Читать книгу Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - Страница 14
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Seit meinem Besuch in dem grauen Schuhschachtelhaus sind keine vierundzwanzig Stunden vergangen, doch inzwischen habe ich eine vollkommen andere Welt betreten. An Xaviers Seite gehe ich auf die mit bunten Mosaiken aufgepeppte Fassade des Wohnheims der Akademie zu. Hier und da schiebt sich ein Bäumchen durch eine Öffnung im Mauerwerk. Hundertwasser – ich glaube, so hieß er, dieser Architekt aus der Zeit davor. Das Gebäude sieht aus, als wäre er aus dem Grab gestiegen und hätte es höchstpersönlich entworfen.
Ein Fahrstuhl aus Glas trägt uns in den siebten Stock. Vor der Tür meines Appartements verabschiedet sich Xavier mit dem Hinweis, dass wir uns in zwei Stunden im Forschungszentrum wiedersehen, und lässt mich allein.
Ein eigenes Appartement. Und was für eins.
Der Raum ist so groß, dass ich sofort Lust bekomme, mit ausgebreiteten Armen über das Parkett zu segeln. Alles wirkt hell und einladend, die orangefarbenen Vorhänge, der vanillegelbe Teppich, die lindgrünen Stuhlkissen und die azurblauen Lampen … So war es wohl, wenn du in früheren Zeiten durch einen Tag voller Licht gewandert bist. Probeweise lasse ich mich auf das Bett fallen, in dem eine ganze Familie Platz finden würde und das weich wie eine Wolke ist. Ich schnelle wieder hoch und flitze ins Bad. Flakons und Töpfchen mit allen möglichen Cremes und Essenzen, dazu eine mit ungefähr tausend Massagefunktionen ausgestattete Wanne … Vom Bad weiter in die Küche und zum Kühlschrank, der bis zum Anschlag vollgestopft ist mit diesen sauteuren Sachen, die das Gesundheitsministerium empfiehlt und die sich kaum jemand leisten kann. Ich jedenfalls nicht. Hier servieren sie uns das alles umsonst. Auf einem Tablett arrangiere ich mir den leckersten Happy-Food-Imbiss meines Lebens: Powerbowl und Caribic Juice, dazu ein Haufen exotischer Früchte. Vom Schreibtisch schnappe ich mir den Lageplan der Akademie und lasse mich in den Korbsessel draußen auf dem Balkon sinken. Unter mir breitet sich der Campus wie eine Spielzeuglandschaft aus.
Immer wieder gleiche ich das, was ich sehe, mit dem Lageplan ab. Geradeaus liegt das Forschungszentrum, das von außen so durchgeknallt wirkt wie unser Wohnheim – nur zehnmal so groß. Fenster, von denen keines wie das andere ist, runde Türme, aus pastelligen Mauern wuchern Vorhänge aus irgendeinem Grünzeug, auf dem Hauptdach balanciert eine Art goldenes Auge; die gigantische Nachbildung eines Arkanits.
Rechts vom Forschungszentrum erheben sich zwei bunte Riesenpilze: Heaven’s Gate (Wellness-Center) und FunctionalFood (Mensa/Biomarkt). Noch weiter rechts ragt die spiralige Riesenmuschel in die Dämmerung, die wir regelmäßig im Fernsehen bewundern können: das Mandala-Zentrum. Die Menschen auf den Balkonen dürften die superreichen Schauspieler, Sportler, Musiker, sonstigen Promis sein, die sich hier aus einer Kritischen Zone herausholen lassen.
Für einen Moment sehe ich meinen Vater in dem kleinen Zimmer in Cloverhill. Fussel hat sich auf seinem Schoß zusammengeringelt. An seinem gelb-blau gestreiften Hemd fehlt ein Knopf.
Wenn er nur auch bald auf einem dieser Balkone sitzt!
Das Hauptgebäude, in dem ich meine Prüfung abgelegt habe, kann ich von meinem Platz aus nicht erkennen, dafür jedoch links einen weitläufigen Park. Labyrinthische Wege führen an weißen Pavillons vorbei, dazwischen blühen Rosengänge, Obstbaumhaine und Beete voller Chronoblumen. Die Studenten und Mitarbeiter der Akademie haben es sich auf bunten Decken gemütlich gemacht, wo sie lesen, miteinander picknicken, einfach zusammen sind.
Doch etwas stimmt nicht.
