Читать книгу Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - Страница 6
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3 . August 2105
Meine schönste Erinnerung an meinen Vater ist die, wie er eines Abends mit einem neugeborenen Kätzchen nach Hause kam. Er hatte es in einem Müllcontainer gefunden. Damals war ich fünf, doch er zögerte keine Sekunde, mir das Kätzchen in die Hände zu legen. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sich die zarten Pfoten spreizten und Halt auf meiner Haut suchten. Mit einer Fingerspitze strich mein Vater über den Rücken des winzigen Tiers, dessen Augen noch geschlossen waren. »Wir nennen es Fussel und es wird mindestens zwanzig Jahre alt«, versprach er mir.
Meine letzte Erinnerung an meinen Vater ist die, wie er mich ansah, bevor er aus meinem Leben verschwand. Das war vor drei Monaten, als er nach Cloverhill ging, in Quarantäne. Sein Arkanit hatte sich mit dem grauen Nebel gefüllt. Danach war klar, was passieren würde.
Sofort lasse ich die Erinnerung wieder ziehen. Es ist wichtig, an die schönen Dinge zu denken. Zum Beispiel daran, dass Fussel inzwischen elf Jahre alt ist und am liebsten auf meinem Kopfkissen schläft, wo ich sie leise schnurren höre, wenn ich mein Ohr an ihr Fell lege.
Es ist außerordentlich wichtig, dass mein eigener Arkanit golden bleibt.
Schon im Kindergarten lernen wir die Zonen auswendig, in die der Stein geraten kann, den wir an einer Kette um den Hals tragen.
Erste Zone: Dein Arkanit ist golden und sonst nichts. In der Ersten bist du sicher.
In der Zweiten Zone bilden sich im Gold graue Nebelfäden. Jetzt musst du aufpassen, dass es nicht zu viele werden.
In der Dritten Zone hat sich der graue Nebel überall ausgebreitet, vom Gold ist nichts mehr übrig. Das bedeutet: Quarantäne.
In der Vierten Zone tauchen im Nebel die ersten schwarzen Fäden auf. Je mehr es werden, desto weniger Zeit bleibt dir.
In der Fünften ist dein Arkanit vollkommen schwarz.
Unseren Arkanit müssen wir ständig im Auge behalten, das wird uns von klein auf eingebläut. Was er uns zeigt, ist lebensnotwendig. Um jeden Preis müssen wir in den oberen Zonen bleiben, am besten natürlich in der Ersten, aber auch die Zweite wird akzeptiert. Je tiefer wir sinken, desto gefährlicher wird es.
Jeden Morgen haben unsere Kindergärtner es mit uns geübt: Nach dem Aufwachen gilt dein erster Blick dem Arkanit. Wenn er golden leuchtet, ist alles gut. Doch sobald sich ein grauer Nebelfaden darin zeigt, und sei er noch so winzig, musst du sofort mit einem Erwachsenen sprechen.
In der Grundschule lernen wir dann, ein Tagebuch zu führen. Ganz besonders mag ich angegilbte Seiten und altmodische Einbände mit floralen Mustern. Das Schreiben hilft uns, die schlechten in gute Gefühle zu verwandeln und auf diese Weise in den oberen Zonen zu bleiben.
»Stellt euch vor, ihr erzählt jemandem eine Geschichte«, sagte meine Klassenlehrerin damals. »Stellt euch vor, ihr schreibt eine Geschichte für jemanden, den ihr liebt. Und konzentriert euch dabei auf das Positive.«
Weitere Maßnahmen, die empfohlen werden:
1. Schlafe ausreichend.
2. Suche neue Erfahrungen.
3. Ernähre dich gesund.
4. Treibe Sport.
5. Verbringe viel Zeit mit anderen Menschen.
6. Halte dich von Energievampiren fern.
7. Pflege dein Inneres Programm.
Das alles müssen wir beherzigen, damit wir in diesem Krieg überleben, von dem wir nicht wissen, warum er begonnen wurde. Unser Feind beleidigt uns nicht. Er demütigt uns nicht. Er foltert uns nicht. Er tötet uns. Ohne uns je zu berühren. Sein Name ist Glanz. Vor achtzig Jahren tauchte er ohne Vorwarnung am Himmel auf. Er nahm uns das Sonnenlicht, unseren Tag und unsere Nacht. Jetzt ist da nur noch er, der über unserer Welt schwebt. Anfangs ahnten die Menschen nicht, welche Folgen das hätte. Bis die ersten ihr Leben verloren. Heute haben wir verstanden, was der Glanz von uns verlangt. Er hat eine Welt geschaffen, in der wir nur überleben, wenn wir glücklich sind.
