem Sonder-DOK’s, also Rufnummern, die nur eine bestimmte Zeitspanne existierten und zu besonderen Gelegenheiten vergeben wurden, wie zum Beispiel Jubiläen, waren heiß begehrt gewesen.

»Komm doch wieder mal zum Treffen des OV?«

Treffen des Ortsverbandes? Ach du liebe Güte. »Nö. Kein Interesse.«

»Also, das letzte Mal war aber interessant, sage ich dir. Wir hatten den Saal bei Kitzinger gemietet, und so gegen acht Uhr ...«

»Nichts für ungut, Bruno, mein Handy vibriert gerade. Ich bin wieder QRT. 73 und tschüss.«

»Aber da war im Hintergrund noch eine andere Station, die dich arbeiten wollte«, protestierte Bruno.

»Dann arbeitet sie eben dich. Ich bin QRL.« Was soviel hieß wie beschäftigt sein, arbeiten, keine Zeit zum Funken mehr zu haben, und zu hundert Prozent der Wahrheit entsprach, wenn man denn das untätige Herumsitzen in Autos arbeiten nennen durfte.

»Och ... na ja, gut ... Danke für das QSO. 73 und 55«.

Klar, doch, die schönen Grüße, sprich 73, reichten nicht, es musste auch noch 55, alles Gute, hinterherkommen und ein höfliches Dankeschön für die Verbindung. Bruno der Pedant.

»Winke, winke.« Fred griff zum Nachtsichtgerät.

In diesem Moment schrie es hinter ihm im Wagen. Ein Schrei, so durchdringend und hoch, wie ihn nur ein Kind in höchster Not ausstoßen kann. Fred schrak dermaßen zusammen, dass er sich den Ellenbogen an der Tür stieß und den Feldstecher fallen ließ. Sein Herz krampfte, kalter Schweiß stand ihm plötzlich auf der Stirn, eine Gänsehaut überzog den Rest seines Körpers. In Panik versuchte er zweierlei: erstens aus dem Auto zu kommen und zweitens sich umzudrehen. Als Resultat klebte er mit verrenktem Hals an der Autotür, während sein Puls Purzelbäume schoss. Den Türgriff fand er nicht.

Von der Rückbank her funkelten ihn zwei gelbe Augen mit senkrechten Pupillen an. Löwe!, war Freds erster Gedanke, er wusste selbst nicht warum. Panisch tastete er nach der Taschenlampe auf dem Armaturenbrett. Er knipste das Licht an. Seine Finger zitterten dermaßen, dass er die Lampe kaum halten konnte.

Hamlet, der Perserkater, sah so griesgrämig aus wie immer, aber ganz kurz war Fred, als zögen sich die Mundwinkel in seinem breiten, platten Katzengesicht zu einem hämischen Grinsen auseinander. Hamlet saß aufrecht auf den Hinterbeinen, bewegungslos wie eine Statue, und sein goldenes Fell schimmerte im Licht der Taschenlampe.

Einen Moment lang war sich Fred Roderich nicht sicher, ob er nicht doch lieber einen Löwen auf der Rückbank gehabt hätte, dann stieß er die angehaltene Luft aus und sprach das Raubtier an. »Scheiße! Wo zum Teufel kommst du denn her?«

Hamlet starrte über Sekunden durchdringend zurück, dann wandte er gelangweilt den Kopf zur Seite und begann sich das linke Hinterbein zu lecken.

Fred Roderich griff zum Handy und wog es unschlüssig in seiner Hand. Hamlet war Axels Kater, also war es, rein theoretisch, eine logische Schlussfolgerung, Axel aus dem Bett zu klingeln, um ihn, Fred, von dem Vieh zu befreien. Rein theoretisch. Auf der anderen Seite reagierte Axel um drei Uhr morgens weit weniger freundlich als um drei Uhr nachmittags. Er hasste es, geweckt zu werden. Außerdem steckte er, Fred, mitten in einer Überwachung, um wen auch immer bei einem erneuten Attentat auf den Taubenschlag in flagranti zu ertappen. Wenn Axel mit Blaulicht und Sirene vorfuhr, im übertragenen Sinne natürlich, konnte er sein »Versteck.« ebenso gut über Funk bekannt geben. Derzeitiges QTH – der Feldweg hinter dem bedrohten Taubenschlag.