Erst verstehe ich nicht, was es ist. Dann wird es so deutlich, dass ich mich frage, wie ich es die ganze Zeit übersehen konnte. Egal, wo die Menschen sitzen oder gehen, alle kehren sie ihre Rücken einem Zaun zu, der den Park auf der linken Seite begrenzt. Es wirkt nicht so, als täten sie es absichtlich, sondern als hätten sie sich instinktiv abgewandt.
Hinter dem Zaun liegt eine sanft gewellte Wiese, durchschnitten von einer Asphaltstraße. Laut Lageplan gehört dieses umzäunte Gebiet ebenfalls zum Campus, allerdings findet sich dort keine bunte Architektur. Die Straße schlängelt sich durch hohes Gras davon, während rechts und links immer mehr Bäume an sie heranrücken, bis sie zuletzt in einen Wald eintaucht. In der Dämmerung ist er kaum mehr als eine verschwommene Linie.
Das ist alles.
Ich schaue auf meinen Plan. Sperrgebiet. Mittendrin ein rotes X. Darunter, ebenfalls in Rot:
Gymnasium Freyard.
Dort, in dem Wald, liegt die Schule, in die vor achtzig Jahren die regenbogenfarbene Lichtkugel eingeschlagen ist. Die Geburtsstätte des Glanzes, versteckt hinter Bäumen, umgeben von einem Zaun.
Dort ist sie.
Die Kuppel, von der die ganze Welt spricht.
Zögernd öffne ich die Tür mit dem Symbol der Akademie – das goldene, von einem vierblättrigen Kleeblatt umrankte A – und betrete den hellen Saal im ersten Stock des Forschungszentrums. Sie haben etwas mit den Rundbogenfenstern gemacht: Hinter den Scheiben leuchtet statt des Glanzes ein zartblauer Sommerhimmel. So ein Neun-Uhr-morgens-Ferientag-Himmelblau aus alten Kinderbüchern.
Von den drei Stühlen in der Mitte des Saals sind zwei schon besetzt.
Larissa liest in einem dicken Wälzer und knibbelt dabei abwesend an dem kleinen Muttermal unter ihrem Auge. Der Einband ist mit goldenem Glanzpuder bestäubt. Lebe dein Glück, der neueste Ratgeber von Marten Pavel, seit Wochen auf Platz eins der Bestsellerliste.
Ich setze mich auf den Stuhl neben Tilda. »Na du?«
»Na?« Sie strahlt mich an. Das Outfit, das sie für den ersten Tag in ihrem neuen Leben ausgewählt hat, ist auf alle Fälle … bunt. Die verschiedenen Lagen aus Schals und Tüchern hat sie völlig chaotisch und zugleich sorgfältig um sich herum drapiert. Glitzerspangen stecken überall in ihren aufgetürmten Kringellocken.
»Ist dein Zimmer auch so …«
»Irre luxuriös?« Ich nicke.
Sie zögert. »Und wie geht’s deinem Vater?«
Mundwinkel oben halten. »Ganz okay. Er sorgt sich ein bisschen wegen der Akademie.«
Mit dem Daumen streicht sie über meinen Handrücken. »Er ist in der Dritten. Da sind Sorgen normal.«
»Vierte.«
Sie starrt mich an. Mein Magen verkrampft. »Wie bitte?«
»Er ist in die Vierte abgestiegen.«
»Echt?« An ihrem Nasenflügel zuckt ein Muskel. Dann: »Du holst ihn da raus. Nächstes Semester darf er ins Mandala-Zentrum. Das geht total schnell, du wirst sehen.«
»Ja.« Ich versuche, mit fester, ruhiger Stimme zu sprechen, was mir nur mittelmäßig gelingt.
Larissa klappt ihr Buch zu, wobei sie einen Finger als Lesezeichen zwischen die Seiten steckt, und beugt sich zu mir herüber. »Hast du deine Testperson echt aus der Dritten rausgeholt?«
»Ja, schon.«
»Wow.«
Ihr Blick lenkt mich wenigstens kurzzeitig von meinem Vater ab: Für einen Moment fühle ich mich wie Superwoman. Leider hält das Gefühl nicht lange an, denn sie wendet sich bereits schwärmerisch dem nächsten Thema zu.
