Читать книгу Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - Страница 7

Оглавление

Links ziehen die mit Chronoblumen bepflanzten Parks vorbei, dazwischen die First-Class-Wohnanlagen von Novamyne, wo hauptsächlich die Wissenschaftler leben, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Stadt angesiedelt haben. Rechts schillert eine mit Booten getupfte, künstliche Lagune. Die haben sie im letzten Frühjahr ausgehoben und unter der Wasseroberfläche eine Flutlichtanlage installiert, die azurblaue Spiegelfläche sieht unglaublich schön aus.

Weil Tilda beim Autofahren so schnell schlecht wird, sitzt sie vorn. Giselle lenkt den Wagen entspannt durch den Morgenverkehr. Das Wellnesscenter, in dem Tilda und ich uns manchmal eine Massage leisten, gleitet vorüber, gefolgt von dem Flow-Markt mit seinen bunten Ständen, danach die von Lichtherzen umrahmte Fassade unseres Lieblingskinos, in dem sie ausschließlich romantische Komödien zeigen. Im Hintergrund erhebt sich ein ganzes Bergmassiv von imposanten Forschungsanstalten und einschüchternden Instituten, platziert und finanziert von den Regierungen, die sich das leisten können. Überall auf der Welt wird der Glanz erforscht, trotzdem blickt alles auf Novamyne. Die angesehensten Wissenschaftler kommen in unsere Stadt, und die allerbesten zieht es natürlich an die Akademie – der Ort, an dem die internationale Forscher-Elite seit Jahrzehnten um eine Lösung ringt.

Giselle bremst abrupt, als ein wolkenweißer VW Fortuna mitten auf einer Kreuzung stehen bleibt und eine Mutter mit Kinderwagen vorbeischieben lässt. Die Plakate hängen überall: Babys mit blauen Kulleraugen, darunter die Geburtenprämie, zehntausend Euro, was ziemlich cool ist. In der Zeit vor dem Glanz war das Kindergeld ein Witz und eine Geburtenprämie gab es überhaupt nicht, doch damals lebten in Novamyne, dessen alter Name inzwischen nahezu vergessen ist, auch noch eine halbe Millionen Menschen – und über achtzig Millionen in ganz Deutschland, was heute völlig unglaublich erscheint. Die letzte Zählung hat für Novamyne knapp hundertzwanzigtausend Einwohner ergeben, da haben sie die Prämie gleich noch mal hochgeschraubt. Und dabei gilt Novamyne schon als Zentrum der Welt.

Der Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit in dreizehn Worten: Seit der Glanz unser Himmel ist, sterben die, die nicht glücklich genug sind.

Das müssen sie auf kein Plakat schreiben. Das wissen alle, überall auf der Welt.

Giselles Hand liegt locker auf Tildas Oberschenkel. Wie aus einem Zwang heraus muss ich immer wieder hinschauen. Wie fühlt es sich an, wenn deine Mutter am wichtigsten Tag deines Lebens neben dir sitzt?

In mir öffnet sich ein Spalt, durch den alles Warme und Helle aus mir hinausrinnt, während etwas Kaltes und Dunkles in mich einsickert. Für DIP ist diese Empfindung zu heftig, das merke ich sofort. Die siebte Maßnahme also: Pflege dein Inneres Programm.

Okay. Atmen, Gedanken-Upgrade, positives Bild. Das schaffe ich.

Konzentrier dich darauf, wie dein Atem fließt, ein, aus, ein, aus, eine Minute lang, richte dann deine Aufmerksamkeit auf einen guten Gedanken, bevor du ein positives Bild folgen lässt.

Hier ist mein Gedanke: Das Glück ummantelt mich wie …

Scheiße. Was gerade in mir passiert, ist zu stark für das Programm. Aus dem Fenster gucken, mitten in den Glanz? Das wäre die einfachste Lösung, doch Giselle und Tilda könnten etwas merken. Bleibt eine letzte Möglichkeit.

Ich lehne mich gegen die Polster und schließe die Augen. Erst ist da nur Dunkelheit, aber schon mit dem nächsten Atemzug steigt langsam das Farbenspiel des Glanzes in mir auf. Während ich mich in den Anblick hineinsinken lasse, durchströmt mich eine tiefe Ruhe und das wunderbare Gefühl, dass alles gut wird. Wärme breitet sich in mir aus, fließt durch meine Brust und in meine Beine, kümmert sich sogar um meine Ohrläppchen und meine kleinen Zehen, verschließt den Spalt, der in mir aufgebrochen ist.

Vorsichtig öffne ich die Augen. Mein Glück ist wieder eine feste Haut, die mich warm und sicher einpackt. Nichts Negatives kann diese Haut berühren. Schlechte Gefühle dringen nicht durch.

Keine Ahnung, was ich täte, wenn ich wie alle anderen wäre. Ohne den Glanz. Bestimmt säße ich nicht in diesem Auto, wäre bestimmt nicht auf dem Weg zur Akademie.

Die Bebauung hat sich aufgelockert, zwischen Backsteinhäusern aus der Zeit vor der globalen Katastrophe ragen Wohnanlagen mit bunt bepflanzten Dachgärten auf. Riesige Leuchtfenster imitieren das Tageslicht, von einer Bildwand strahlt der Slogan, der in dieser Woche auf Platz eins der Affirmations-Charts steht und den ich wirklich mag: Glück hat man nicht, Glück erschafft man sich.

So, wie ich es gerade getan habe.

