Читать книгу Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - Страница 11

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An den Toiletten vorbei und die erste Treppe hinauf, die mir in die Quere kommt. Wenn sie bloß aufs Dach führt, auf einen Balkon oder wenigstens zu einem Fenster …

Zweiter Stock. Meine Beine sind elend schwer. Dritter Stock, vierter, ich kann die Füße kaum noch heben. Mein Körper fühlt sich an wie ein Sack voller Lehm und dieser Lehm quillt bis in meinen Kopf hoch, alles dort oben wird zäh und klebrig, jeder Gedanke erstickt bis auf einen:

Weiter. Weiter.

Im siebten oder vielleicht achten Stock stoße ich endlich auf eine Tür. Ohne mich lange mit der Frage aufzuhalten, wer oder was sich dahinter befinden könnte, drücke ich die Klinke herunter, stemme mich gegen das Türblatt – und weiß: Alles wird gut.

Langsam trete ich auf den Balkon und in die Dämmerung hinaus. In der Ferne höre ich Verkehrslärm. Ich lege die Finger um die Balkonbrüstung und stehe einen Atemzug lang nur da, dann löse ich vorsichtig den Blick von meinen Händen und hebe den Kopf. Versinke im Farbentanz.

Während ich den Glanz in mich aufnehme, lausche ich auf Schritte oder Stimmen, doch alles bleibt still.

Wenn es so ist wie jetzt und der Glanz bei mir ist wie ein lebendiges Wesen, das mich umfängt und festhält, bin ich glücklich. Die lehmige Schwere verschwindet aus meinen Gliedern, mein Kopf wird leicht und hinter meinen Augen breitet sich Wärme aus. Das Gewicht auf meiner Brust löst sich auf. Fast könnte ich davonschweben, über die Balkonbrüstung hinweg und hinaus in den Glanz, in das Universum dahinter …

Mein Arkanit hat sich stabilisiert. Ich atme tief ein und verabschiede mich von dem Farbentanz, sehe die weiße Mauer, die die Akademie umschließt, und dahinter die Bäume der Alleen. Jetzt, im Sommer, ist das Laub der Eichen und Buchen ein dunkelgrünes Dach, das in der Dämmerung regenbogenfarben schillert.

Wenn etwas Furchtbares wie der Glanz gut zu mir ist, muss ich dieses Gute dazu nutzen, meinen Vater aus Cloverhill rauszuholen. Meine Mutter kann ich nicht mehr retten, aber meinen Vater und vielleicht ein paar andere Menschen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.

Ach ja?, murmelt eine Stimme in mir. Dann hättest du dich in der Prüfung besser rausgehalten, statt dich in Kenos Traum einzumischen. Schon vergessen, mit welchen Worten Gathea dich gehen ließ? Ich würde sagen: Das klang heftig nach einem Durchgefallen.

Atmen. Gute Gedanken denken.

Vorsichtig kehre ich ins Treppenhaus zurück. Meine Schritte sind wieder leicht, ich kann einigermaßen klar denken und auch sehen, was mich umgibt. Ziemlich prunkvoll. Stuck an der Decke, Marmorstufen, ein schnörkeliges Geländer, das alles ist mir auf meiner Flucht nach oben so wenig aufgefallen wie das Plakat dort drüben an der Wand. Graue Buchstaben mit einem schwachen Silberglanz. Ich bleibe stehen und lese, was da steht.

Ein saurer Geschmack steigt mir in den Mund. Die Worte auf dem Plakat sind abstoßend. Hässlich. Niemand aus der Akademie kann so etwas hier aufgehängt haben, das ist völlig unmöglich. Das, was dort steht, ist absolut illegal. Jemand sollte das Plakat möglichst schnell entfernen. Mit zitternden Fingern löse ich es von der Wand, rolle es zusammen und eile die Treppen hinunter, in den Vorbereitungsraum.

Angesichts meines Fundes hat Xavier meine Erklärung, dass ich nur die Toiletten gesucht habe, kaum zur Kenntnis genommen. Das Plakat hat er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Unter der Überschrift Die Rechte der Menschen im Zeitalter des Glücks stehen nur wenige Worte. Wir alle haben das Recht auf Angst, Schmerz und Verzweiflung. Den Wert eines Lebens am Glück zu bemessen, ist katastrophal für wahres Mitgefühl.

Das Schlimmste hat sich der Verfasser für den Schluss aufgehoben: Leiden und Schmerz gehören zum Leben.

In fetten goldenen Buchstaben.

Xavier seufzt. »Klingt original nach einem Erzeugnis der Viren.«

Die Viren. Von dieser Splittergruppe der Grenzgänger habe ich natürlich schon gehört. Als wäre es nicht abartig genug, sich absichtlich in die dunklen Gefühle hineinzustürzen, tun die Viren noch mehr: Sie arbeiten aktiv daran, so viele Menschen wie möglich mit ihrer gestörten Einstellung zu infizieren.

»Wir leiten das an die Polizei weiter.« Xavier rollt das Plakat zusammen, klemmt es sich unter den Arm und will gerade zur Tür hinaus, als eine strahlende Tilda hereingestürmt kommt und beinahe mit ihm zusammenstößt. Ihr Gesicht läuft feuerrot an.

»Darf ich raten? Bei dir hat alles geklappt.« Er lächelt und seine Stimme wird um eine Nuance weicher. »Wie war noch dein Name?«

»Was?« Atemlos blickt sie zu ihm hoch. »Tilda. Ich bin Tilda. Und, äh, ja, ist super gelaufen.«

»Dann sehen wir uns vielleicht bald wieder.« Mit einem letzten Blick zieht Xavier die Tür hinter sich zu.

Tilda kommt zu mir herüber und schaut sich noch einmal nach der Tür um. Ihr Lächeln wirkt ein wenig benommen, doch als sie mein Gesicht sieht, ist sie sofort voll da. »Gemma? Was ist passiert?«

Meine Mundwinkel zittern. Nicht weinen. Von innen beiße ich mir auf die Unterlippe. Und lächle. »Ich war nur als Protektorin drin.«

»Kein zweiter Traum? Du bist nicht als Observerin rein?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenigstens hab ich’s versucht. Mit der Prüfung, meine ich.«

Sie macht einen Schritt auf mich zu, nimmt mich in die Arme und drückt mich so fest an sich, dass es wehtut. »Wir gehen nur zusammen an die Akademie«, flüstert sie an meinem Ohr. »Etwas anderes kommt nicht infrage.«

Gemma. Sei glücklich oder stirb

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