»Kostenlose Unterkunft, null Studiengebühren, ist das nicht super?« Ihre Klamotten, das fällt mir erst jetzt auf, wirken ziemlich ramponiert, als hätte sie sie von einer Schwester geerbt, die sie wiederum von einer Schwester geerbt hat. »Und im zweiten Semester dürfen wir sogar einen Angehörigen ins Mandala-Zentrum holen, Wahnsinn.«
Tilda und ich tauschen einen schnellen Blick.
Die Tür öffnet sich und Xavier kommt herein, gefolgt von einem Mann und zwei Frauen in flatternd weißen Laborkitteln. Eine von ihnen kenne ich bereits. Beatrix Swann.
»Schön, euch wiederzusehen.« Xavier nickt uns zu, sein Blick streift Tilda, kehrt jedoch gleich wieder zu uns allen zurück. »In diesem Semester bin ich euer Tutor. Ihr könnt euch jederzeit an mich wenden, wenn ihr Fragen zu eurem Studium habt. Heute gebe ich euch schon mal einen kurzen Überblick und dann legen wir auch gleich los.« Sein Lächeln soll uns wahrscheinlich ermutigen, aber inzwischen bin ich so zittrig, dass ich wohl demnächst seitlich von meinem Stuhl rutschen werde. »Wie ihr sicher wisst, umfasst euer Studium acht Semester. Nach jedem Semester habt ihr sechs Wochen Ferien, in denen allerdings die Prüfungen liegen. Der Unterricht findet täglich von neun bis siebzehn Uhr statt. Auf einen fixen Stundenplan verzichten wir, den stellen wir wöchentlich neu für euch zusammen, wobei wir großen Wert auf eine ausgewogene Mischung aus Theorie und Praxis legen.«
Aha. Was immer ausgewogen bedeuten mag.
Oder Praxis.
Als Nächstes stellt uns Xavier die Protektoren vor, die sich rechts und links von ihm aufgereiht haben und die sich ebenfalls um uns kümmern werden; ihre Namen vergesse ich sofort wieder, ich bin einfach zu aufgeregt.
Nun. Bis auf einen Namen. Beatrix Swann.
Xavier räuspert sich – und an der Art, wie er das tut, höre ich, dass es jetzt ans Eingemachte geht.
»Wir an der Akademie«, er faltet die Finger zu einem Gewölbe und betrachtet uns über dessen Kuppel hinweg, »sind die Verteidiger des Glücks. Der Kampf gegen das Negative ist das Herz unserer Arbeit und sein Tod bei jedem Spiel unser letzter Zug. Wir verfolgen das Negative mit Strategien, die euch manchmal gnadenlos erscheinen mögen. Wir tun das, weil nichts auf der Welt wichtiger ist als das Glück.« Sein Lächeln verblasst. »Ihr seid nicht zum Spaß hier. Ihr seid die Waffe gegen den Glanz. Die Menschen schützen – das ist von jetzt an eure Aufgabe.« Mit auf dem Rücken verschränkten Händen beginnt er, langsam an den Fenstern entlangzugehen. Das Sommerlicht legt einen bläulichen Schimmer auf sein Haar. »Der Gesunde wählt seinen eigenen Weg. Der Kranke lässt sich vom Geschehen treiben. Der Gesunde verändert. Der Kranke verharrt. Diese Kranken zu retten, ist euer Job.«
Der Blick von Beatrix Swann wandert über uns hinweg und bleibt an mir hängen. Ihre Nasenflügel blähen sich. Beinahe unmerklich weicht sie einen halben Schritt zurück. Oje. Kein gutes Zeichen. Wie mag es Florentine inzwischen gehen? Kommt sie damit klar, dass sie durchgefallen ist? Ihre Mutter ja offensichtlich nicht.
Es kostet mich einige Mühe, mich wieder auf Xavier zu konzentrieren, der mittlerweile auf einen Impfstoff gegen die negative Energie umgeschwenkt ist, an dem die Akademie unter Hochdruck arbeitet. »Bis die Forschungen abgeschlossen sind, bleibt die Modulation unsere effektivste Therapie.« Er wendet sich von den Fenstern weg und wieder in unsere Richtung. »Was tun wir bei der Modulation?« Die Antwort gibt er gleich selbst: »Wir verhindern den Angriff.«
In der darauffolgenden Stille hat das Wort Zeit, in unsere Köpfe einzusickern und sich festzusetzen.