An der nächsten Kreuzung biegen wir in das Waldviertel ein, wo die Reichen und Berühmten wohnen. Das war schon vor dem Glanz so, als Novamyne noch eine gewöhnliche Stadt war, für die sich niemand auf der Welt groß interessierte. Rechts und links der Straße erstrecken sich parkähnliche Gärten, unter ausladenden Himmelszelten glitzern Swimmingpools, die Häuser stehen weit auseinander, um keine zusätzlichen Schatten zu werfen. Hier leben Politiker, Schauspieler, Sportler – und natürlich die Mitarbeiter der Akademie.

Ein paar Jugendliche in Reflektor-Trainingsanzügen joggen vorüber. Drei Kinder spielen ein Tanzspiel um eine riesige Standuhr, so ein Antik-Ding aus der Zeit davor, als zwölf Ziffern genügten, damit du zwölf Uhr mittags von Mitternacht unterscheiden konntest. Wir fahren an einem dreistöckigen, mit Lichtergirlanden behängten Café vorbei, Orion steht in schnörkeligem Gold über der Eingangstür, von dem Laden habe ich sogar schon gehört: Dort servieren sie die Top-Happy-Foods, und ein Menü kann locker ein durchschnittliches Monatseinkommen verschlingen.

»Die Modulation und das Luzide Träumen sind ja praktisch dasselbe«, sagt Giselle unvermittelt in unser Schweigen hinein. »Wobei die Modulation für Normalsterbliche wie uns natürlich unbezahlbar ist.« Schwungvoll zieht sie den Wagen in eine Kurve. »Modulation – das heißt, ihr verändert heute nicht euer eigenes Unterbewusstsein, sondern …« Sie lacht nervös auf. »Tut mir leid. Das wisst ihr ja alles.«

Ich stecke meinen Kopf zwischen die beiden Vordersitze. »Wir packen das, Giselle. Auch ohne Camp.«

Die Camps, in denen sie dich auf die Prüfung vorbereiten, sind in diesem Jahr noch einmal teurer geworden und jetzt wirklich nur noch den Söhnen und Töchtern aus reichem Hause zugänglich. In den Camps üben sie das Luzide Träumen bis zum Abwinken, was in meinem Fall bestimmt hilfreich gewesen wäre. LT ist zwar Schulfach, wir trainieren das seit der Grundschule, doch ich war darin nie eine Leuchte. Was wahrscheinlich daran liegt, dass ich fast ausschließlich angenehme Dinge träume und praktisch nie an meinen Träumen herumschrauben musste.

Trotzdem hat mich die Akademie zur Prüfung zugelassen – und das allein zählt. Als Einzige an unserer Schule. Außer Tilda natürlich. Dass sie eingeladen wird, war mir von dem Augenblick an klar, als sie vor neun Monaten zum ersten Mal in unser Klassenzimmer hereinmarschiert ist. Sie gehört zu diesen leuchtenden Menschen, die dir sofort das Herz wärmen, egal, wie kalt dir gerade ist. Doch auch mich hat die Schulbehörde vorgeschlagen, denn ich kann etwas vorweisen, was für die Prüfung Bedingung ist und was kaum jemandem je gelingt.

Eine absolut stabile Erste Zone.

Die habe ich. Dem Glanz sei Dank.

Über die Prüfung wissen wir praktisch nichts, schon gar nicht, wie eine Modulation funktioniert oder wie du einen anderen Menschen durch Modulation in eine höhere Zone holst. Kein Training, der Sprung ins kalte Wasser – Intuition, das wollen sie. Entweder du schwimmst oder du ertrinkst. Ich bleibe auf jeden Fall oben. Ich schwimme. Für meinen Vater. Ich hole ihn aus der Quarantäne heraus.

Giselle biegt noch einmal ab. Unaufhaltsam nähern wir uns der Stelle, an der vor achtzig Jahren alles angefangen hat. Mein Magen schrumpft auf Walnussgröße zusammen. Wo sich in der Ferne die Bäume lichten, ragt eine weiße Mauer empor. Was dahinterliegt, kenne ich nur aus dem Fernsehen.

Über die Akademie weiß natürlich jeder Bescheid, auf der ganzen Welt. Hier erforschen sie den Glanz, hier haben sie den Arkanit entwickelt, hier perfektionieren sie die Therapien gegen die negativen Gefühle. Auch die Modulation ist ein Produkt der Akademie, was ein gewaltiger Durchbruch war. Selbst Medikamente wie Fortaxan helfen nicht jedem, doch mit der Modulation holst du sogar die Leute in eine höhere Zone, die sonst auf nichts mehr ansprechen.

Vor allem aber befindet sich auf dem mehrere Quadratkilometer großen Gelände der Ort, den sie komplett von der Öffentlichkeit abschirmen und den sie uns nicht einmal im Fernsehen zeigen.

Manche sagen, sie sei die Geburtsstätte des Glanzes: jene Kuppel, mit der sich das, was damals auf der Erde gelandet ist, vor unserem Zugriff schützt. Sie ist undurchdringlich – und mehr weiß ich nicht, mehr weiß niemand. Wir erfahren nicht einmal, wie weit die Mitarbeiter der Akademie bisher mit ihren Forschungen gediehen oder ob zum Beispiel schon Leute in das Innere der Kuppel eingedrungen sind. Das alles unterliegt höchster Geheimhaltung. Nur eins ist gewiss: Tilda und ich sind dem Ort jetzt näher als je zuvor in unserem Leben.

Schneller als mir lieb ist, rückt die weiße Mauer heran, bis sie fast unser gesamtes Blickfeld ausfüllt. Dahinter ragt in ebenso strahlendem Weiß ein Rundbau auf: das Hauptgebäude.