Na, klasse!, dachte Fred Roderich. Da hockte er mitten in der Nacht mit diesem aggressiven Mistvieh von Kater in der Enge eines Kleinwagens zusammen. So etwas nannte man die Arschkarte ziehen, vor allem auch, was die Alternativen betraf. Eine gab es natürlich: Tür auf und Kater raus. Fred feixte. Die Alternative für Krankenhausfans. Hamlet war Axels Baby, und dieses Baby führte schon im normalen Leben zu fatalen Beziehungskrisen. Hamlet, der Fred während des Sex in den Nacken sprang und ihn ins Ohr biss, Hamlet auf dem Frühstückstisch, die Nase in Freds Müslischälchen, Hamlet in Freds Fernsehsessel. Manchmal glaubte Fred sogar, zwischen Axel und Kater eine telepathische Verständigung zu beobachten. Ein Blick von Axel, der Kater sprang. Der Kater war so friedfertig wie eine Dynamitstange mit brennender Lunte.

Axel ebenfalls. Einen halben Kopf kleiner als Fred, stämmiger und von manchmal geradezu provozierender Fröhlichkeit, konnte er von eben auf jetzt explodieren. Dann schien er sich plötzlich an seine Zeit hinter den stacheldrahtbewehrten Mauern der Tündern’schen Jugendanstalt zu erinnern, und seine Fäuste ballten sich von ganz allein. Dann mutierte Axel innerhalb von Augenblicken zu einer Kampfmaschine aus Fäusten und Füßen, und wer nicht schnell genug zur Seite sprang, landete im Krankenhaus. Fred Roderich hatte es einmal erlebt, nachts auf der alten Weserbrücke, als drei angetrunkene Skins ihnen den Weg versperrten und sie herumzuschubsen begannen.

Zwei der Skins lagen nach weniger als fünf Minuten blutend am Boden, der dritte suchte sein Heil in der Flucht, obgleich alle drei Axel um gut einen Kopf und Fred immerhin noch um einen halben Kopf überragten. Fred kam gerade mal dazu, sein Zittern in den Griff zu bekommen und notgedrungen die Fäuste zum Kampf zu ballen, da war der Spuk schon vorbei. Es war erschreckend gewesen, unheimlich, und ihre Beziehung hatte den ersten Knacks bekommen. Er mochte Axel, keine Frage, er mochte ihn sogar sehr, aber hundert Prozent wohl fühlte er sich in seiner Nähe nicht mehr. Was, wenn sich die Wut des Freundes eines schönen Tages gegen ihn richtete? Zum Beispiel nachts, wenn er allzu lebhaft träumte? Oder nachts, wenn er Axel mit einem Anruf weckte.

Er steckte sein Handy wieder in die Jackentasche und blickte sich zur Rückbank um. Hamlet war verschwunden, und Fred konnte sich gerade noch zurückhalten, mit bloßer Hand hinter den Sitzen nach dem Perserkater zu tasten. Auch, wenn sie vielleicht nicht modelverdächtig waren, hing er an seinen Fingern, und Hamlet war ein Tier mit absonderlichem Appetit.

Eines hatte das Auftauchen des Katers jedenfalls bewirkt. Sein Adrenalin war bis unter das Schädeldach geschossen, etwa so, als ob zehn Wecker auf einmal geschrillt hätten. Fred war hellwach. Er sah auf seine Uhr: halb vier. Noch zweieinhalb Stunden. Gegen sechs wurde es hell, dann sollte er besser verschwunden sein. Er führte wieder das Fernglas, ein teures Nachtsichtgerät, an die Augen und spähte in die Finsternis der Gärten. Trotz des Regens konnte er den Taubenschlag erkennen, das Ausflugloch und die Reihen schlafender Tauben auf den Stangen. Rechts und links blieb alles ruhig. Der Schatten, den er vor Kurzem noch in einem der Gärten zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. Wahrscheinlich nur die Halluzination eines übermüdeten Geistes.

Einen Augenblick war ihm, als striche etwas Weiches um seine Beine und er erstarrte zum zweiten Mal. Wie konnte es eigentlich geschehen, dass er über Stunden mit diesem Viech zusammen in einem Kleinwagen hockte, ohne dessen Anwesenheit überhaupt zu bemerken? Dass Hamlet ins Auto gelangt war, wunderte ihn weniger. Er gelangte überall hinein, egal ob in den Brennofen der Töpferei oder in die Waschmaschine im Hauswirtschaftsraum. Eines Morgens, als der Postbote am amerikanischen Briefkasten neben dem Grundstückstor der Detektei das Fähnchen hochgeklappt hatte und Fred die Post holen ging, war ihm der Kater aus dem Briefkasten direkt ins Gesicht gesprungen. Es gab da noch als Krallensignatur die kleine weiße Narbe über seiner Augenbraue.