»Der Angreifer kann alles Mögliche sein: Mensch, Tier oder ein völlig anderes Geschöpf, Stimme, Geruch oder Naturgewalt. Alles ist möglich. Der Angreifer will den Träumer in den Strudel der negativen Energien hinabziehen. Dagegen stehen wir. Als Protektoren modulieren wir den Angriff, das heißt, wir verändern den Traum und geben ihm einen positiven Dreh. Dabei handeln wir rein intuitiv. Die Besten von uns schaffen das in nur einer Sitzung«, sein Blick streift mich kurz, »doch so etwas gelingt nur wenigen, stellt euch also auf eine harte Arbeit ein, die eure Fähigkeiten immer wieder auf die Probe stellt. Vertrauen ist dabei der Dreh- und Angelpunkt. Nur, wenn der Träumer euch vertraut, wird er eure Hilfe annehmen.« Behutsam streicht er mit einer Hand über eine blaue Fensterscheibe. »Vertrauen spielt auch eine zentrale Rolle bei der Identifikation, auf die wir später im Semester noch zurückkommen.« Zentimeterweise wendet er sich von dem Fenster weg und wieder zu uns hin. »Nur so viel: Mithilfe der Identifikation finden wir heraus, wer seinen Arkanit mit Silver Ice manipuliert hat. Von Silver Ice habt ihr natürlich schon gehört.«
Jeder hat davon gehört. Silver Ice gilt als gefährlichste Droge der Welt, wurde von den Grenzgängern entwickelt, genauer gesagt von den Viren, und ist nur über deren geheime Kanäle zugänglich. Du injizierst irgendwas Synthetisches in deinen Arkanit und je nach Höhe der Dosis friert ihn das für eine Zeit lang in der Zweiten Zone ein: Auch wenn du selbst in eine Kritische Zone absteigst, bleibt dein Arkanit in der Zweiten.
»Wir vermuten, dass inzwischen eine neue Droge im Spiel ist. Statt Silver Ice kriegen wir es jetzt mit einem Golden Ice zu tun.« Xavier tritt von den Fenstern zurück. Dort, wo er die Scheibe berührt hat, erscheint mir das Blau eine Spur dunkler als zuvor. »Damit könnten sich die Viren sogar Zugang zur Akademie verschaffen.«
Mir kommt das Plakat in den Sinn, das ich an unserem Prüfungstag im Treppenhaus entdeckt habe.
Wir alle haben das Recht auf Angst, Schmerz und Verzweiflung. Den Wert eines Lebens am Glück zu bemessen, ist katastrophal für wahres Mitgefühl.
Mich fröstelt. Hat ein Virus das Plakat in die Akademie eingeschmuggelt? Jemand, der seinen Arkanit in der Ersten Zone eingefroren und sich auf diese Weise Zutritt verschafft hat?
»Lassen wir die Identifikation fürs Erste beiseite.« Xavier umfasst den Griff eines Fensters und stellt es auf Kipp. Die Geräusche des Campus dringen herein. Rufe, Gelächter, Vogelgezwitscher, es klingt eher nach Wellness als nach Wissenschaft, doch mir gefällt es so. Was mir auch gefällt: Tilda ist völlig in Xaviers Anblick versunken. Ruhig und gerade sitzt sie auf ihrem Stuhl, die Mundwinkel in einem Lächeln hochgebogen, von dem sie wohl selbst nichts mitbekommt. Während ich sie beobachte, werde ich ein bisschen neidisch. Ich würde auch gern einmal auf diese Art im Anblick eines anderen Menschen versinken.
Tilda meint, ich wäre noch mit niemandem zusammen gewesen, weil ich erst sechzehn bin, was keine taugliche Erklärung ist, wenn deine beste Freundin mit fünfzehn zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen hat. Ihr gegenüber tue ich natürlich so, als würde mich die Liebe nicht interessieren, und seit der Sache mit meinem Vater erscheint mir das Thema auch wirklich nicht mehr so wichtig, doch in der Zeit davor hätte ich es schön gefunden, wenn sich einmal jemand so richtig in mich verliebt hätte. Bisher war immer ich die Verliebte, und das war eher deprimierend. Mein erster Schwarm hieß Francis; alle Mädchen an der Grundschule waren in ihn verknallt. In der Siebten verliebte ich mich in Ramon, der aussah wie der jugendliche Hauptdarsteller eines Actionfilms und der mit dem schönsten Mädchen an unserer Schule ging. Mit vierzehn lernte ich dann Benji kennen, der wiederum meine damals beste Freundin kennenlernte. Von allen drei Jungen wurde ich nicht wiedergeliebt, es gab nichts, was ich dagegen tun konnte, und obwohl es ein Riesenglücksbooster sein kann, wenn du dich verliebst – wenn sich der andere nicht verliebt, geht das eher nach hinten los.
