Читать книгу Mörderische Schifffahrt - Charlie Meyer - Страница 14

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»... und ins Steuerhaus«, fuhr Eddie fort, reckte die Nase ein wenig höher, um Alice in die grauen Augen blicken zu können und zog den Bierbauch ein. »... kommen mir nur Weiber ohne Schlüpfer!«

Du meine Güte, dachte Alice verblüfft. Was für ein gewaltiges Ego doch kleine, bierbäuchige Männer um die sechzig haben. Nicht mehr als einen Kranz weißer Haare rund um die altersfleckige Platte aber jede Menge Testosteron in einem anderen Körperteil.

»Nur ohne Schlüpfer«, echote Chris, der Zweimetermann mit dem weißblonden Schopf neben ihm und starrte sie mit hellen Augen unter hellen Brauen neugierig an. Zum Wikinger fehlten ihm nur Axt, Schild und Helm. Er war etwa halb so alt wie Eddie.

Ups, dachte Alice. Das klein und bierbäuchig vor den Männern nehme ich zurück, Wikinger sind auch nicht besser.

»Ich hau euch gleich die eigenen Schlüpfer um die Ohren, wenn ihr euch nicht endlich umzieht.« Eine kleine Frau mit zu viel Schokolade auf den Hüften, etwa in ihrem Alter, kam vor der Theke die Treppe aus dem Bauch des Schiffes hoch geastet, ein schweres Tablett, voll beladen mit sauberem Kaffeegeschirr in Händen. »Du bist also die Neue aus dem Hofbräuhaus?«, keuchte sie und musterte Alice aus großen, leuchtend blauen Augen. Trotz des Keuchens hörte Alice ein unterschwelliges Das darf doch nicht wahr sein! heraus, während sich die Männer murrend verzogen. »Dann kannst du gleich mal das Geschirr einräumen. Wieso bist du nicht in Schwarz-weiß?«

Alice straffte die Schultern und wappnete sich für den Kampf, obgleich sie noch immer mit ihren ersten Eindrücken vom Schiff kämpfte. Ein weißer Halbriese mit drei Decks und zwei aufgemalten blauschillernden Libellen rechts und links der Bugspitze. Kein Fünf-Sterne-Traumschiff, eher ein in die Jahre gekommener, etwas hausbackener Dampfer. Der Wind pfiff durch den offenen Spalt der Schiebetür, kleine Kräuselwellen schwappten an den Rumpf, und unter ihren Füßen schaukelte es sacht. Die Schiffsmotoren dröhnten dumpf, das Stromaggregat brummte durchdringend. Der Salon, in dem sie stand, war ganz in Blau gehalten und reichte, beeindruckend in seinen Ausmaßen, vom Bug bis zum Heck. Blaue Stuhlbezüge, blaue Vorhänge, blauer Teppichboden mit kleinen weißen Punkten. Sogar die Mitteldecker auf den Sechsertischen, die in drei Reihen standen, waren blau, was dem Salon ohne Frage ein eher düsteres Ambiente verlieh.

Auf diesem Schiff also war der Mord geschehen. Alice schauderte erwartungsvoll und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Herausforderung prickelte sie vom Scheitel bis zum Zeh.

»Was?«

»Bist du taub? Wenn es dir keine Umstände macht, würde mich interessieren, warum du nicht schwarz-weiß gekleidet bist? Weißes Oberteil, schwarze Hose. Kellnerkluft. Und bind dir deine Mähne zurück. Ich dulde keine Haare in der Suppe, schon gar keine roten.« Inga, verantwortliche Servicekraft der Libelle, schob Alice mit dem Ellenbogen zur Seite und schleppte ihr Tablett hinter die lange Theke. Sie stemmte die Arme in die Seiten und blies die Backen auf. Ein Sternenhimmel an Sommersprossen überzog ihr blasses, rundes Gesicht, aus dem zwei bemerkenswert blaue Augen Alice gereizt anfunkelten. Wie zwei Bergseen so blau.

»Was ist? Willst du arbeiten oder einfach nur rumstehen?«

Du meine Güte, dachte Alice erschlagen. Wenn ich mir das man gefallen lasse. »Das nächste Mal komme ich als Pinguin«, versprach sie und mühte sich vergeblich um einen Ton, der Besserung versprach. Kaum spürten ihre Füße eins von Jansens schwankenden Schiffen unter den Sohlen, schon wütete sie in Gedanken gegen das blöde Büro, ohne auch nur im geringsten zu ahnen, dass es sich um einen Virus handelte, der jede Aushilfe befiel, sobald sie das erste Mal den Fuß auf ein Schiff der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen setzte. Keine dieser blöden Tussis hatte etwas von Schwarz-weiß gesagt. Dabei war sie nach dem Vorstellungsgespräch sogar noch nach Hause gefahren, mit dem erklärten Ziel sich umzuziehen. Statt des Kostüms trug sie nun eine hellgelbe Leinenhose und statt der weißen High Heels flache Slipper. Nur nichts in Schwarz-weiß! Blödes Büro!

Innerlich grummelnd grub sie hinter der Theke ein Gummiband aus und band sich die Haare zu einem strammen Pferdeschwanz zurück, der ihr in wilden Locken vom Hinterkopf abstand. Anschließend widmete sie sich den Schiebetüren der halbhohen Schränke unter den Fenstern und versuchte die Tassen und Teller auf dem Tablett zu ihresgleichen zu räumen.

»Du bist wer?«, fragte sie beiläufig über das Klappern hinweg.

»Inga. Verantwortliche Servicekraft«, antwortete Inga nach kurzem Zögern und runzelte die Stirn. Schon wieder einer dieser frechen Neulinge. Als ob das Büro es vorsätzlich darauf anlegte, sie zu ärgern. Eine Gutaussehende, Selbstbewusste und dazu noch Gelernte? Diese Kombination konnte nicht gut gehen. Warte nur, dachte sie, während sie die Neue beim Einräumen kritisch beäugte. Schnepfen wie dich verspeisen wir zum Frühstück.

»Okay. Ich bin Alice. Die beiden Männer eben waren wohl die Matrosen?«

»Schiffsführer«, knurrte Inga. Es widerstrebte ihr, Auskunft geben zu sollen, zumal sie gerade damit begann, einen Plan auszubrüten, wie sie die Frau auf schnellstem Weg wieder loswurde. Ein Blick in die grau funkelnden Augen genügte ihr – es würde Ärger geben.

»Kapitäne?« Diese beiden Schlüpferheinis? Ach du liebes Lieschen. Alices romantische Pläne verpufften in einer Art Selbstentzündung zu etwas, das man auf einer Kehrschaufel zusammenfegen und im Ascheeimer entsorgen konnte.

»Kapitäne gibt’s in der Binnenschifffahrt nicht. Nur Schiffsführer, und damit das von Anfang an klar ist. Eddie, Chris und ich haben hier das Sagen an Bord.« Ingas aschblonder Pony war zu lang und hing ihr in die blauen Augen. Sie strich sich die Haare mit einer unwilligen Geste aus dem sommersprossigen Gesicht. Ihre weiße Bluse zierten Fettflecken, und die schwarze Hose schien irgendwie mit einer Mehltüte kommuniziert zu haben. Dafür, Alice registrierte es mit einem verstörenden kleinen Anflug von Neid, trug sie dunkelblaue Schulterklappen mit zwei goldenen Streifen und einem goldenen Knopf, was die Wirkung von Fett und Mehl zumindest relativierte. »Wir dulden keine Faulen, keine Aufmüpfigen und keine Denunzianten. Was hier an Bord gesagt wird, bleibt auch an Bord. Wenn du ins Büro zitiert wirst oder Gott kommt, klappst du deinen Mund gefälligst zu«

»Gott?«

»Der Chef. Okko Jansen, Reeder, Inhaber und Geschäftsführer der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen, kurz Gott genannt.«

»Aha«. Gott passte zu ihm, wenn auch wahrscheinlich von den Schiffsleuten in anderem Sinne gedacht, als sie selbst assoziierte. Sie stellte ihn sich vor, wie er neptungleich mit seinem Kahlkopf das Wasser durchstieß und den Dreizack auf sein ungehorsames Schiffsvolk schleuderte. Alice sah sich neugierig um. Der blaue Salon, eine zweigeteilte Theke mit Durchgang, eine Treppe, die ins Unterdeck führte, dunkle Schiffsbohlen auf der Tanzfläche, zwei Schiebetüren an den Seiten zum Ein- und Aussteigen, hinten zwei Glastüren, die offenbar zu den Toiletten und aufs Oberdeck führten. Zwischen ihnen hing ein großes, mit bunten Filzstiften gemaltes Plakat: Fahrgäste und Besatzung haben den Anweisungen des Schiffsführers Folge zu leisten. Eine Zeile tiefer stand: Das Verzehren von mitgebrachten Speisen und Getränken ist nicht erlaubt. Und noch tiefer: Wer stänkert, geht über die Planke.