Tilda schiebt ihre Hand nach hinten. Als ich sie umfasse und fest drücke, wendet sie den Kopf und sagt mit angespanntem Lächeln: »Wir gehen als Kandidatinnen rein und kommen als Studentinnen wieder raus, okay?«

Giselle schlägt auf das Lenkrad. »Voller Einsatz! Folgt eurer Intuition!«

Vor dem Tor legt sie eine Vollbremsung hin. In das schnörkelige Schmiedeeisen ist das Symbol der Akademie eingearbeitet: das von einem vierblättrigen Kleeblatt umrankte A. Eine Frau mit Brille tritt aus dem Wachhaus, kontrolliert unsere Passierscheine und die Farbe unserer Arkanite und winkt uns hindurch.

Als ich eine halbe Minute später auf dem Parkplatz aussteige, zittern meine Knie; ich dachte immer, das sei nur ein Spruch, doch sie zittern tatsächlich. Schön, ich bin nervös, aber das ist kein Problem. Prüfungen laufen einfach besser, wenn du unter Strom stehst.

»Soll ich euch noch ein Stück begleiten?«, fragt Giselle und zieht uns, als Tilda entsetzt den Kopf schüttelt, in eine letzte Umarmung.

»Du schaffst das«, flüstert sie mir zu. »Für dich. Und für deinen Vater.«

Ein letztes Winken, dann eilen Tilda und ich bereits die von Säulen flankierte Treppe hinauf. Mit jedem Schritt werden wir langsamer. Als wir den Eingang fast erreicht haben, bleibt Tilda stehen.

»Ob wir sie von hier aus sehen können?« Sie reckt den Hals. Ich tue es ihr nach. Doch da sind nur der Parkplatz, die Seitenflügel des Hauptgebäudes und die Bäume, die keinen weiteren Blick auf das Gelände der Akademie erlauben. Von der Kuppel keine Spur.

Wir steigen die letzten Stufen hinauf. Ein Mann und eine Frau kommen uns entgegen, die Frau mit einem Lächeln im Gesicht, der Mann mit den Händen tief in den Hosentaschen. Unvermittelt bleibt er stehen, legt den Kopf in den Nacken und stützt ihn mit einer Hand ab, als sei er ihm zu schwer.

»Wir hätten niemals zustimmen dürfen«, sagt er halblaut. »Was, wenn Kylie bei der Prüfung in die Zweite abrutscht?«

»Pass lieber auf, dass du nicht abrutschst«, gibt die Frau zurück. »Und dass du da raufstierst, hilft unserer Tochter auch nicht.«

Er fährt sich mit einer Hand über die Augen. »Entschuldige.«

Mit einem Nicken gehen sie an uns vorüber. Tilda schließt ihre Hand um meine. »Abrutschen ist keine Option. Nicht für uns.«

»Auf keinen Fall.«

»Wir packen das. Du sowieso. Unser kleines Wunder an positivem Spirit. Der Wahnsinn, wie du das in den letzten Wochen hingekriegt hast.«

»War gar nicht so schwer.« Ich lächele und komme mir schäbig vor, weil ich mein Geheimnis nicht einmal mit Tilda teile. Doch das kann ich nicht. Weil es nicht normal ist.

In der Schule sprechen wir oft darüber, wie wir uns in unserer Zone halten, wenn es hart auf hart kommt. Alle haben ihre Tricks, leisten sich einen Emoji-Drink, ein energetisch aufgeladenes Heilpflaster oder auch die richtig teuren Sachen wie Elektrotherapien oder sogar eine Fortaxan. Und natürlich kennt jeder die Methoden, die gratis sind: mit deinem kleinen Neffen spielen, mit deinem Partner, deiner Partnerin, deinem Haustier kuscheln – solche Sachen. Tricks haben alle. Aber keine Geheimnisse. Es sei denn, sie halten ihre Geheimnisse so geheim wie ich.

Ich wünschte, mich würde etwas anderes in der Ersten Zone halten. Ich wünschte, es wäre etwas anderes als der Blick in den Glanz.

In der mit Oleander und Hibiskus bepflanzten Eingangshalle umschiffen wir eine türkisblaue Sitzinsel, steuern an einer Wanduhr im XXL-Format vorbei und ziehen unsere Passierscheine durch den Kartenschlitz. Eine Flügeltür schwingt auf. Stimmengewirr quillt uns entgegen. Die Kandidaten, die schon eingetroffen sind, lehnen an den Bänken oder sitzen auf den Stufen des Hörsaals. Alle reden, gestikulieren, lachen. Ich höre viel Englisch, die Sprache, die in Novamyne und speziell an der Akademie am häufigsten gesprochen wird, fange aber hier und da auch ein paar Brocken Deutsch, Spanisch oder Arabisch auf und etwas, das Chinesisch sein könnte. Die anderen Sprachen kenne ich nicht. Es herrscht eine Stimmung wie auf einer Party. Vielleicht hatte nicht nur Tildas Familie Fortaxan zum Frühstück.

Die Bankreihen fallen in einem Halbrund zu einer Bühne hin ab. An der Wand dahinter leuchtet in goldenen Buchstaben: Positive Gedanken ziehen positive Gefühle ziehen positive Ereignisse an.

Wir schieben uns in eine Bank, in der schon ein Mädchen und ein Junge sitzen. Er mümmelt an einer Banane, entweder weil er wirklich hungrig ist oder weil er zeigen will, wie locker er mit der Situation umgeht. Das Mädchen hat riesige Augen und ein nervöses Zucken im linken Mundwinkel.