Es gab noch etwas, was ihn beschäftigte. Diese Rattenfängergeschichte. Ihm persönlich graute es davor, eine Wasserleiche mit zerfetzten Armen aus der Weser ziehen zu müssen, andererseits hätte er dieses Erlebnis natürlich, wenn er der Wasserleichenberger gewesen wäre, längst hinter sich. Es war einfach so, dass er Alice den Ruhm nicht gönnte. Er war ein Mann, er war der Chef, die Leiche hätte von Rechts wegen ihm zugestanden. Er wäre natürlich nicht umgekippt, soviel stand fest. Mit dem Übergeben war er sich nicht ganz so sicher. Sein Magen gehörte nicht eben zu den kräftigsten Mägen.

Wie Alice besaß auch er eine Pistole, eine Magnum, wie die Kerle in den amerikanischen Filmen, und wie Alice hatte er auf der Schießbahn am Schliekersbrunnen, unten im Wald bei den Forellenteichen, ein Schießtraining absolviert. Er traf die Scheiben nicht unbedingt in der Mitte, aber er traf sie immerhin und das reichte ihm. Allerdings trug er die Pistole nicht ständig am Körper spazieren, warum auch? Normalerweise hatte er es in seinem Job mit fremd gehenden Ehepartnern oder Tauben hassenden Nachbarn zu tun, die er nicht zu erschießen brauchte, weil sie ihn nicht erschießen wollten. Außerdem gab es da noch die Furcht, sich einen Fuß oder etwas noch Entsetzlicheres abzuschießen.

Im Augenblick lag seine Waffe im Handschuhfach, allerdings nicht in dem des Saab, sondern im Zweisitzer. Seit dem Artikel in der Zeitung über die beiden Straßenpiraten, die eine Frau in einem Mercedes der S-Klasse auf offener Landstraße zwischen Hameln und Rohrsen stoppten und bis aufs Hemd ausraubten, fühlte er sich in seinem nachtblauen Triumph Spitfire verletzlich. Er spielte mit dem Gedanken, sich einen Sticker für die Windschutzscheibe drucken zu lassen: Dieses Auto ist nur geleast, und ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Was nicht ganz stimmte, aber annähernd. Axel und er lebten zwar nicht über ihre Verhältnisse, aber sie schöpften sie bis zum letzten Cent aus. Eigentlich schöpften sie seine, Freds, Verhältnisse aus, Axel arbeitete nicht gern. Ein Freund von ihnen war im letzten Jahr mit dreiunddreißig Jahren an Aids gestorben, seitdem sah Fred keinen Sinn mehr darin, sein Geld auf die Bank zu tragen. Von der Hälfte seines Ersparten hatte er sich noch am Tag der Beerdigung den Zweisitzer gekauft.

Er war schließlich schon neununddreißig, und seit Jonathans Tod schien ihm manchmal, als lebte er von geborgter Zeit. Obgleich er mit wechselnden Partnern geschlafen hatte, hatte er sich nie zu einem Aidstest aufraffen können. Er praktizierte Safer Sex – meistens zumindest – und die meisten seiner Freunde hatten irgendwie treu ausgesehen.

Fred Roderich nahm das Fernglas wieder von den Augen und hielt sich die Armbanduhr dicht unter die Nase. Viertel vor drei. Himmel, diese Nacht wollte und wollte nicht enden. Er schraubte die Thermoskanne auf und schüttete Kaffee in seinen Becher. Lauwarm, igitt. Er musste sich unbedingt eine vernünftige Thermoskanne zulegen. Eine, die auch warmhielt.

Der Regen schien ein wenig nachlassen zu wollen, ihm war, als pladdere er nur noch mit halber Kraft aufs Autodach. Seit Stunden schon lagen alle drei Häuser in völliger Finsternis vor ihm. Musste von den Bewohnern eigentlich nie jemand auf Klo? Oder wenn doch, sparten sie an Strom und tasteten sich im Dunkeln die Treppen hinunter? Fred seufzte und schnappte sich die Taschenlampe. Zeit für sein eigenes Pipigehen. Seit er dabei kopfüber in einen Graben gestürzt war, nahm er nachts die Taschenlampe mit.