Im Augenblick habe ich allerdings andere Sorgen.
»In eurem Hauptstudium werden wir euch den einen oder anderen Klienten aus einem Kurzentrum anvertrauen«, holt mich Xavier in die Gegenwart zurück, »Menschen, bei denen es unbedingt darauf ankommt, dass ihr die Modulation beherrscht. Bis dahin trainiert ihr die Basics an den Testpersonen. Und die können ausgesprochen zäh sein, wenn es um ihre negativen Gedanken und Gefühle geht. In ihren Träumen tun sie nichts lieber, als ihre düstersten Erinnerungen hervorzukramen und ihre negativen Einstellungen zu verhätscheln.«
Obwohl das blaue Fensterlicht noch immer leuchtet, kommt es mir jetzt wirklich erheblich dunkler vor.
»Da wir euch auf drastische Traumbilder vorbereiten müssen, beginnt euer Studium mit einem Abstieg in euer eigenes Unbewusstes«, fährt Xavier fort. »Wir härten euch ab, indem wir euch in eure eigenen Ängste schicken.«
Ach du Scheiße. Das heißt dann wohl: Gruppensitzung, in der wir einander unsere schlimmsten Erlebnisse aus der Kindheit auftischen müssen. Klar, die Technik funktioniert (außer wenn sie nicht funktioniert), aber Seelenstriptease war noch nie mein Ding – und Tilda, deren Finger sich gerade fest in ihre Schals verknoten, hasst so etwas aus tiefstem Herzen.
»Beim Luziden Träumen habt ihr gelernt, wie ihr eure Albträume verändern oder euch daraus wecken könnt.« Xavier geht langsam auf uns zu, plötzlich wirkt er fast bedrohlich. »Den Traum verändern – genau das müssen wir perfektionieren. Zur Unterstützung verabreichen wir euch daher ein medizinisches Präparat, das vor einigen Jahren vom Markt genommen wurde, weil es heftige Albträume auslöst. Für eure erste Lektion wird es uns sehr nützlich sein.«
»Sie verpassen uns ein Medikament?«, entfährt es Larissa. Alle Blicke richten sich auf sie. Ihre Wangen werden feuerrot, doch sie fährt tapfer fort: »Ist das nicht … riskant? Ich meine, wenn das vom Markt genommen wurde und so.«
»Alle Studenten der Akademie werden engmaschig medizinisch betreut. Das ist auch wegen der Injektionen vor der Modulation unerlässlich. Alle verwendeten Präparate werden laufend verbessert und sind inzwischen praktisch frei von Nebenwirkungen. Macht euch deswegen bitte keine Sorgen.«
Langsam löst Tilda die Finger aus ihrem Schal und verknotet die fransigen Enden so fest über ihrer Brust, als würde sie frieren.
»In dieser ersten Lektion müsst ihr also einen eurer Albträume verändern, das heißt, ihr müsst einen positiven Impuls setzen, etwa ein Bild oder einen Gedanken. Dieser Traum entwickelt sich genau so, wie es hilfreich für mich ist, wäre ein Beispiel für einen effektiven positiven Gedankenimpuls.«
Larissa sinkt auf ihrem Stuhl zusammen und murmelt: »Das wird bestimmt kinderleicht.«
Und ob. Mein Magen grummelt, meine Hände pressen sich um die Kanten meines Stuhls. Luzides Träumen. Gemmas Spezialdisziplin. Shit. Auch wenn ich in der Prüfung offenbar eine reife Leistung abgeliefert habe, war das eben doch ein Zufall. Jetzt wird mich schon meine erste Aufgabe an der Akademie unter sich begraben. Ich bin erledigt, bevor mein Studium richtig begonnen hat. Luzides Träumen, Medikamente, Albträume – mich überkommt eine solche Furcht, dass ich mich daran erinnern muss, wie man ruhig atmet, während ich mich innerlich zu einer kleinen Kugel zusammenkrümme, die am liebsten unter der Tür hindurchkullern und auf Nimmerwiedersehen davonrollen würde.