»Hi.« Wir setzen uns.

»Hi.« Sie heben eine Hand und lächeln.

Was das angeht, so kenne ich zwei Kategorien von Lächeln: das eine, das aus dem Herzen kommt – und das Mir-ist-zwar-nicht-danach-ich-tu’s-aber-trotzdem-weil-es-gut-für-meine-Zone-ist-Lächeln, das wir von klein auf trainieren. In diesem Augenblick lächeln wir wohl alle auf die zweite Art.

Weitere Kandidaten trudeln ein: sechzehn- und siebzehnjährige Jungen und Mädchen aus allen möglichen Ländern, die mit den besten Zensuren bewertet wurden, sich aber vor allem durch eine stabile Erste Zone hervortun. Die Schulen entscheiden, wen sie für die Akademie vorschlagen. Naturgemäß ist die Gruppe überschaubar, in diesem Jahr sind wir kaum einhundert Kandidaten. Zugehörig fühle ich mich nicht, erstens zeichnen sich meine Zeugnisse durch höchst mittelmäßige Noten aus, zweitens war es nie mein Plan, Protektorin zu werden. Bis vor drei Monaten hatte ich überhaupt keine Pläne. Erst seit mein Vater in Quarantäne ist, haben sich die Dinge geändert. Giselle ist davon überzeugt, dass ich als Einzige mit Sondergenehmigung zugelassen wurde, sie sagt, es sei absolut einzigartig, dass sich jemand von klein auf durchgehend in der Ersten hält.

Einzigartig. Meinem Geheimnis sei Dank.

Ein junger Mann von Mitte zwanzig fegt durch eine Seitentür herein. Die Gespräche verstummen. Leichtfüßig springt er auf die Bühne, das mokkabraune Haar fällt ihm in einer weichen Welle in die Stirn. Er trägt eine Brille mit runden Gläsern, die jeden anderen in eine Eule verwandeln würde, während er locker als Model für teure Armbanduhren durchgehen könnte. Er ist groß, deutlich über einsachtzig, und hat eine Kerbe am Kinn, auch das sieht ziemlich modelmäßig aus. Passend zu seinem Haar trägt er ein mokkafarbenes Jackett mit cremefarbenen Lederflicken an den Ellenbogen; altmodisch, aber irgendwie cool.

»Hallo.« Er nimmt das Mikro aus der Halterung. Auf seinem Gesicht erscheint ein kleines Lächeln, Kategorie eins, aus dem Herzen, das könnte ich schwören. »Ich bin Xavier. Dies ist euer Tag.« Er begrüßt uns auf Englisch, seine Stimme klingt tief und voll, als hätte er extra für diesen Anlass in einem Tonstudio trainiert. Während er spricht, geht er schwungvoll auf der Bühne auf und ab. »Wir haben euch eingeladen, weil ihr über die wichtigsten Eigenschaften in unserem Kampf gegen den Glanz verfügt. Optimismus. Hoffnung. Stärke. Mut.«

Was nun folgt, ist der bei offiziellen Anlässen übliche historische Abriss. Zum Glück wählt Xavier die Kurzversion.

»Vor achtzig Jahren, am 10. Juni 2025, tauchte um vierzehn Uhr einundzwanzig mitteleuropäischer Zeit eine Lichtkugel am Himmel auf und schlug hier in Novamyne ein, genauer gesagt: im Hauptgebäude des ehemaligen Gymnasiums Freyard.«

Ein Raunen läuft durch die Bankreihen.

»Von dem Objekt ging eine so starke Erststrahlung aus, dass alles menschliche und tierische Leben im näheren Umkreis praktisch sofort zu Staub zerfiel. Nur die Pflanzen haben überlebt.«

Weiß ich, weiß ich, hundertmal gehört. Und trotzdem verwandeln Xaviers Worte mein Inneres in Gelee.

»Binnen weniger Minuten breitete sich überall am Himmel dasselbe Phänomen aus: ein regenbogenfarbener Glanz, der unsere Erde seither umschließt.«

Fast kann ich hören, wie die Fragen in der Luft knistern. Xavier rückt die Aufschläge seines Jacketts zurecht.

»Die Einschlagstelle befindet sich hier. In Deutschland. In Novamyne. Auf dem Gelände der Akademie. Die Welt blickt auf uns. Und vielleicht auch bald auf euch.« Wieder erhellt das kleine Lächeln sein Gesicht, winzige Fältchen kräuseln sich um seine Augen. »Seit achtzig Jahren wird das Objekt, das wir Die Kuppel nennen, rund um die Uhr überwacht. Nur ausgesuchte Mitarbeiter der Akademie dürfen sich dem Ort nähern. So viel immerhin glauben wir heute zu wissen: Damals ist eine energetische Präsenz in das Hauptgebäude des Gymnasiums eingedrungen. Und diese Präsenz erzeugt den Glanz.«

Manchmal versuche ich, mir vorzustellen, was für eine Präsenz das sein könnte. Ähnelt sie einer Pflanze, einem Tier, einem Menschen – oder etwas völlig anderem? Bilder geistern mir genügend durch den Kopf, gespeist aus zahlreichen Scifi-Filmen, doch keines der Bilder erscheint passend.