Alice fuhr mit der Hand über die gemaserte Kirschholztheke. Das kabbelige Wasser ließ die über Kopf hängenden Biertulpen in den Gestellen oberhalb der Theke leise aneinander klirren. Jenseits des Durchgangs schwang eine blanke Schiffsglocke ohne Klöppel lautlos über einer Kuchenplatte mit durchsichtiger Abdeckhaube aus Plastik. Auf dem Sideboard hinter der Theke harrte eine Batterie unterschiedlichster Wein-, Schnaps- und Likörflaschen auf ihren Einsatz, und in dem deckenhohen Glasregal am Ende der Theke gab es die dazu passenden Gläser in allen Größen und Formen, mit Ausnahme der geeisten Schnapsgläser im Kühlschrank unter einem der Fenster. Der Platz hinter der Theke war so knapp bemessen, dass sich zwei dünne Servicekräfte gerade so eben aneinander vorbeiquetschen konnten. War eine der beiden dicker als die eher ausgemergelten Damen aus dem Büro, musste über Vorfahrtsregeln verhandelt werden. Unter der Theke kühlten Weizenbier, Cola, Orangensaft und andere alkoholfreie Getränke in überdimensionalen Edelstahlschubladen. Es gab zwei Zapfanlagen für Bier, eine rechts, eine links des Durchgangs, jede mit zwei Hähnen, an der Wand unter den Fenstern standen halbhohe Gläser- und Geschirrschränke mit Schiebetüren. Das Herzstück war jedoch eindeutig die Computerkasse mit angeschlossenem Bondrucker, deren erschreckend kompliziert aussehende Benutzeroberfläche Alices Selbsteinschätzung als perfekte Servicekraft den ersten Dämpfer versetzte. Ein Anflug von Muffensausen, der nicht eben erträglicher wurde, als ihr einfiel, dass hier, an dieser Theke, der Rattenfänger gestanden haben musste, unmittelbar bevor er ermordet wurde. Auf dieser Theke hatte die Klarinette gelegen. Hinter dieser Theke stand nun sie und löste eine Verpflichtung gegenüber dem Toten ein: seinen Mörder zu finden. Okay, eigentlich gegenüber der Freundin des Toten. Und eigentlich war es auch weniger eine moralische Verpflichtung, als vielmehr etwas, dass sie für Geld und Ruhm tat.

»Bist du die einzige verantwortliche Servicekraft auf der Libelle?«, fragte sie, ganz im Geiste ihrer Mission. »Oder hat jedes Schiff zwei oder drei Serviceleitungen?«

»Wieso?«, lautete die misstrauische Gegenfrage.

Das kann ja heiter werden, dachte Alice seufzend. Verpflichtung hin oder her, ganz plötzlich fragte sie sich, wie sie eigentlich auf die hirnrissige Idee gekommen war, sich im Büro der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen als Gelernte auszugeben? Hätte nicht ein wenig Erfahrung vollkommen ausgereicht? »Ich meine, falls du die einzige Serviceleitung bist ...«, Leitung klang viel schmeichelhafter als Kraft, »... musst du in Arbeit ja förmlich ersticken. Tagsüber Rundfahrten oder was immer ihr sonst noch macht, abends die Charterfahrten, wie schaffst du das?« Kommst du beim ersten Mal in den Arsch nicht rein, du Kriecher, klopf an. Vielleicht wird dir doch noch aufgetan. Angewidert von sich selbst verzog Alice das Gesicht. Ihre Schultern ächzten schon jetzt unter der doppelten Last – zumindest zuckten sie nervös. Servicekraft ohne jegliche Erfahrung und verdeckte Ermittlerin in einem Mordfall. Ebenfalls ohne Erfahrung. Kompliziert aussehende Computerkassen und sommersprossige Eisberge musste sie in ihrer Planung glattweg übersehen haben. »Ihr arbeitet doch an sechs Tagen in der Woche, oder nicht? Wie war das am letzten Wochenende? Warst du da ebenfalls im Einsatz?« Toll, dachte sie frustriert. Der klassische Fall mit der Tür ins Haus.

Inga schwieg, zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt. Meinte die Neue ihre Anteilnahme ernst oder schleimte sie sich nur ein? Vorsichtshalber rang sie sich lediglich zu einem einsilbigen Stimmt! durch und presste ihre Lippen wieder aufeinander. In unregelmäßigen Abständen kam ihr der Verdacht, Gott versuche ihr dann und wann einen als Servicekraft getarnten Spion aufs Schiff zu schicken. Dank ihrer Absprache mit dieser Theatertussie im Büro, die Personalchefin spielte, war sie bisher alle kritischen Kandidaten auf elegante Art und Weise losgeworden. Wenn sie Alice ansah, befiel sie jedoch ein mulmiges Gefühl, etwa so, als wenn sie bei Nässe auf dem Freideck bediente. Die falschen Sohlen unter den Schuhen und du liegst auf der Nase. Ein unglücklicher Sturz und du stehst nicht wieder auf.

Statt zu antworten, bückte sich Inga und spähte deprimiert durch eins der breiten, niedrigen Fenster hinter der Theke auf den Anleger. Wo kamen bloß die vielen Touristen her? Sie liebte die Schifffahrt, da konnte man jeden an Bord fragen, aber dass sie gezwungen war, diese anmaßenden Heerscharen an Bord zu lassen, wurmte sie jeden Tag aufs Neue. Alice folgte ihrem Blick und schrak zurück. Eine Welle Adrenalin schwappte über ihrem Scheitel zusammen und das Herz ging mit ihr durch. Eine undurchdringliche, zu allem entschlossene Mauer, anders ließ es sich nicht beschreiben. Vor dem schmalen Holzsteg aufs Schiff hatte sich irgendwann, während sie nicht hinsah, ein hundertköpfiger Pulk Menschen angesammelt, die alle dasselbe im Blick hatten – den Einstieg – und offenbar nur auf den Startschuss warteten. Was den Anblick noch erdrückender machte, war die hohe Kaimauer unmittelbar hinter der Menschenmenge.

Breitbeinig auf dem Steg stand Eddie in weißem Hemd, schwarzer Hose und Schulterklappen mit vier goldenen Streifen und einem goldenen Stern und hielt mit grimmigem Gesicht den Mob in Schach.

Schwer beeindruckt überfiel Alice die Assoziation vom ersten Tag des Winterschlussverkaufs in irgendeinem Kaufhaus. Im Geiste sah sie Eddie zur Seite springen, sah die Menschenmassen unaufhaltsam durch den Einstieg quellen auf der Suche nach ... Tja, nach was eigentlich? Gab es irgendetwas umsonst auf dem Schiff? Freibier? Sahnetorte? Ein Schnäpschen mit Eddie, dem Schiffsführer? Nicht einmal die vier Streifen und der Stern konnten seine violett-rote Säufernase und die Schnapsfahne kaschieren.