Wer nicht glücklich ist, stirbt.
Es ist seltsam, wie sich manche Tage entwickeln. Zähne putzen, frühstücken, du holst dein Fahrrad aus dem Keller, fährst los und am Ende des Tages hat sich dein Leben völlig umgekrempelt.
Als ich mein Rad vor dem Appartementhaus abstelle, in dem meine beste Freundin Tilda wohnt, ist die Luft rein, trotzdem schaue ich zur Sicherheit noch einmal nach rechts und links. Niemand zu sehen.
Tu’s nicht, Gemma. Lass es. Für heute reicht dein Vorrat.
Doch da ist auch diese andere Stimme in mir, und die flüstert: Du weißt, was auf dem Spiel steht. Das hier könnte deine letzte Chance vor der Prüfung sein. Na los. Tu es. Mach schon!
Meine Fäuste ballen sich, meine Schultern verkrampfen. Obwohl ich dagegen anzukämpfen versuche, lege ich langsam den Kopf in den Nacken und sehe mit weit geöffneten Augen hinauf. In dem hypnotischen Farbenspiel über mir drehen sich Wirbel und Strudel, vergehen und bilden sich neu. Es ist wunderschön – und wahrscheinlich bin ich die Einzige, die das so empfindet.
Wollte man den Glanz mit etwas vergleichen, dann mit einem regenbogenfarbenen Nebel, der sich in zehntausend Meter Höhe über uns wölbt und die Erde wie eine Hülle umschließt. Sonne und Mond sind dahinter verschwunden, eine trübe Dämmerung ist unser Tag und unsere Nacht. Morgenröte und Sternenhimmel kenne ich nur aus alten Filmen. Was sich oberhalb des Glanzes abspielt, bleibt für uns unsichtbar. Die Wissenschaftler sagen, die Sonnenstrahlung käme trotzdem durch. Auch Wind, Regen und Schnee sind kein Problem, unterhalb der Zehntausend-Meter-Marke gibt es sogar Wolken, bläulich grau wie Wale, die durch ein regenbogenfarbenes Meer schwimmen. Die heute gültige Theorie lautet außerdem, dass der Glanz für Pflanzen und Tiere nicht existiert.
Auf alle Fälle tötet er nur uns Menschen.
Meine Mitschüler, Freunde, Lehrer, Nachbarn, mein Vater und überhaupt alle, die ich kenne, schauen so selten wie möglich hinauf, vermutlich, weil es sie daran erinnert, was geschieht, wenn wir in die Fünfte Zone eintreten und unser Arkanit schwarz wird: Nach 72 Stunden lösen wir uns im Glanz auf. Wir sterben, egal, wie jung oder alt wir sind. Und obwohl ich das weiß, durchströmt mich jedes Mal, wenn ich in den Glanz schaue, ein Gefühl, als würde mich jemand in den Arm nehmen und mir zuflüstern, dass alles gut wird.
Warum ich so fühle und warum das schon immer so war? Ich habe keinen Schimmer.
In einem der oberen Stockwerke beginnt jemand zu singen, irgendwas mit »love« und »forever«. Wie ertappt reiße ich mich von dem Farbentanz los. Vor ein paar Monaten hat mich Tilda erwischt, als ich gerade hinaufgeschaut habe, und mich gefragt, warum ich so breit vor mich hin grinsen würde. »Pass bloß auf«, sagte sie und, ja, seither passe ich auf.
Niemand darf wissen, was ich tue. Niemand darf wissen, dass der Anblick des Glanzes mich glücklich macht und meinen Arkanit nur umso goldener strahlen lässt.
Sie würden es nicht verstehen. Der Glanz sollte mir Angst einjagen, wie jedem vernünftigen Menschen. Doch er tut es nicht.