»Der Glanz beeinflusst weder Atmosphäre noch Wetter noch die Tier- oder Pflanzenwelt. Doch er wirkt sich auf uns Menschen aus – und auf alles, was wir je in den Himmel geschickt haben. Funkwellen und Satellitensignale kommen nicht mehr durch. Während Insekten und Vögel weiterhin fliegen können, kennt ihr Flugzeuge nur noch aus dem Museum. Auch darum brachen mit der Ankunft des Glanzes überall auf der Welt die Wirtschaft und die öffentliche Ordnung zusammen, ebenso die Energieversorgung und die digitale Technologie. Schlimmer war jedoch, dass in diesen ersten Jahren nahezu achtzig Prozent der Bevölkerung dem Glanz zum Opfer fielen. Diese Phase konnten wir zum Glück überwinden. Aber noch immer sterben zu viele Menschen.«

Das Licht erlischt. Hinter Xavier fährt eine Leinwand hoch. Ein Flackern, dann erscheint auf der Leinwand eine junge Frau. Sie hat sich auf einem sonnengelb bezogenen Bett zu einer Kugel zusammengerollt.

»Sibylla Garbarek, 19 Jahre. Zum Zeitpunkt der Aufnahme lebt sie seit drei Monaten im Kurzentrum Phoenix und ist vor zweiundsiebzig Stunden in die Fünfte Zone eingetreten.«

Es könnte ein Foto sein, so reglos liegt Sibylla auf der hellen Bettdecke. Das Gesicht hat sie der Wand zugekehrt, die Fäuste hält sie vor der Brust gekreuzt. Doch es ist kein Foto, das erkenne ich an dem Flirren der regenbogenfarbenen Aura um sie herum. Nach einigen Sekunden verstärkt sich das Flirren. Sibyllas Körper beginnt, sich von den Rändern her aufzulösen und verwandelt sich in eine Art schwarzen Nebel, der in Kringeln und Spiralen in die Aura gesogen wird. Kein Laut dringt über ihre Lippen, kein Muskel zuckt, während sie in der Aura verschwindet.

Ich presse meine Hände so fest gegeneinander, dass es schmerzt. Genau das könnte meinem Vater passieren. Doch diese Gedanken darf ich nicht zulassen. Ich werde ihm helfen, ich hole ihn zurück – das ist es, was ich denken, was ich tun muss.

Sibyllas Aura zieht sich zu einer Lichtkugel zusammen, bebt kurz in der Luft und schießt nach oben aus dem Bild. Schnitt, Außenkamera: Die Kugel rast im Steilflug auf den Glanz zu und ist Sekunden später in ihm verschwunden. Die Leinwand verdunkelt sich, das Licht flammt wieder auf. Im Hörsaal ist es so still, dass ich Tilda neben mir atmen höre.

»Mit dem Eintritt in die Fünfte Zone bildet sich um den Betroffenen die sogenannte Aura, die offenbar mit dem Glanz identisch ist.« Xavier drückt einen Knopf und lässt die Leinwand verschwinden. »Nach zweiundsiebzig Stunden löst sich der Infizierte in der Aura auf. Heute wissen wir, dass es diejenigen trifft, bei denen die negative Energie überhandnimmt. Das äußert sich in verschiedener Weise. Depressionen wie bei Sibylla sind typisch. Auch Essstörungen, soziale Phobien, stoffliche und nicht stoffliche Süchte, Krankheiten und Arbeitslosigkeit zählen zu den Symptomen. Zuletzt kommt es zur Auflösung, mit anderen Worten: Der Glanz nimmt die negative Energie dieser Menschen in sich auf. Weil sie aber vollkommen von dieser Energie durchdrungen sind, verschwinden sie in dieser Phase auch selbst.«

Ich kann beinahe spüren, wie sich die Luft im Raum bei Xaviers Worten abkühlt. Tilda legt die Arme um sich, als müsse sie sich wärmen.

»Es ist unsere Aufgabe, jeden Mann, jede Frau, jedes Kind vor dem Glanz und seiner tödlichen Wirkung zu schützen.« Xaviers Blick gleitet über uns hinweg und bleibt kurz an Tilda hängen, was mich nicht groß überrascht. Ihr Gesicht zieht Blicke an wie Honig die Bienen. Dann wendet er sich wieder dem gesamten Auditorium zu. »Dafür stehen wir von der Akademie. Wir entwickeln täglich neue Strategien gegen die negativen Gedanken und Gefühle. In unserem Kampf gegen den Glanz lassen wir niemals nach. Denn noch immer geraten zu viele Menschen in die Dritte, Vierte und in die tödliche Fünfte Zone. Doch die gute Nachricht lautet: Die Zahl derjenigen, die sich ein Leben lang in der Ersten und Zweiten Zone halten, liegt inzwischen bei fünfundsiebzig Prozent.«

Rasch mustere ich die anderen Mädchen und Jungen im Saal. Mir ist schon klar, dass es absolut unsozial ist, aber wenn man dir wiederholt erzählt, du hättest eine Chance von fünfundsiebzig Prozent, dein Leben zu meistern, ohne dass du in eine Kritische Zone gerätst, dann schaust du dich unwillkürlich um und denkst: Okay, drei Viertel der gerade Anwesenden packt es und zu denen möchte ich gehören.