»Gibt’s an Bord was umsonst? Die da draußen sehen so ... so gierig aus.« Alice hörte das angstvolle Beben ihrer Stimme und ärgerte sich.

Inga grinste. »Fensterplätze«, gab sie launisch Auskunft. »Fünf Minuten noch, dann bläst Eddie zum Angriff und du ziehst besser deine Füße ein. Apropos Füße: Ich stehe hinter der Theke, du läufst. So ist es an Bord Usus. Die Verantwortliche steht, die Aushilfen laufen.« Inga wurde geschäftig, wetzte hin und her, drückte an der Kaffeemaschine den Aufheizknopf und kontrollierte die Schubfächer für Kaffee- und Milchpulver in der Spezialitätenmaschine, während Alice mit hängenden Armen im Weg stand. Etwas wie ein Eisenband zog sich über ihrer Brust zu, und etwas wie ein schmerzhaftes Loch tat sich in ihrem Magen auf, während sie ungläubig die Menschentraube vor dem Steg anstarrte.

»Ich laufe?«, fragte sie mit wenig Hoffnung in der Stimme. »Wohin denn?« Laufen würde sie in diesem Moment zwar gern und das so weit weg wie möglich, aber dass Inga diese Art der Fortbewegung gemeint hatte, war eher unwahrscheinlich.

»Laufen heißt, du nimmst die Bestellungen auf, bringst sie an die Tische und kassierst ab. Ich stehe hinter der Theke und bestücke deine Tabletts. Was habt ihr denn in Bayern dazu gesagt? Auffi und abbi gehen?« Inga kontrollierte eine nach dem anderen den Füllzustand der Getränkeschubladen. Dann steckte sie zwei Finger in den Mund. Der Pfiff, der kurz darauf durchs Schiff hallte, ließ Alice um ein Haar über Bord springen. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, den Startpfiff für die Hundertschaft draußen zum Run auf die Fensterplätze zu hören. Doch es war nur Wikingersprössling Chris, der unter seinem weißblonden Schopf die Nase aus dem Niedergang steckte. »Ja, Chefin?«

»Alkoholfreies Weizen, Cola und Malzbier, aber dalli. Und bring ein paar Flaschen Wasser mit. Abtreten.«

»Zu Befehl Chefin.«

Die kopfüber hängenden Biertulpen an den Gestellen über der Theke klirrten einen Moment lang lauter. Chris grinste, doch Alice fiel erneut auf, dass nur der Mund grinste und die Heiterkeit nicht seine Augen erreichte, in denen ein Ausdruck düsterer Resignation lag. Strahlenbündel winziger Fältchen zeugten allerdings davon, dass er früher gern gelacht hatte. An diesem Tag allerdings erweckte er den Eindruck, in seinen dreißig Lebensjahren bereits alles gesehen zu haben, was es auf der Welt zu sehen gab und von dem Schrott maßlos enttäuscht zu sein. Die Aussicht, bis zu seinem Tod in einer frustrierenden Schleife festzuhängen - und täglich grüßt das Murmeltier - schien ihn nicht eben mit Begeisterung zu erfüllen.

»Äh, Inga«

»Was willst du?«

»Mit dem Abkassieren wird es etwas schwierig, ich kenne die Preise noch nicht. Ich bin neu hier an Bord, schon vergessen? Eure Getränkekarten habe ich bisher noch nicht einmal von außen gesehen.« Alice gab sich Mühe, einen deutlichen Hauch von rechtschaffener Empörung in ihre Stimme zu legen, doch was sie hörte, war pure Angst. Eine Gelernte vom Hofbräuhaus, herzlichen Glückwunsch auch, hauchte ihr ein hämisches Stimmchen ins Ohr. Irgendetwas lief gerade aus dem Ruder, und das war nicht das Schiff. Das lag noch sicher vertäut am Anleger, vorn und hinten von Wikinger Chris festgebunden. Ein Tau vom Schiffspoller im Vorschiff zu einem Poller an Land vorn, ein Tau vom Schiffspoller im Hinterschiff zu einem Poller an Land hinten. Als Puffer zwischen Schiff und Kaimauer, als Fender, dienten zwei Kanthölzer, die an Seilen von der Reling des Oberdecks hingen und schon reichlich ausgefranst aussahen. Alices erster Eindruck vom Schiff war ein entschiedenes Wow! gewesen und ein Hauch von Respekt für Okko Jansens Mut zum Klotzen. Ein großes weißes Schiff für viele Fahrgäste und zwei riesigen, blauschillernden Libellen rechts und links vom Bug. Eine knallbunte Wimpelkette überspannte das gesamte Freideck. Ihr zweiter Eindruck sagte hausbacken und marode. Selbst die Wimpel der Wimpelkette waren ausgefranst.

»Kannst du mit einem Ordermen umgeben?«

»Einem was?«

»Himmeldonnerwetter noch mal, du hast uns gerade noch gefehlt«, fauchte Inga, gereizt bis zur Halskrause und verdrehte die Augen. Ohne ein weiteres Wort verschwand sie unter Deck. Als sie wieder auftauchte, schob sie eine junge Frau vor sich her, die in stummer Auflehnung die Füße gegen die Treppenstufen stemmte, während Inga auf sie einredete.

»Komm schon, Lina, die Neue taugt nichts, du musst mit dem Ordermen rumgehen.«

Alice öffnete den Mund zum Protest – und schloss ihn wieder. Zwei Meter weiter, jenseits der Fenster, pflanzte sich ein erwartungsvolles Zucken durch die Menschenmauer. Alice schauerte zusammen. Wie hatte sie sich nur dermaßen überschätzen können? Sie kannte die Preise nicht, konnte weder mit dem Ordermen noch mit der Computerkasse umgehen, hatte nie im Leben ein Bier gezapft oder irgendjemanden bedient. Jedenfalls keinen zahlenden Gast, höchstens Crispin, wenn sie ihm das Champagnerglas ans Bett brachte. Sie war auf diesem Schiff so fehl am Platz wie Inga in einem 5-Sterne-Restaurant. Oder Eddie in einer Luxussuite. Oder ...

»Ich hab’ frei.« Lina schob angriffslustig ihr Kinn vor, und Alice schluckte verzweifelt gegen ihre Panik an.

»Du bist auf dem Schiff, oder nicht?«

»Ja, aber doch nur, um den Jungs und dir hallo zu sagen«, protestierte Lina. Sie war etwa einen Meter fünfzig klein und schmal wie ein Kind. Lila gefärbte Haare standen ihr in Stacheln vom Kopf ab. Sie trug einen schwarzen Overall mit kurzen Ärmeln und einen breiten lilafarbenen Lochgürtel.

»Wer frei hat und trotzdem aufs Schiff geht, tut es auf eigenes Risiko«, behauptete Inga ungerührt und zerrte das Mädchen hinter die Theke. »Hör auf rumzulamentieren und schnapp dir den Ordermen. Du nimmst die Bestellungen auf, die Neue bringt die Tabletts raus und kassiert ab. Wir wollen beten, dass sie wenigstens das zustande bringt.«

»Ich will aber nicht.« Ein kleiner Fuß in lila Clogs stampfte auf den Boden.

Ich auch nicht, dachte Alice und fühlte sich wie gelähmt.

»Du willst aber weiterhin auf der Libelle arbeiten, oder etwa nicht?«

Schmale, ein wenig schräge Augen starrten Inga in stummer Fassungslosigkeit an und eine kleine, sommersprossige Nase zuckte empört. Zehn lange Sekunden später polterte Lina hinter die Theke und beugte sich über ein schwarzes Teil mit Display, das neben der Computerkasse lag.

Das also, dachte Alice, muss ein Ordermen sein. Ein kleiner Handcomputer zum Aufnehmen der Bestellungen. Das Supergenie Mellie würde ihn mit Sicherheit sofort und ohne Übung bedienen können, aber sie, sie war ja nur Alice, die Blöde, die gleich den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde.