Ohne das Licht anzuknipsen, sprinte ich die Außentreppe hoch. In der Dämmerung kann ich die Stufen kaum erkennen, aber das muss ich auch nicht, diesen Weg finde ich blind. Automatisch biege ich von einem Laubengang in den nächsten ein. Zwischen Geißblatt und Stockrosen recken Margeriten und Nachtkerzen ihre Köpfe: Chronoblumen, die zu unterschiedlichen Tageszeiten blühen und mit denen die ganze Stadt vollgepflanzt ist. Würden sämtliche Uhren auf einmal versagen, könnten wir zumindest jetzt, im Sommer, trotzdem erkennen, wie spät es ist. Du musst nur die Blumen angucken. Auch das lernen wir in der Grundschule. Seltsam, dass früher ein Blick in den Himmel genügte, um abzuschätzen, ob es Morgen ist, Mittag oder Nacht.
Ich drücke meinen Finger auf den Klingelknopf. Drei Sekunden später reißt Tilda die Tür auf.
Sie ist siebzehn, ein Jahr älter als ich, sieht aber jünger aus, wahrscheinlich, weil sie so klein ist. Ihre kupferroten Kringellocken plustern sich um ein mutwilliges Lächeln. Alles an ihr leuchtet vor Aufregung, sogar die goldene Farbe ihres Arkanits scheint intensiver zu strahlen als sonst. Als sie mich in die Arme schließt, hüllt mich ein Geruch von Jasmin und Bergamotte ein. Wow – Girl No. 1, das in Sachen positive Energie wirksamste Parfum, das in den letzten Jahren entwickelt wurde. Ich sauge den Duft in mich ein.
»Und? Wie teuer?«
»Schweineteuer. Und der Flakon, gerade mal so groß.« Tilda presst Daumen und Zeigefinger aufeinander. »Wie geht’s dir?«
»Bin bereit«, sage ich, bemüht, dass meine Stimme so gleichmütig wie möglich klingt.
Sie mustert meinen Arkanit, der golden leuchtet wie ihrer, nickt zufrieden und zieht mich in die Diele, vorbei an einem Chaos aus Schuhen und Jacken, hinein in die Küche, aus der uns Gelächter und Stimmengewirr entgegenschallen.
»Gemma!«, johlt Tildas Bruder Lennart. Ihre Großmutter Emily kreischt beinahe. Klingt, als hätte jemand zur Feier des Tages eine Runde Fortaxan spendiert, noch mal wow, das letzte Mal habe ich die Pillen gesehen, als mein Vater Anfang des Jahres eine Wochenration mit nach Hause brachte.
Fortaxan, Elektrotherapien, Magnetresonanz – kaum eine Glücksoptimierung, die er nicht durchprobiert hätte. Abgerutscht und nach Cloverhill geraten ist er trotzdem. Jetzt hängt es an mir, ob er überlebt.
Die Küche verschwimmt vor meinen Augen. Das kann ich jetzt echt nicht brauchen. Ich atme tief ein, atme noch länger aus und konzentriere mich auf das, was ist: dieser Augenblick, der Duft nach getoastetem Brot, nach Oma Emilys Lavendelseife und Opa Max’ geliebtem Speck aus der Pfanne, das Grinsen von Tildas Brüdern Sascha und Lennart, die durch die halbe Stadt gegondelt sind, um uns für unsere Prüfung Glück zu wünschen, das Geräusch der Wanduhr, ihr beruhigendes Ticken.
»Gemma, Süße.« Tildas Mutter Giselle, klein wie ihre Tochter und mit der gleichen roten Mähne, schließt mich in die Arme. Ich glaube, in den letzten Monaten hat sie mich weit häufiger umarmt als ihre eigene Tochter, wahrscheinlich findet sie, dass ich es nötiger brauche. Als ich meinen Kopf an ihre Schulter lehne, fällt mein Blick auf das Regal, das Sascha in der Grundschule gezimmert hat und in das Giselle so vernarrt ist, dass sie es Jahre später noch immer hängen lässt, obwohl die meisten Tassen, die sie auf seine schiefen Borde gestellt hat, herausgerutscht und zerbrochen sind. Auch ich liebe das Regal, wie überhaupt alles in dieser Küche, die sonnengelb lackierten Möbel, die Vorhänge in Himmelblau, das alles ist so viel anheimelnder als unsere karge Küche zu Hause.