»Die Modulation ist die wirksamste Methode, mit der wir einen Menschen in eine höhere Energiezone holen können – und mehr sollt ihr fürs Erste nicht über diese Technik erfahren. Wir möchten eure Intuition prüfen, euer Gespür für den richtigen Weg. Dazu schicken wir euch heute paarweise in das Unterbewusstsein, das heißt in den Traum einer Testperson, die sich in der Dritten Zone befindet. Ihr betretet den Traum abwechselnd zunächst als Protektor und anschließend als Observer.« Wieder huscht ein Lächeln über Xaviers Gesicht. »Ein ausgebildeter Protektor könnte die Träume einer Testperson so verändern, also modulieren, dass sie nach und nach in eine höhere Energiezone aufsteigt. Aber keine Sorge, das verlangen wir nicht von euch. In einer einzigen Sitzung wäre das selbst für einen geübten Protektor kaum machbar. Es genügt, wenn ihr den Traum der Testperson minimal positiv beeinflusst. Wir kontrollieren das anhand verschiedener physiologischer Werte, zu denen auch die Gehirnfunktionen zählen. Wie ihr dabei vorgeht, überlassen wir eurer Fantasie. Da ihr über keine Erfahrung verfügt, müsst ihr allerdings zweierlei beachten. Erstens: Sprecht die Testperson nicht an. Zweitens: Nehmt weder im Traum noch im Wachzustand Blickkontakt auf. Damit minimiert ihr das Risiko, dass ihr euch mit den negativen Energien infiziert. Und denkt daran: Wer die Prüfung bestehen will, muss sich in der Ersten Zone halten.«

Während Xavier spricht, beuge ich mich immer weiter vor, sauge jedes Wort förmlich in mich hinein. So viel hängt davon ab, dass ich heute alles richtig mache. Mein Vater hat nur diese eine Chance.

»Der Observer steigt weniger tief in das Unterbewusstsein der Testperson ein. Er kann den Protektor und die Testperson zwar beobachten, bleibt in dem Traum jedoch selbst unsichtbar. Maximal zeigt er sich als heller Schatten. Sollte sich der Traum in eine gefährliche Richtung entwickeln, gibt uns der Observer ein deutliches ›Ende‹ durch. In dem Fall weckt euch das Team, das die Modulation zusätzlich überwacht. Dieses Team greift auch ein, falls eure physischen und psychischen Funktionen außer Kontrolle geraten.«

O Gott, und was heißt das nun wieder? Absturz in eine Kritische Zone?

»Ich teile euch jetzt in Zweiergruppen ein. Im Vorbereitungsraum«, Xavier deutet auf die Tür, durch die er hereingekommen ist, »wartet ihr, bis man euch zur Prüfung abholt. Ein kleiner Tipp: Nutzt die Zeit und lernt euren Partner oder eure Partnerin kennen.«

Jetzt heißt es Daumen drücken, und zwar so fest, dass sie jeden Moment abbrechen. Wenn bloß Tilda meine Partnerin wird!

Manchmal kommt es mir so vor, als hätten wir aufeinander gewartet, während es mir gleichzeitig ein ewiges Rätsel bleiben wird, warum sich Tilda ausgerechnet für mich entschieden hat, als sie im letzten Herbst in unsere Klasse kam. Alle wollten sie kennenlernen; sie gehört zu diesen Menschen, mit denen du automatisch befreundet sein möchtest, weil sie so viel Energie versprühen. Doch Tilda hat alle links liegen lassen und sich mir zugewandt. Seither schleppt sie mich auf jede Party und jedes Konzert mit, während ich mit ihr lieber meinen Lieblingsplatz besuche: den Himmelsee, wo wir durchs Wasser kraulen und anschließend die Glückskekse essen, für die ich ungefähr einhundertzwölf Rezepte kenne. Wenn wir am Seeufer sitzen, sprechen wir, wie man spricht, wenn man miteinander allein ist. Tilda ist offen, lebhaft und laut, während ich eher ruhig, zurückhaltend und vernünftig bin. Ich schwimme gern und liebe die Natur, insbesondere die Krähe, die uns manchmal auf unserer Wiese besucht und ihre Freude an meinen Keksen hat. Tilda dagegen bevorzugt Clubs und Wellnesscenter, sofern sie sich das gerade leisten kann. Obwohl sie so zerbrechlich aussieht, ist sie stahlhart. »Durchatmen und weitermachen«, lautet ihre Devise. Sie ist eine, die sich durchs Leben boxt, und sie mag keine Leute, die jammern, also fange ich gar nicht erst damit an – auch wenn ich es gerade liebend gern tun würde, und zwar laut und anhaltend.

»Florentine Swann und Gemma Degano«, sagt Xavier.

Das war’s. Tschüss, Tilda. Mit einem letzten Blick auf meine Freundin steige ich langsam die Stufen zum Podium hinunter, wo mich meine Prüfungspartnerin schon erwartet.

Florentine Swann, groß und blond, mit heller, geradezu schimmernder Haut. Sie lächelt. Kategorie zwei. Eindeutig.

Der Vorbereitungsraum ist ein Saal ohne Fenster. Von den Mittagslichtlampen an den Wänden strahlt uns mattgoldenes Licht entgegen. Der Dacheinsatz imitiert einen blauen Sommerhimmel, wie ich ihn von alten Abbildungen kenne. Sofas zum Relaxen stehen im Raum verteilt, ein mit Früchten und Freetox-Sandwiches beladenes Buffet rundet das Luxusclub-Ambiente ab. An den Wänden leuchten Sätze wie Glück ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens, daher muss Glück auch das Ziel unserer Zivilisation sein. Oder: Wer sich selbst optimiert, optimiert sein Glück.