»Ich werd’ nie wieder ein Wort mit dir reden«, maulte Lina.

»Damit kann ich leben«, konterte Inga und atmete erleichtert auf. Dem blöden Büro würde sie demnächst ein paar Takte erzählen. Wenn diese Tussie jemals als Kellnerin gearbeitet hatte, ließ sie sich freiwillig kielholen. Hofbräuhaus! Was für ein Schmarren!

Chris, der Wikinger, tauchte im Krebsgang mit den Getränken aus dem Untergrund auf, eine volle Kiste in jeder Hand, eine volle Kiste unter jeden Arm geklemmt. Er schnaufte nicht einmal. Seine Schulterstücke - vier Streifen ohne Stern – ließen seinen Brustkorb noch breiter wirken. Sein weißes Hemd allerdings hatte durch die Getränkekisten Knitterfalten bekommen. Er knallte die Kisten hinter der Theke auf den Boden und Inga begann einzuräumen. Alice versuchte zu helfen, doch egal, welche Getränkeschublade sie aufzog, es war immer die falsche. Schließlich drängte Inga sie kurzerhand mit der Schulter zur Seite und zischte ihr ein genervtes Lass es einfach zu. Nie zuvor hatte sich Alice gedemütigter gefühlt. Nie zuvor war sie Heulsuse Mellie näher gewesen.

»Hast du einen Gürtel?«, fragte Lina lustlos, und reichte ihr, als Alice nickte, ohne vor Wut und Frust ein einziges Wort über die Lippen zu bekommen, ein schwarzes Lederetui mit Schlaufe. Eine Kellnertasche. Unter Ingas spöttischem und Linas genervtem Blick kämpfte sie eine Weile mit ihrem Gürtel und der Schlaufe an der Kellnertasche. Erst nach dem dritten Versuch hing die Öffnung der Kellnertasche außen, sodass sie das dicke, schwarze Portemonnaie hineinschieben konnte, das ihr Inga auf die Theke knallte, bevor sie sich kopfschüttelnd abwandte.

Im nächsten Moment öffneten sich die Höllenschlunde und die Armee der Vergnügungssüchtigen brach in den Hades ein. Die Libelle erbebte unter dem schweren Fußgetrappel über die dunklen Schiffsbohlen der Tanzfläche, als die Vordersten, von hinten bedrängt, tatsächlich zu rennen begannen. Die Jagd um die Fensterplätze war in vollem Gange. Die meisten der Fahrgäste gehörten der im Tourismus begehrten Zielgruppe der agilen Senioren an. Ihre ruppige Art, miteinander umzugehen im Kampf um die Fensterplätze ließ auf eine Reisegruppe schließen, die schon mehr als einen Tag zusammengepfercht im Bus verbracht hatte und sich untereinander nicht besonders mochte. Alice stand wie erstarrt, als die Horde an ihr vorbeidonnerte, doch genauso abrupt, wie der Spuk begonnen hatte, verpuffte er auch wieder. Plötzlich saßen alle, ohne auf dem blauen Teppichboden Tote und Verwundete zurückgelassen zu haben, und erwartungsvolles Schweigen senkte sich über das Schiff. Hundert Köpfe drehten sich Richtung Theke, zweihundert Augen starrten Alice, Lina und Inga an. Wo zum Teufel blieb die Bedienung?

Lina mit den lila Haaren schlurfte lustlos mit dem Ordermen los, steigerte ihr Tempo jedoch plötzlich und klapperte schließlich die gesamte Backbordseite in eher unziemlicher Eile ab, offenbar bemüht, die aufgezwungene Arbeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ihre Miene sagte drei Tage Regenwetter vorher, während ihre Clogs immer wieder, dank einer leichten Nachlässigkeit beim Gehen, die man auch über den großen Zeh laufen nennen konnte, wie Kastagnetten aneinander klackten. Die Computerkasse hinter der Theke ratterte sich die Seele aus dem Plastikleib und spuckte Tisch für Tisch Bons aus, die einer am anderen hingen und sich zu einem Papierschwanz auswuchsen, der sich trotz Ingas wirbelnder Hände, bis auf den Boden ringelte. Nach einer Weile ließ Inga Schwanz Schwanz sein und begann die Bestellungen für das erste Tablett abzuarbeiten.

Alice stand mit hängenden Armen vor der Theke. Wären nicht ihre nervös hin- und herhuschenden Pupillen gewesen, hätte man sie für eine Servicekraft in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett halten können. Ihr Verstand drängte zu helfen und brüllte ihre zuckenden Hände an. Biere zapfen, Kaffeebecher füllen, kleine rote Sonnenschirmchen in Eisbecher stecken - allein ihre Muskeln streikten. Vor Angst gelähmt, drehte sie den Gästen den Rücken zu und spürte hundert Blicke sich wie Pfeile in ihr Fleisch bohren. Warum steht diese blöde Tussie da nur rum? Weiß sie denn nicht, dass wir Durst haben? Sieht sie denn nicht, dass sich ihre Kolleginnen vor ihren Augen zu Tode ackern? Es war zum aus der Haut fahren, aber nicht einmal das brachte Alice Hupe zuwege. Sie war zum Stillstehen, Bleiben und Leiden verdonnert.

Die Zeit, bis Inga das Tablett für den ersten Tisch bestückt hatte, verrann in Sekunden, die Stunden währten. Doch schließlich war es vollbracht, und als Alice das volle Tablett erst hilflos ansah und dann aufblickte, noch immer mit hängenden Armen, als ihre grauen Augen den großen blauen Bergseeaugen Ingas begegneten, aus denen unverhohlene Verachtung sprach, wich die Lähmung urplötzlich. Alice das Energiebündel Hupe startete im Bruchteil einer Sekunde durch.

Sie biss die Zähne zusammen, schnappte sich das verdammte Tablett und marschierte los. Nach etwa drei Schritten stellte sie das Marschieren auf ein vorsichtiges Trippeln um, als alle Getränke gleichzeitig aus ihren Gläsern und Tassen zu schwappen drohten. Einigermaßen perplex stellte sie fest, dass eine einfache Servicekraft offenbar mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als gedacht.

Am ersten Tisch saßen drei Frauen und drei Männer, alle jenseits der siebzig.

»Hallöchen«, grüßte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit und bemühte sich um ein entspanntes Lächeln. Getreu der Faustregel, eine gute Servicekraft sieht man, aber man hört sie nicht, antwortete ihr niemand. Nun, da sie ihre Plätze erobert und die Getränke bestellt hatten, widmeten sich die Fahrgäste interessanteren Dingen, als einer Servicekraft beizustehen, die nie im Leben ein Tablett getragen hatte. Zwei der Seniorinnen am Tisch steckten schnatternd die Köpfe zusammen, und die Dritte war mit ihrem grauen Haarschopf in den Tiefen ihrer überdimensionalen Handtasche verschwunden. Was die Männer anging, widmeten sich zwei mit Hingabe ihren bissigen Kommentaren, was Chris alles falsch machte, als er draußen auf dem Anleger erst vorn und dann hinten die Tampen von den Pollern löste, die kurzen Taue an Bord warf und das Schiff mit vollem Körpereinsatz vom Anleger drückte, bevor er in allerletzter Sekunde durch die offene Schiebetür an Bord sprang. Der sechste Senior starrte sie ganz einfach stumm an, und sie hätte schwören können, dass sich in seiner Hose etwas regte.

Alice runzelte die Stirn und steigerte ihre Lautstärke um mehrere Dezibel: »Wer bekommt das Bier?«

Einer der beiden Herren, die noch immer fachsimpelnd aus den Fenstern starrten und sich nun, da Chris außer Sicht war und die Wasserfläche zwischen Schiff und Anleger breiter wurde, über den trostlosen Zustand des Anlegers mokierten, hob lässig einen Zeigefinger, ohne sich die Mühe zu machen, den Kopf zu wenden.