»Sobald euer Traum eine positive Wendung nimmt, weckt ihr euch selbst.« Xavier rückt seine Brille zurecht. »So weit klar?«
»Und wenn wir in die Zweite abrutschen?«
Automatisch wende ich mich wieder Tilda zu. Ihre Stimme klingt so ängstlich und zugleich so weich, wie ich es noch nie bei ihr erlebt habe.
Xavier macht einen Schritt auf sie zu und hebt wie in Zeitlupe eine Hand, als wollte er sie berühren. Ich glaube, er kriegt es gar nicht mit. Es ist so still, dass ich fast hören kann, wie Larissa an ihrem Muttermal knibbelt.
»Du rutschst nicht ab, Tilda«, sagt er. »Hätten wir dich sonst an die Akademie geholt?«
Das Traumlabor erinnert an eine dieser zu einem coolen und extrem teuren Club umgemodelten Fabrikhallen. An der Wand blitzt in bombastischen Goldbuchstaben: Träume sind Illusion und Wahrheit zugleich.
In der Mitte des Raumes hat man zwanzig Schlafliegen zu einem Halbkreis arrangiert. Xavier teilt jedem von uns eine Protektorin oder einen Protektor zu, der uns wecken soll, falls unsere psychischen oder physiologischen Werte aus dem Ruder laufen. Ausgerechnet Beatrix Swann wird mich überwachen, was meine Angst nicht gerade dämpft. Ein Albtraum. Was für ein fantastischer Einstieg in mein Studium. Mit einer Hand streiche ich über meine Liege, nehme die Hand jedoch gleich wieder weg, als ich sehe, wie meine Finger flattern. Beatrix Swann beobachtet mich aufmerksam. Bestimmt wartet sie nur darauf, dass ich einen Rückzieher mache.
Keine Chance.
Ich setze mich auf die Liege. Auf dem Kopfteil liegt das Ende eines silbernen Kabels, aufgespreizt zu mehreren Drähten mit winzigen Saugnäpfen, während das andere Ende in einem Behälter mit einem orangefarbenen Gel verschwindet.
»Wenn dein Körper in den Alarmmodus schaltet, erhärtet sich das Gel. Dann wissen wir, dass dein Albtraum beginnt. Sobald du den Traum positiv veränderst und sich deine Werte normalisieren, wird das Gel wieder flüssig. Auf diese Weise können wir sicher sagen, wie lange du für die Veränderung brauchst.« Beatrix Swann hält mir eine Tablette hin. Zitronengelb und kaum größer als ein Reiskorn; mir kommt sie dick wie eine Melone vor. Mit noch immer zitternden Fingern lege ich die Tablette auf meine Zunge und würde sie am liebsten gleich wieder ausspucken, spüle sie aber entschlossen mit dem zuckersüßen Aprikosensaft hinunter, den Beatrix Swann mir reicht.
»Leg dich jetzt hin«, sagt sie.
Also lege ich mich hin – und schaue ein letztes Mal ängstlich zu Tilda. Sie schläft bereits.
Beatrix Swann klebt die Drähte an meine Schläfen und drückt die Saugnäpfe gegen meine Stirn. »Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Schwere sickert in meine Glieder. Das ist keine Tablette, das ist ein Tablettenturbo. Und er zieht mich sofort in die Dunkelheit.
Das Nächste, was ich wahrnehme, ist die regenbogenfarbene Dämmerung, vor der sich die Silhouetten kahler Bäume abzeichnen. Die Ebene, über die ich gehe, ist eine morastige Wiese, jeder meiner Schritte lässt grauen Dunst aus dem Boden quellen. Nebelschwaden treiben träge vor mir her. Kein Laut ist zu hören bis auf das leise Schmatzen meiner Schuhsohlen. Ein schwacher Wind kühlt mir die Stirn. Ein Stück voraus schimmert eine graue Fläche. Der Himmelsee. Nichts rührt sich dort, keine Wellen kräuseln die Oberfläche, kein Wasservogel zieht seine Bahn. Der See liegt wie erstarrt.
Auf einem Baumstamm am Ufer sitzt jemand. Er hat mir den Rücken zugekehrt und seine Kapuze hochgezogen, doch ich muss sein Gesicht nicht sehen, um zu wissen, wer in der grünen Jacke mit den schwarzen Querstreifen steckt. Mein Vater hatte Fussel darin eingewickelt, als er sie vor elf Jahren mit nach Hause brachte, ein winziges Bündel mit noch geschlossenen Augen, aus denen Eiter sickerte.