Wir setzen uns. Es duftet nach Happinezz, einem superpotenten Glücksaroma aus Rose und Pfirsich. Zwischen uns plätschert ein Tischbrunnen. Tilda kommt mit ihrem Partner herein, einem Jungen mit asiatischen Gesichtszügen, die beiden reden und lachen, als würden sie sich seit hundert Jahren kennen. Tilda freundet sich immer binnen fünf Sekunden mit allen möglichen Leuten an, für sie geht das leichter als atmen. Auch Florentine und ich sollten mal loslegen mit dem Kennenlernen, doch vorläufig kann ich sie nur anschauen. Sie ist so schön, dass mein Blick förmlich an ihr kleben bleibt. Es ist nicht so, dass ich hässlich bin. Ich gehöre zum Typ Unauffällig; meine Haare – schokoladenbraun, dick und glänzend – sind sogar richtig hübsch. Doch Florentine sieht in ihrem von Silberfäden durchzogenen Kleid aus wie eine mit Raureif überpuderte Fee. Sie sitzt vollkommen reglos da, nur ihre Hände öffnen sich. Schließen sich. Öffnen sich.

»Scheiße, und wie soll das gehen?«, platzt die Fee plötzlich heraus. Ihre Stimme zittert. »Den Traum positiv verändern, aber kein Blickkontakt, hallo? Sollen wir ein paar rosa Hoppelhäschen vorschicken, oder was?«

Nicht auf ihren Stress einsteigen. Cool bleiben. Ich setze mich aufrecht hin und sage ruhig: »Das wäre mal eine Maßnahme.«

»Und wenn uns die Testperson angreift? Die sind doch alle komplett verdreht im Kopf. Keine Ahnung, was denen im Traum einfällt. Womöglich finden sie es toll, andere Leute anzustecken. Oder sie bringen dich gleich um.«

»Ich habe gehört, es kommt extrem selten vor, dass jemand in seinen Träumen zum Killer wird.«

»Ja, aber dieser Xavier sagt, dass sich der Traum in eine gefährliche Richtung entwickeln kann.« Mit beiden Händen harkt sie ihr blondes Haar nach hinten. »Was soll das heißen, was meinst du?«

»Magst du einen Orangensaft?«

»Wie bitte?«

»Saft. Für dich.«

Sie lächelt schwach. »Ja. Das wäre gut.«

Vom Buffet hole ich eine Karaffe und zwei Gläser und schenke uns ein.

»Ich wette, die haben richtig heftige Fälle für uns rausgesucht, Testpersonen, die davon träumen, dass sie andere foltern, so Horrorsachen mit rausgerissenen Zähnen und …« Als von einem anderen Sofa lautes und leicht überdrehtes Gelächter zu uns herüberdringt, hält sie inne. Offenbar haben die zwei Jungs dort ein ähnliches Thema am Wickel. Nur gehen sie eben auf Jungs-Art damit um.

Florentine beißt sich auf die Unterlippe. »Entschuldige. Ich klinge total negativ.« Sie trinkt einen Schluck und hat nun ein Saftbärtchen, wodurch sie noch bezaubernder wirkt. »Ich stelle mir das so vor«, sagt sie entschlossen. »Die Testperson, in deren Traum ich gleich reinmuss, war mal voller schöner Gedanken und Gefühle. Und dann hat sie einen Haufen Müll darübergekippt. Also helfe ich ihr, den Müll wegzuschaufeln. Die Dreier und Vierer haben nämlich ein Talent, Müll anzuhäufen, das ist ihr Problem. Sie halten sich ständig vor Augen, was alles schiefgehen kann. Das muss man aus ihnen rausschaufeln.« Bei dieser Aussicht gerät sie richtig in Fahrt. »Ich liebe mich, mein Leben wird von Tag zu Tag reicher, ich gestalte meine Zukunft, wie ich es will. Solche Sätze muss man in sie reinpflanzen. Das meint jedenfalls meine Mutter.« Sie stellt ihr Glas ab und zupft an ihren Fingernägeln. »Beatrix Swann«, sagt sie, wobei ihre Stimme plötzlich kaum noch gegen die Gespräche im Hintergrund ankommt. »Bestimmt hast du von ihr gehört.«

Allerdings. Beatrix Swann, die berühmteste Protektorin des Landes. Das Gesicht der Akademie. Wann immer sie über die Akademie berichten, steht sie vor dem Hauptgebäude oder sitzt neben einem Kamin, in dem ein goldenes Feuerchen tanzt, während ihr ein Journalist ein Mikrofon unter die Nase hält. Die Ähnlichkeit hätte mir gleich auffallen müssen.

»Alle erwarten von mir, dass ich so gut werde wie meine Mutter.« Florentines Stimme wird, während sie spricht, immer leiser. »Camps, Coachings, ich hatte das volle Programm. Man kann alles schaffen, wenn man nur will.«

Okay. Sieht so aus, als sollte ich ein bisschen Erste Hilfe leisten.

In den nächsten Minuten lenke ich unser Gespräch behutsam auf ein paar Filme, die mir auf die Schnelle passend erscheinen. Keine Liebeskomödien, sondern die einschlägigen Superheldinnenstreifen. Egal, ob da ein Mädchen in einem Dschungel voller fleischfressender Rieseninsekten feststeckt oder von einem Dämonenherrscher eingekerkert wird – sie kämpft, hat Ideen, kommt raus. Schafft es. So wie wir es schaffen. Allmählich entspannt sich Florentine. Und, angenehmer Nebeneffekt: Ich entspanne mich auch. Wenn du dafür sorgst, dass es anderen besser geht, hebt sich automatisch deine eigene Stimmung.

Und das funktioniert genau so lange, bis die ersten Paare zur Prüfung abgeholt werden.

Tilda, die begeistert mit ihrem neuen Freund plaudert, guckt schnell zu mir herüber. Über ihrer Stirn steht eine Locke senkrecht in die Höhe, ihre Nasenspitze sieht etwas blass aus. Es hat begonnen. Sogar für Tilda. Auch Florentine wird wieder nervös.