Alice geriet zunehmend in Rage. Was bildeten sich diese arroganten Tröpfe eigentlich ein? Währenddessen kämpfte sie mit dem vollen Tablett und einem Bierglas, das ins Rutschen geriet. Natürlich hätte sie es gern auf dem Tisch abgestellt – was lag näher? -, doch die Tischplatte war voll. Handtaschen, Hüte, Halstücher, Prospekte, die Unterarme der Fahrgäste – nicht ein Eckchen für das schwere Tablett einer Servicekraft und kein Anzeichen dafür, dass irgendjemand irgendwo in Kürze ein Fleckchen freiräumen würde. Einigermaßen überfordert, aber noch immer Ingas verächtlichen Blick vor Augen, balancierte Alice das Tablett schließlich wie eine Wippe auf dem linken Unterarm aus, umklammerte mit den Fingern der Hand krampfhaft den niedrigen Rand, während sie mit der Rechten anfing, die Getränke auszuteilen. Na also, ging doch.

Genau in diesem Moment kippte das Tablett nach links weg. Obgleich sie mit so reaktionsschnell wie eine angreifende Klapperschlange reagierte, und das Tablett keine Zehntelsekunde später in der Waagerechten erneut ausbalanciert hatte, war das Malheur geschehen und der Kaffee übergeschwappt. Die Kekse auf den Untertellern zerflossen vor ihren Augen zu Brei.

»Aushilfe, was?«, krähte die bläuliche Dauerwelle vom Mittelplatz und starrte sie abschätzend an. Etwa so, wie man ein herumflatterndes Huhn anstarrt und sich fragt, ob es in den Kochtopf passt, nachdem man ihm den Hals umgedreht hat. Sie reckte den Hals und spähte auf das Tablett. »Na ja, um die dünne Plörre ist es nicht schade. Für mich nichts mehr, danke. Da koche ich mir zu Hause doch lieber was Anständiges, nicht Käthe?«

Käthe hatte noch immer Kopf und Hände in ihrer riesigen Handtasche versenkt, in der sie Gott weiß was suchte, und murmelte Unverständliches.

»Entschuldigung!« Du alte Hexe, dachte Alice stocksauer und mühte sich verzweifelt um ein Lächeln, während sie der Dauerwelle am liebsten das Gesicht zerkratzt hätte. »Wenn Ihnen der Kaffee zu dünn ist, darf ich Ihnen vielleicht einen doppelten Espresso als Ersatz bringen? Oder einen Latte macchiato? Sie sollten wirklich einmal unsere Kaffeespezialitäten probieren.«

»Latte? Sie haben einen Latte macchiato? Einen richtigen mit aufgeschäumter Milch und einem Espresso? In einem Latte macchiato Glas mit Strohhalm? Nun ja, in diesem Fall könnte ich eigentlich noch eine Bestellung riskieren, aber vermasseln Sie es nicht wieder.« Die Frau mit der blauen Dauerwelle lächelte dermaßen herablassend, dass Alice beinahe der Mund offenblieb. Also so penetrant, arrogant, anmaßend und schwierig hatte sie sich ihre ersten Kunden nicht vorgestellt.

»Ich will einen Milchkaffee«, krähte Käthe, die den zweiten verschütteten Kaffee bestellt hatte, und tauchte mit wirren grauen Haaren aus den Tiefen ihrer Handtasche auf. »Ohne Fußbad.«

Als Alice Tisch eins den Rücken zukehrte, hatte sich die Nachricht von den Kaffeespezialitäten wie ein Lauffeuer von Tisch zu Tisch durch den ganzen Salon gefressen. Auf der Backbordseite, deren Bestellungen bereits mit dem Ordermen aufgenommen waren, schossen zehn Hände gleichzeitig in die Höhe, die ihren Bohnenkaffee stornieren und auf Latte, Milchkaffee oder Kakao mit Sahne umschwenken wollten. In der mittleren Tischreihe, die Lina gerade abarbeitete, bot sich dasselbe Bild, von der Steuerbordseite hallten ungeduldige Rufe nach mehr Servicepersonal durchs Schiff.

Auf der Serviceseite brach Chaos aus.

Während Alice das Tablett mit dem verschütteten Kaffee zurück zur Theke balancierte, stand Lina orientierungslos in der Mitte des Salons, die schrägen Augen weit aufgerissen, und konnte sich nicht entscheiden, ob sie vor oder zurück sollte. Trotz der bereits fertig bestückten Tabletts, die sich auf der Theke aneinanderreihten, entschied sie sich für das Zurück. Zu Ingas Entsetzen nahm sie alle Umbestellungen auf der Backbordseite noch einmal mit dem Ordermen auf, ohne die Möglichkeit, die ursprünglichen Getränke stornieren zu können. Das ging nur über die Computerkasse, in der wiederum die Gastrosumme in unrechtmäßige Höhen schoss. Der kleine Drucker spuckte wie ein Weltmeister Bons aus. Erst Ingas entnervtes Gebrüll stoppte Lina.

Inga selbst, mit hochrotem Kopf hinter der Theke, sah aus, als spielte sie mit dem verlockenden Gedanken, die Libelle mit Mann und Maus einfach zu versenken. Stöpsel raus und ab damit. Dabei tuckerten sie eben erst an der Tündern’schen Warte und dem Jachthafen vorbei. Bis zum Ohrberg und der Wendestelle waren es noch gut drei Kilometer.

Währenddessen hatte Eddie im Steuerhaus durch das Bordmikrofon die Gäste im Namen der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen und der Besatzung der Libelle willkommen geheißen, und setzte gerade zu weiteren Durchsagen an, als die Lautsprecher zusammenbrachen. Alle vier, einer in jeder Ecke des Salons, knackten, kreischten, krächzten und pfiffen gleichzeitig. Nicht länger als zehn Sekunden, aber diese zehn Sekunden reichten aus, die Stimmung im Salon auf einen neuen Tiefpunkt zu bringen. Dann war, genauso abrupt, das Getöse weg und Eddies Stimme wieder da, und er setzte mit markigen Sprüchen seine Durchsagen fort. Die Oberweser, erklärte er, reiche von Hannoversch Münden bis Minden, sei zweihundert Kilometer und ein paar Zerquetschte lang und eigentlich stimme es auch gar nicht, dass die Weser aus dem Zusammenfluss von Fulda und Werra entstünde, weil ureigentlich Werra und Weser derselbe Fluss seien und nur wegen ein paar Heinis, die unterschiedliche Dialekte sprachen, als Haupt- und Nebenfluss deklariert worden wären. Ein sprachliches Missverständnis, weiter nichts. Er sagte tatsächlich Heinis und ging dann auf den Ohrberg ein und die freudlose Geschichte eines Freiherrn von Hake, der auf dem Schlachtfeld bei Waterloo gekniffen und den Rest seines Lebens auf dem Ohrberg Bäumchen gepflanzt hätte, weil die, O-Ton Eddie, in der Regel nicht zurückschössen. Da von Hakes Herz an dem Huckel hing, habe man es nach seinem Tod dort oben auch begraben, während der herzlose Körper anderswo begraben liege. Chris Gegnicker im Hintergrund untermalte die Ansagen. Alice dachte an Eddies Schnapsfahne und verzog das Gesicht. Hoffentlich fing er nicht irgendwann an zu lallen oder schweinische Witze zu erzählen.