Wenn ich ihn anspreche und er sich umdreht – wird das von der Kapuze umrahmte Gesicht sein Gesicht sein? Oder werde ich ein im Dunkeln schwebendes Augenpaar sehen, einen Mund, aus dem eine trockene Stimme meinen Namen zischt?
Die Gestalt dreht sich um. »Gemma.«
Vor Erleichterung sinkt mir der Magen bis fast in die Zehen. Es ist mein Vater, sein liebes, sanftes Gesicht, der fein geschnittene Mund, das dunkelbraune Haar.
»Setz dich doch zu mir«, sagt er.
Der Schlamm saugt an meinen Schuhen, sodass ich nur langsam vorankomme. Als ich meinen Vater endlich erreiche und mich neben ihm auf den Baumstamm sinken lasse, nimmt er meine Hand.
»Da bist du endlich«, sagt er.
Ein dumpfes Gefühl zieht sich in meiner Brust zusammen. Etwas Bedrohliches legt sich über die Szene, wie Schreie, die ich nicht hören kann und die trotzdem überall um mich herum sind.
»Was hast du getan?«, fragt mein Vater leise und lässt meine Hand los.
»Nichts. Gar nichts hab ich getan«, stammele ich.
»Doch. Hast du.« Vorsichtig, als könnte er sich an mir verbrennen, berührt er mit den Fingerspitzen mein Gesicht. »Deinetwegen ist sie gestorben.«
Die Worte hallen über den Himmelsee und verstärken sich mit jeder Sekunde.
»Ich wollte das nicht«, flüstere ich.
»Es hat angefangen, als sie schwanger war. Und mit jeder Woche wurde es schlimmer. Nicht der Glanz ist Schuld, sondern du. Du hast sie mir weggenommen.«
»Aber …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tränen fallen aus meinen Augen auf meine Knie. Nein, denke ich, stopp! Das hier ist ein Traum, nur ein beschissener Traum! Ich balle die Fäuste und spanne meinen Körper an, um mich zu wecken, mich zurück in die Wirklichkeit zu holen …
Halt. Genau das darf ich nicht tun. Ich muss den Traum verändern, das ist mein Job. Ihn mit der Kraft meiner positiven Gedanken in etwas Schönes verwandeln.
Alles, was mir widerfährt, bringt mich weiter auf meinem Weg … Oder so ähnlich. Die Gedanken klingen hohl. Mein Inneres ist ein Zimmer ohne Möbel. Ich schaffe es nicht.
Es sei denn …
Nein. Auf keinen Fall.
Du musst.
Sie könnten etwas merken.
Aber du musst. Nur so wird es gehen.
Verdammt. Verdammt!
Ich schließe die Augen. Hinter meinen Lidern flimmert das Farbenspiel des Glanzes. Mein Atem vertieft sich. Überall in mir breitet sich der Glanz aus, oder ich mich in ihm, überall sind Wärme und Ruhe und das Gefühl, dass ich nach Hause komme. Meine Fäuste entspannen sich, mein Körper wird weich. Es ist das schönste Gefühl der Welt.
Als ich die Augen wieder öffne, sitze ich noch immer auf dem Baumstamm – und noch immer sitzt jemand neben mir, eingehüllt in einen zerschlissenen Mantel. Es ist nicht mein Vater.
Er wendet mir das Gesicht zu.
Wie können Augen so lagunenblau leuchten?
Mir wird heiß und kalt und wieder heiß. Mein Herz fühlt sich plötzlich zu groß an für meinen Körper.
»Was …«, ich räuspere mich, »was machst du hier?«
Keno antwortet nicht. Ich höre seinen Atem. Die Härchen an meinem Unterarm richten sich auf, als wollten sie ihm so nahe wie möglich kommen. Doch wir berühren uns nicht. Vage erinnere ich mich, dass ich meinen Traum schnell verlassen muss. Es gibt nichts, wozu ich weniger Lust hätte. Ich möchte hier sitzen. Einfach neben ihm sein.
Keno steht auf. Einen Augenblick verharrt er noch, dann geht er langsam davon, wird Schritt für Schritt kleiner, bis er mit der regenbogenfarbenen Dämmerung verschmilzt.
Über mir schimmert der Glanz.
Ich balle die Fäuste, löse die Spannung, spreize blitzschnell die Finger – hole mich zurück in die Wirklichkeit.