Er zwängte sich vorsichtig aus der Autotür. Ganz kurz nur ließ er die Taschenlampe aufleuchten, doch da stand er schon fluchend bis zu den Knöcheln im Wasser. Der Regen hatte die Traktorspuren in Rinnsale verwandelt. Fred dachte an die Gummistiefel im Kofferraum und fluchte ein wenig lauter. Der Regen prasselte ihm auf den Kopf, und noch bevor er den Reißverschluss seiner Jeans wieder hochziehen konnte, klebten ihm seine sorgsam eingegelten Igelstacheln platt an den Ohren. Von wegen der Regen schien nachlassen zu wollen.

Er rettete sich ins Auto zurück und überlegte, wie viele gut bezahlte Jobs es auf der Welt gab, bei denen man nachts in einem warmen und trockenen Bett schlief. In diesem Moment sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein Busch im Garten des Taubenzüchters bewegte sich, geradeso, als krabbele jemand oder etwas auf allen vieren mitten durch ihn hindurch. Fred riss das Fernglas an die Augen. Nichts. Nur die Zweige wackelten noch ein wenig hin und her, dann kam der Busch zur Ruhe. Vielleicht ein früher Vogel, der im Laub unter den Zweigen nach Würmern kratzte. Jedenfalls kein schräger Vogel, der es auf den Taubenschlag abgesehen hatte. Wie hieß das Sprichwort noch gleich? Richtig: Der frühe Vogel fängt den Wurm.

Fred Roderich setzte das Nachtsichtgerät ab und verdrehte die Augen. Was für eine Nacht! Was für eine beschissene, langweilige, nicht enden wollende Nacht!

In dieser Sekunde brach die Hölle los.

Der Taubenschlag explodierte, während Fred ungläubig das Fernglas wieder vor die Augen riss. Nein, dachte er perplex. Nicht der Taubenschlag, die Tauben in ihm explodierten. Was er durch die Luft wirbeln sah, waren Federn. Jede Menge Federn, und an einigen von ihnen hingen offenbar noch Tauben. Und was war das in der Mitte dieser Explosion? Ein Fuchs? Ein Hund? O mein Gott, nein, weder Fuchs noch Hund. Eine Katze! Eine Katze, die aufrecht inmitten der Voliere auf den Hinterbeinen stand und mit wirbelnden Pfoten Vögel aus der Luft angelte.

Eine Katze?

»Hamlet?«, flüsterte Fred mit großen Augen, bevor er das Fernglas fallen ließ und im Auto hektisch nach dem Kater zu suchen begann. »Zeig dich, du Mistvieh! Auf der Stelle kommst du hierher.« Der Strahl der Taschenlampe fuhr panisch im Saab herum. Fred hechtete sich über die Rückenlehnen der Vordersitze, er krabbelte vor den Pedalen herum. Er räumte das Handschuhfach aus. Er stürmte sogar im strömenden Regen nach draußen und riss Kofferraum- und Motorhaube auf. Der Kater war verschwunden.

Das Haus des Taubenzüchters leuchtete mittlerweile wie ein Tannenbaum während der Bescherung, und auch in den Nachbarhäusern erstrahlte ein Fenster nach dem anderen. Aufgebrachte Stimmen schwirrten durch die Nacht. Panische, hysterische und böse Stimmen. Angstvolle Stimmen. Jemand schrie, eine Frau weinte.

Fred Roderich umklammerte das Lenkrad, und es fiel ihm schwer zu atmen, während Hamlet den Taubenbestand dezimierte. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Er konnte schlecht zum Taubenschlag laufen und sagen: O Entschuldigung, mir ist eben der Kater meines schwulen Freundes Axel entlaufen. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen? Fred stöhnte. Irgendwann war er in dieser Nacht in einem Albtraum gelandet, aus dem es kein Erwachen gab. Er musste etwas tun. Er musste handeln. Gleich. Sofort!

Fred ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken und spielte mit dem Gedanken loszuheulen.

Als wütende Fäuste auf das Dach des Saab trommelten, wusste er, es war zu spät, irgendetwas zu tun. Sein Klient kam, sich zu beschweren.

Scheiße.

Mörderische Schifffahrt

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