Kurz vor der Theke blieb Alice abrupt stehen und starrte ungläubig aus einem der Backbordfenster zum Jachthafen hinüber. Auf der Jacht von Herrn Heppelweit, dem Mann ihrer Klientin aus der Detektei, hockten Frau Heppelweit-Nieberg und eine andere Frau bei strahlendem Sonnenschein auf Klappstühlen an Deck und stießen mit langstieligen Gläsern an, die nach Champagner aussahen. Als die Libelle vorbeituckerte, winkten sie ausgelassen. Alices Herz tätigte einen nicht vorgesehenen Schlag. Die Frau an der Seite von Frau Heppelweit-Nieberg war niemand anderes als die Geliebte von Herrn Heppelweit. Von ihm allerdings fehlte jede Spur. Was zum Teufel ging dort vor? Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden war Frau Heppelweit-Nieberg mehr als nur verschnupft gewesen, als ihr Alice in wirklich wohlgesetzten Worten am Telefon ihren Entschluss mitteilte, die Überwachung von Herrn Heppelweit und seiner Geliebten aus Gewissensgründen nicht länger fortsetzen zu wollen (»Sie geben Ihr gutes Geld für nichts und wieder nichts aus!«).

An der Theke empfing sie Inga, die auf fünf Tabletts gleichzeitig Kaffeebecher gegen Lattegläser und Espressotässchen austauschte, mit bitterbösem Gesicht und fauchte aufgebracht: »Wir beide sprechen uns nach der Rundfahrt, da kann ich dir Brief und Siegel drauf geben.«

»Okay«, antwortete Alice geistesabwesend. Ihre Gedanken kreisten um eine andere Baustelle. Frau Heppelweit-Nieberg und die Geliebte von Herrn Heppelweit? Wie genau passte diese Konstellation ins Bild und vor allem, wie war es zu ihr gekommen? Wenn die Frauen jetzt einträchtig zusammen an Bord saßen, hieß das, sie, Alice, hatte auf der ganzen Linie versagt? Oder hieß es nur, Frau Heppelweit-Nieberg und die Geliebte hatten Herrn Heppelweit entsorgt, auf welche Weise auch immer? Während sie mit den Nachbestellungen die Backbordseite ein zweites Mal abklapperte, dachte Alice gefrustet daran, wie viele Tage sie in nassen Büschen an der Weser gehockt hatte, um Heppelweit und seine Freundin einmal, nur ein einziges Mal, bei einem vertraulichen Gespräch außerhalb des Stahlrumpfs der Jacht zu erwischen. Irgendwo dort, wo ihr Richtmikrofon funktionierte. Immer vergebens. Kaum war sie anderweitig beschäftigt, hockten Frau Heppelweit-Nieberg und die Geliebte ihres Mannes in traulichem Miteinander auf Deck und winkten ihr frecherweise auch noch zu. Sie hätte ein Vermögen dafür gegeben, jetzt mit ihrem Richtmikrofon in den Büschen zu hocken. Was war passiert? Alice war gleichermaßen empört wie beunruhigt. War Herr Heppelweit plötzlich verschieden? Einen Moment lang stockte ihr Fuß, dann hastete sie weiter.

Als Eddie auf der Höhe von Gut Ohr das Kunststück fertigbrachte, die lange Libelle so zu wenden, dass weder Bug noch Heck über Land schrammten, war das Chaos perfekt. Die Computerkasse brach zusammen, Lina ebenfalls. Inga verlor die Beherrschung und brüllte einen meckernden Gast an. Die Theke belagerten vergrätzte Passagiere vom Oberdeck, auf dem die Bestellungen noch nicht einmal aufgenommen worden waren.

Alice lief, sprach und handelte in einer Art Vakuum, dessen Schutzschild ab einem bestimmten Zeitpunkt alle äußeren Reize wie das Gezeter der Fahrgäste, Ingas Gebrüll und Linas Geheul abwehrte und sie rational handeln ließ. Sie brachte Inga dazu, ihr Gebrüll einzustellen und die Computerkasse vollends abzuschalten, tauschte den Ordermen in Linas Hand durch Kellnerblock, Kuli und ein Taschentuch für die laufende Nase aus, schickte sie aufs Oberdeck und brachte in einem Tempo die restlichen Getränke an die Tische, das es jedermann wunderte, ihre Schuhsohlen nicht Feuer fangen zu sehen.

Fünf Minuten vor Schluss waren alle Kunden bedient und abkassiert, wenngleich sich die Fahrgäste vom Oberdeck ihre Getränke ein wenig hastig hinter die Binde kippen mussten. Inga und Lina waren ins Unterdeck geflüchtet und hielten sich an ihren Zigaretten fest, während Alice mit brennenden Füßen hinter der Theke ausharrte und anfing, die Getränkekarte auswendig zu lernen. Sie hatte zwar kein fotografisches Gedächtnis, leider, dafür aber eine ausgeprägte Merkfähigkeit, und während sie die Preise leise vor sich hinleierte, zog sie die Kühlschubladen nacheinander auf und versuchte sich einzuprägen, wo was stand.

Als Eddie auf Höhe des Anlegers wendete, und sich die Senioren mit verkniffenen Gesichtern und viel Gemeckere schon wieder vor dem Ausstieg drängelten, wetzte sie erneut wie ein Irrwisch zwischen den Tischreihen hindurch und räumte ab. Schließlich sollte die letzte Rundfahrt an diesem Tag bereits in einer guten Viertelstunde beginnen. Außerdem plagte sie das unbestimmte Gefühl, dass bei ihrem ersten Einsatz in der Schifffahrtsgesellschaft Okko Jansen irgend etwas nicht ganz so reibungslos abgelaufen war, wie es hätte sein sollen.

Nach Eddies Wendemanöver oberhalb des Wehrs hielt die Libelle im seitlichen Krebsgang auf den Anleger zu. Ein wenig schwungvoll, wie sich zeigte. Das Schiff donnerte mit voller Breitseite gegen die Kaimauer. Einer der beiden Kanthölzer, die als Fender dienten, löste sich in Sägespäne auf, den anderen halbierte es, wobei der Teil ohne Seil hoch in die Luft katapultiert wurde und den Kopf von Chris, der bereits an Land gesprungen war und einen der Poller mit dem Tampen belegte, nur um Haaresbreite verfehlte. Hinter der Theke sprangen beim Aufprall die Gläser aus dem Regal. Der Pulk der vor dem Ausgang drängelnden Senioren war urplötzlich gesprengt, und zu Alices hämischer Freude fanden sich die blauhaarige Dauerwelle und ihre Freundin Käthe auf ihren vier Buchstaben wieder. Über die knackenden Bordlautsprecher ertönte Eddies kleinlaute Stimme mit einer gemurmelten Entschuldigung. Lina, die gerade die Treppe hochgestiefelt kam, katapultierte es rücklings aus ihren Clogs, und als sie die Treppe das zweite Mal in Angriff nahm, stand ihr kleiner Finger in unnatürlichem Winkel ab und Ströme von Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Das ist alles deine Schuld«, heulte sie und deutete anklagend auf Alice. »Du und dieser blöde Latte. Die Gäste hatten doch schon bestellt. Es war alles im Ordermen eingegeben. Da schlägt man den Idioten doch nicht noch was anders vor. Das tut man einfach nicht!«

»Nun mach aber mal halblang. Dafür, dass du zu dusselig bist, den Ordermen zu bedienen und dann auch noch die Treppe runterfällst, kannst du wohl kaum mir die Schuld geben. Erstens habe nicht ich das Schiff gegen den Anleger gedonnert, und zweitens nennt man es, soweit ich weiß, einen kundenfreundlichen Service, eine gewisse Auswahl an Getränken anzubieten.« Langsam verlor auch Alice die Geduld. Wo, zum Teufel, war sie hier eigentlich gelandet? An einer Frittenbude?

Im Hintergrund stürzte die Meute vom Schiff. Chris, der die Libelle mittlerweile ausbruchssicher angebunden hatte, reagierte auf die Schelte der Gäste mit einem stoischen Zucken seiner breiten Schultern und blickte trübsinnig über ihre Köpfe hinweg ins Leere. Eddie, der Bruchpilot, ließ sich nicht blicken.