Ein paar Atemzüge lang genieße ich es noch, wie Giselle mich hält, bevor ich mich behutsam aus ihren Armen löse. Opa Max schwenkt eine blaue Kanne in meine Richtung. »Kaffee, meine Liebe?«
Graue Fäden durchziehen seinen Arkanit. Letzten November ist er in die Zweite Zone geraten, kein Grund zur Sorge, wie Giselle immer wieder versichert, im Alter sei das nicht ungewöhnlich, außerdem stagniert die Zahl seiner Nebelfäden seit Monaten. Hauptsache, er hält sich. Doch Tilda steigt jetzt häufiger zu ihren Großeltern in den fünften Stock hinauf. Zu einem Happy-Hop-Tanzkurs hat sie ihren Großvater bereits überredet, an einer Anmeldung zur Silent-Power-Meditation arbeitet sie noch.
»Henkersmahlzeit.« Sascha wirft mir ein Brötchen zu. Ich erwische es, bevor es im Obstsalat landet, was mir Applaus von Lennart einbringt. Die beiden benehmen sich auch mit über zwanzig noch wie kleine Jungs. Am liebsten würde ich mich zwischen sie und den Rest dieser Chaotenfamilie setzen, stattdessen tippe ich auf meine Armbanduhr und schaue zu Tilda. »Wir müssen los.«
Das große Umarmen beginnt. »He«, ruft Opa Max, »falls ihr durchrasselt …«
»DIP!«, fährt Giselle dazwischen und piekt ihrem Vater revolvermäßig einen Zeigefinger vor die Brust.
Er grinst und salutiert. »Aye, aye, Käpt’n.«
DIP. Denk immer positiv.
Ich schaffe es. Ich schaffe alles. Wenn ich nur will.
Auf dem Weg nach unten kommt uns ein Mann mit grauer Haut und hohlen Wangen entgegen, der sich fest in seine beigefarbene Windjacke eingewickelt hat. »Tilda!«, ruft er, doch seine Fröhlichkeit klingt angestrengt. »Ich hab gehört, dass dich die Akademie zur Prüfung –«
»Tut mir leid, Darius, wir sind spät dran.« Giselle schiebt Tilda und mich rasch an ihm vorbei. Ich erhasche gerade noch einen Blick auf seinen Arkanit: Zweite Zone. Doch anders als bei Opa Max sind es nicht ein paar graue Fädchen, es ist ein ganzes Fadengewirr.
»Wenn Darius so weitermacht …« Giselle strafft sich. »Na, er fängt sich schon wieder.«
»Sein Freund«, raunt Tilda mir zu. »Im April.«
»Der Glanz?«, frage ich leise zurück.
Sie nickt.
»Das Schlimme ist, dass er bisher nicht einmal versucht hat, seine Trauer in den Griff zu kriegen«, sagt Giselle.
»Läuft mit einem Gesicht rum wie Gurkenwasser«, ergänzt Tilda. »Ziemlich krass. Als ob er absichtlich in die Dritte abschmieren will. Oder noch tiefer. Alle im Haus gehen ihm schon aus dem Weg.«
Für einen Moment sehe ich meinen Vater an seinem letzten Tag in unserer Wohnung, er hält Fussel im Arm, sie reibt ihr Köpfchen an seiner Wange, grauer Nebel zittert in seinem Arkanit … Stopp. Stopp! Während wir weitergehen, schrumpfe ich meinen Vater behutsam aus dem Fusselbild heraus, lasse ihn immer kleiner werden, bis da nur noch meine Katze mit ihren goldfarbenen Augen ist.
Es ist völlig in Ordnung, wenn du einen Menschen vermisst. Doch allerspätestens nach zwei Wochen solltest du dich wieder auf das Positive konzentrieren. Das Leben ist ein Geschenk, da darfst du deinen Kummer nicht vor dir hertragen. Du darfst deinen Kummer nicht gewinnen lassen. Denn Kummer gewöhnt sich daran. Und dann geht er nicht mehr weg.