Kein Wunder, dachte Alice ernüchtert, als sie zusah, wie die Gäste fluchtartig von Bord rannten. Chaos, mieser Service und raue Anlandung. Da würde ich auch Fersengeld geben. In der Tat wäre sie mit den Gästen einfach mitgerannt, wenn da nicht ihr hehres Ziel gewesen wäre, den Rattenfängermord aufzuklären.

»Gott wird nicht erfreut sein«, stöhnte Inga, betrachtete die ausgeschaltete Computerkasse und das Scherbenmeer hinter der Theke.

»Warum nicht?«

»Die Hälfte der Getränke ist nicht in der Kasse.«

»Du hast doch aber eine Strichliste gemacht!«, heulte Lina und streckte ihr anklagend den gebrochenen kleinen Finger entgegen.

»Na ja«

»Du hast doch eine Strichliste gemacht?«

»Ist wohl in der Hektik untergegangen. Wen wundert’s bei dem Chaos. Gott wird wüten und diesmal zu Recht.«

Chris bewachte draußen mit verschränkten Armen den Steg, um die letzte Meute an diesem Tag davon abzuhalten, das Schiff auf der Stelle zu entern. Jetzt erst traute sich auch der kleine, bierbäuchige Eddie in den Salon. Seine von einem weißen Haarkranz gerahmte Platte glänzte tomatenrot und biss sich mit dem Violett seiner Knollennase. Er stellte sich breitbeinig vor die Theke und pochte mit gichtig verdickten Knöcheln aufs Holz. »Jemand zu Hause? Wenn ja, wo ist mein kalter Kaffee?«

»Hol ihn dir!«, Ingas Stimme war verhältnismäßig leise, ihr Blick aus den bergseeblauen Augen dafür um so lauter. Aus ihrem blassen Gesicht stachen die Sommersprossen hervor.

Eddie zuckte zusammen und schlich sich hinter die Theke. Er fischte eine Sektflasche aus dem Kühlfach und ließ den Korken knallen. Dann füllte er einen Kaffeebecher bis zum Rand auf und stürzte den Sekt in einem Zug hinunter. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, während er schluckte.

»Mir auch einen kalten Kaffee.« Chris heller Schopf schob sich um die Ecke des Einstiegs.

»Schenk uns allen was ein.« Inga sah aus, als würde sie gleich zusammenbrechen. »Gott wird wütend sein.«

Oh, oh, dachte Alice mit gesträubten Nackenhaaren, als sie beobachtete, wie Eddie seinen Becher ein zweites Mal mit Sekt füllte und sein Adamsapfel erneut auf- und abhüpfte. Auf diesem Schiff war einiges im Argen. »Ein Vorschlag zur Güte. Wir rechnen später das Bargeld gegen die Gastrosumme in der Computerkasse auf und ordnen dem übrig gebliebenen Geld fiktive Getränke zu, die wir im Nachhinein in die Kasse geben. Bier, Wein, Kaffee und so weiter, und zwar solange, bis wir den Umsatz aufgebraucht haben. Natürlich abzüglich der Getränke, die ohnehin schon doppelt eingegeben wurden. Sollte jemand nachfragen, ist die Kasse abgestürzt, und wir haben mit Strichliste gearbeitet. Nach der Rundfahrt funktionierte die Kasse plötzlich wieder und bla bla bla. Damit hat alles seine Ordnung, und Gott wird keinen Blitzstrahl vom Himmel schicken.«

Inga starrte sie übertrieben schockiert an. »Du meinst, wir sollten ... Oh, mein Gott!«

»Nein!«, grinste Eddie. »Niemals, das ist Betrug. Da streikt meines Vaters Sohn aber ganz gewaltig.«

»Dann kann mir jemand vielleicht sagen, wie ihr ein Chaos wie dieses gewöhnlich händelt?«, fragte Alice genervt und fühlte sich mehr als nur veralbert.

Eddie grinste breiter. »Wir machen einen Kassenabschlag, zählen das Geld in den Kellnerportemonnaies, ziehen den Kassenabschlag von der Summe ab und teilen uns den Rest als Trinkgeld. Wenn mehr übrig bleibt als normal, hat Gott eben Pech gehabt und ihr Mädels könnt euch davon frische Schlüpfer kaufen.«

»Kann mir bitte jemand einen Krankenwagen rufen?«, heulte Lina.

»Halt den Mund, Eddie!«, entgegnete Inga scharf. »Wir sprechen hier von über zweihundert Euro oder mehr. Wenn wir schon mauscheln müssen, tun wir’s auf anständige Art. Und du, mein Mädchen, du läufst. Zehn Minuten, und du bist zu Fuß im Krankenhaus. Wegen eines gebrochenen Fingers kommt kein Wagen. Höchstens für einen abgeschnittenen Finger.« Sie trank einen großen Schluck kalten Kaffee, und als Alice auf ihre eigenen Finger blickte, waren sie leer. Mit schenk allen was ein, war offenbar nicht sie gemeint gewesen. Selbst Lina mit dem gebrochenen Finger hielt einen Becher in der heilen Hand. Chris in der Tür ebenso. Nur sie nicht.

»Und mein Trinkgeld?«, heulte Lisa mit rotfleckigem Gesicht und wischte sich mit ihrem Overallärmel unter der Nase entlang.

»Du meinst das Trinkgeld, das es nicht gegeben hat, weil es im Chaos nun mal kein Trinkgeld gibt?«, fragte Inga mit beißendem Hohn zurück. »Dieses Trinkgeld hebe ich dir selbstverständlich gern auf. Wie gehabt. Ich habe dir das Trinkgeld aufgehoben, als du über Bord gefallen bist, als du bei der Konkurrenz auf dem Schiff gelandet bist, sogar als du in Urlaub warst. Was also soll die Heulerei? Geh endlich, sonst fault dir der Finger auf halbem Weg ab, dann hast du nur noch neun. Und nun zu dir«, wandte sie sich an Alice, während Lina heulend von Bord ging und Eddie und Chris von Ingas Stimme alarmiert das Weite suchten. »So ein Chaos wie eben hat es auf diesem Schiff noch nie gegeben. Du bist keine Servicekraft, und ich werde dafür sorgen, dass du weder auf diesem Schiff noch auf irgendeinem anderen auf diesem Planeten eine wirst. Egal in welchem Winkel der Welt. Nicht einmal auf einer der Fähren zu den Ostfriesischen Inseln. Du hast noch nie im Leben ein Tablett an einen Tisch gebracht, du hast noch nie im Leben Bier gezapft, und du hast vom Umgang mit einem Ordermen oder einer Computerkasse so viel Ahnung wie ich im Umgang mit Stricknadeln. Grob geschätzt, würde ich sagen, Arbeit kam in deiner Lebensplanung noch nicht vor, zumindest nicht die geordnete Form von Arbeit, wie normale Menschen wie ich sie kennen. Befehle geben kann jeder, Befehle ausführen nur die Wenigsten. Du bist nur eine gottverdammte Hochstaplerin und eine noch gottverdammtere Lügnerin, und dein Probearbeitstag war nichts weiter als eine gottverdammte Katastrophe. Also pack deine Klamotten zusammen und hau ab. Nicht das blöde Büro hat in dieser Angelegenheit das letzte Wort, wir auf dem Schiff haben es.«

»Okay«, sagte Alice langsam und dachte krampfhaft nach. Ihr größter Fehler seit Langem war es gewesen, die Rolle der Servicekraft schmählich zu unterschätzen. Ein freundliches Lächeln und ein sexy Hüftschwung reichten nicht aus. Kein einziger von den Fahrgästen eben hatte sich über ihre Unkenntnis hinwegtäuschen lassen. Trotzdem durfte sie den Job auf gar keinen Fall verlieren. Er war ihre einzige Eintrittskarte in die Welt des Mordes am Rattenfänger. »Gut, wie du willst. Ich sollte vielleicht besser meinen Mund halten und euch nicht vorzeitig warnen, aber ich bin erst seit einer Stunde an Bord und kann euch jetzt schon eine ellenlange Mängelliste ausstellen. Erstens ist Lina mit einem Gesicht durch die Gegend gelatscht, das auch den wohlwollendsten Kunden vergrätzt. Zweitens wart ihr beide völlig überfordert, als von den Kunden Extrawünsche kamen. Ein guter Service setzt in meinen Augen auch geistige Flexibilität voraus. Vorhandensein bei euch beiden auf dieser Rundfahrt? Gleich null. Was mir noch aufgefallen ist? Punkt drei: Du hast Lina aus deinem Kellnerportemonnaie einen Fünfer zugesteckt, als ihr beide euch unbeobachtet fühltet. Viertens: Ihr sauft an Bord. Und zwar von Gottes Beständen. Eddies Fahne konnte schon eine Horde Schweine narkotisieren, als ich an Bord kam. Und last but not least hat Eddie mir freundlicherweise bestätigt, dass ihr euren Chef auch bei den Abrechnungen bescheißt.« Alice hatte sich mit den Fäusten in den Seiten vor Inga aufgebaut und schaute mit funkelnden grauen Augen auf sie hinunter, während die roten Locken, die sich im Eifer des Gefechtes aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten, wild ihr finsteres Gesicht umstanden. »Glaubst du, all dies wird Gott gefallen?«

Einen Moment lang schien es Inga, als wären der Neuen plötzlich Hörner gewachsen. Sie starrte sie an und war seit langer Zeit zum ersten Mal sprachlos. Klar, sie hatte Lina einen Fünfer in die Hand gedrückt, aber doch nur als Abschlag auf das Trinkgeld, das sie am Ende der Fahrt sowieso von ihr erhalten hätte. Dass es keins geben würde, konnte ja niemand ahnen. Lina hatte sich an Bord Zigaretten kaufen wollen und kein Geld dabei gehabt. Klar, sie hätte ihr auch die Zigaretten geben und sie das nächste Mal zahlen lassen können, aber eines ihrer, Ingas, Prinzipien war eben, keine Ware ohne Bezahlung herauszugeben. Vor allem nach der Pleite mit dem Rattenfänger. Wusste man, was dem- oder derjenigen zustieß, kaum, dass man irgendetwas auf Pump über den Tresen schob? Sie gab nicht einmal an Eddie oder Chris etwas heraus. Nicht einmal an sich selbst. Vom kalten Kaffee einmal abgesehen, aber der diente medizinischen Zwecken, wozu die Aufrechterhaltung der Arbeitsmoral gehörte, was bei dem kümmerlichen Gehalt bei der Schifffahrtsgesellschaft Jansen eine Kunst für sich war. Was sich Eddie und Chris hinter ihrem Rücken nahmen, entzog sich ihrer Kontrolle. Es gab Dinge, die wollte sie auch nicht wissen.

Das, was diese rothaarige, arrogante Tussie hier abzog, war nichts anderes als Erpressung.

»Was willst du?«, fragte sie zähneknirschend, und ihre bergseeblauen Augen blitzten vor Wut. Okko Jansen würde die Mängelliste kaum gefallen, vor allem nicht die Sache mit dem Vorschuss, dem kalten Kaffee und den Mauscheleien. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was passierte, wenn Okko Jansen erfuhr, dass Eddie und Chris während des Fahrens tranken. Er würde einen Schuldigen suchen – er würde sie finden. Wie immer.

»Schon besser.« Alice lächelte und sonnte sich im Erfolg ihres spontanen Einfalls. Bei aller Bescheidenheit war diese Idee einer Detektivin mit ambitionierten Zukunftsplänen durchaus würdig gewesen. Zeit für ein kleines Zugeständnis, um das Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank milder zu stimmen. »Zugegeben, ich bin keine gelernte Servicekraft, was dich wohl kaum verwundern wird. Jetzt, wo meine Tarnung aufgeflogen ist, werde ich es dir wohl beichten müssen: Ich bin in einer besonderen Mission hier. In einer, vorsichtig ausgedrückt, nicht öffentlichen Mission. Aber längstens in zehn Tagen bist du mich los.« Wenn die Detektei Roderich, Hupe und von Rhoden Patrizia Müllers Sparstrumpf geplündert hatte. »Es ist eine bescheuerte Situation für uns beide, ich weiß. Von meiner Seite aus kann ich dir zusichern, Gott gegenüber meinen Schnabel zu halten - falls wir uns einigen können. Du wirst keiner Seele von unserem Gespräch erzählen, auch keiner vertrauten Seele. Niemandem, okay? Wir beide werden uns bemühen, nett und freundlich miteinander umzugehen. Du wirst mir zeigen, wie man eine wirklich gute Servicekraft wird, Das Wichtigste aber: Wenn ich eine Frage habe, egal zu welchem Thema, wirst du sie mir beantworten, dann wird Gott dich und alle hier an Bord lieben.«

Heilige Scheiße, dachte Inga erschlagen. Jetzt ist es wahr geworden. Gottes Spionin ist auf die Erde gestiegen, um die Besatzung der Libelle unter die Lupe zu nehmen, und du Dämlack versagst auf der ganzen Linie. Na toll. »Zehn Tage?«

»Längstens zehn. Wenn du kooperierst, vielleicht auch weniger. Wenn nicht ...« Sie ließ die Drohung im Raum stehen. Es klang, als wolle sie sich andernfalls auf Jahre einquartieren. »Was ich in meiner Zeit an Bord nicht dulden werde, sind betrunkene Nautiker. Ich hänge an meiner Gesundheit. Und da ich in den nächsten zehn Tagen im Service mitarbeite, dulde ich auch keine finanziellen Mauscheleien, es sei denn, es ist ein Notfall wie heute. Für alle anderen Baustellen an Bord bist du zuständig, da mische ich mich nicht ein.« Sie stoppte gerade noch rechtzeitig, bevor sie Inga einen Vortrag über eine betriebswirtschaftlich effektive Bewirtschaftung eines Fahrgastschiffes im Allgemeinen und die Schulung der Servicekräfte im Besonderen hielt. Manchmal, dachte sie widerwillig, ist es besser, beizeiten den Mund wieder zuzuklappen. »Du und ich, wir beide werden uns nach der letzten Rundfahrt zusammensetzen, das Geld zählen und uns auf eine anständige Art und Weise aus dem Chaos herausmauscheln. Wir werden die Gastro in der Computerkasse gegen das Geld in den Portemonnaies abrechnen, die Stornobons abziehen und dann so lange über den Ordermen Getränke in die Kasse geben, bis die Gleichung stimmt. Bei der Gelegenheit kannst du mir gleich den Umgang mit einem Ordermen beibringen. Ist das angekommen?«

Inga, der Schrecken aller neuen Servicekräfte, der Schrecken der Personalchefin und eine der letzten Personen, die der Aushilfsrattenfänger gesehen hatte, bevor er mit einem Messer im Nacken über Bord fiel und in die Schiffsschraube geriet, Inga nickte beklommen, wobei sie unter ihren Sommersprossen noch blasser wurde.

»Okay«, krächzte sie dann und ließ ihren Blick durch den Salon wandern. »Die Gäste sind da. Möchtest du laufen oder soll ich dich diesmal ablösen?«

Alice warf einen kurzen Blick über die Schulter. Die neuen Fahrgäste, um die achtzig diesmal, rangelten sich eben um die Fensterplätze, nachdem sie ihre Kurzstreckensprints beendet hatten. »Es wäre mir lieb, liebe Inga, wenn du diesmal läufst und ich hinter der Theke bleibe. Meinen Fußsohlen ist nach Stehen zumute. Und nimm ruhig den Ordermen, während ich die Kasse wieder hochfahre. Ein wenig Übung kann nicht schaden, und Gott wird’s freuen.«

Ich bring sie um, dachte Inga und lief los.

Mörderische Schifffahrt

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