»Meinem Daddy ist es egal, ob ich bestehe.« Sie steckt einen zittrigen Zeigefinger in den Wasserstrahl des Tischbrunnens und bewegt ihn fahrig hin und her. »Er hat eine Firma für interaktive Meditationsprogramme, da könnte ich einsteigen. Und was machen deine Eltern?«

Ein Wassertropfen perlt von ihrer Fingerspitze und zerplatzt auf der Tischplatte. Kurz überlege ich, eine Lüge zusammenzubasteln, doch meine Fantasie sollte ich mir wahrscheinlich für die Modulation aufsparen.

»Mein Vater ist … war Apotheker. Er ist vor drei Monaten nach Cloverhill umgezogen.«

Cloverhill. Der nächstgelegene Quarantänebezirk. Der Ort für diejenigen, die in eine Kritische Zone abrutschen und sich den Aufenthalt in einem Kurzentrum nicht leisten können. Sozialwohnungen, Essensausgaben, Kleiderkammern. Doch vor allem: Sicherheitszaun und Kontrollposten, zum Schutz der gesunden Bevölkerung. Nichts steckt so schnell an wie ein negativer Gedanke.

»Willst du darum an die Akademie?« Über den Rand ihres Glases betrachtet mich Florentine halb erschrocken und halb mitfühlend. »Du willst deinen Vater rausholen, stimmt’s?«

»Ja«, sage ich schlicht.

Weil ich ihn retten muss. Manchmal würde ich gern schreien. Oder gar nichts mehr fühlen. Ohne Erinnerungen leben. Ein Kloß steigt mir in die Kehle. Nicht jetzt, bitte. Ich lege eine Hand an meinen Hals, spüre die Wärme meiner Haut, atme und lächle, denke gute Gedanken. Ich kämpfe für meine Ziele, bestehe die Prüfung, rette meinen Vater.

»Du darfst nie die Hoffnung aufgeben«, sagt Florentine entschieden. »Meine Tante Sofia ist schon zum dritten Mal in Cloverhill. Sie wohnt jetzt seit elf Monaten dort, aber bisher ist sie immer wieder rausgekommen. Und sie schafft es auch dieses Mal. Ich besuche sie ab und zu, und weißt du, was? Sie ist richtig gut drauf. Sie erfindet Rezepte für vegane Marshmallows, singt jeden Samstag in einer Karaokebar und leitet eine Selbsthilfegruppe. Und sie ist nur mit Leuten aus der Dritten zusammen, darauf achtet sie. Sie sagt, von denen unter dir, von den Vierern musst du wegbleiben, die sind Gift. Die Fünfer sowieso. Sie schafft es wieder hoch in die Zweite, das weiß ich. Du musst positiv bleiben. Dein Vater, der packt das.«

Ich verkneife mir die Frage, warum Florentines Mutter, die berühmte Protektorin, dieser Tante Sofia nicht hilft, schließlich dürfen die Mitarbeiter der Akademie alle vier Jahre einen Angehörigen ins Mandala-Zentrum holen. Für die Studenten gilt übrigens dasselbe – schon ab dem zweiten Semester. Und das ist genau der Grund, aus dem ich eine Protektorin werden muss. Das Mandala-Zentrum ist nicht irgendein Kurzentrum, sondern die berühmteste Einrichtung der Welt, und zwar genau hier, auf dem Gelände der Akademie. Wenn ich meinen Vater retten kann, dann, indem ich dafür sorge, dass er ins Mandala-Zentrum aufgenommen wird.

»Und was macht deine Mutter?«, fragt Florentine.

Der Tischbrunnen plätschert. Die Stimmen der anderen Mädchen und Jungen murmeln. Mit hoffentlich ausdrucksloser Miene sehe ich Florentine an, während der Kloß in meiner Kehle wieder anschwillt. Was soll ich ihr antworten?

Mein Vater hat mir erzählt, dass meine Mutter mich ebenso herbeigesehnt hat wie er. Trotzdem ist sie während ihrer Schwangerschaft bis in die Fünfte abgestiegen. Keine Ahnung, ob es an mir lag. Vermutlich schon. Vielleicht wollte sie mich doch nicht so sehr, wie sie geglaubt hatte. Die Aussicht, mich auf die Welt zu bringen, hat jedenfalls nicht genügt, um sie in einer höheren Zone zu halten. Ich habe nicht genügt. Kurz nach meiner Geburt hat der Glanz sie geholt.

»Sie …« Ich räuspere mich und setze erneut an: »Sie ist gestorben, als ich noch sehr klein war.«

»Oh. Das tut mir leid.« Florentine lächelt unbestimmt. »Aber das, was einen Menschen wirklich ausmacht, lässt er zurück, wenn er geht. Wir sollten nicht um das trauern, was hinter uns liegt, sondern uns über das freuen, was noch kommt.«

Sätze, wie ich sie im Laufe der Zeit oft gehört habe. Zum Glück will sie nicht wissen, ob meine Mutter vom Glanz getötet wurde. Mit einem Vater in der Dritten klingt es schon merkwürdig genug, dass ich mich an die Prüfung heranwage. Keiner, der noch alle Lollis in der Tüte hat, würde sich bei meiner Geschichte Chancen ausrechnen. Andererseits weiß die Akademie über meine Familie Bescheid – und hat mich trotzdem eingeladen.

»Und dein Vater ist seit drei Monaten weg?« Florentine mustert meinen Arkanit so intensiv, dass ich selbst nachgucke. Doch der flache, wie ein mandelförmiges Auge geformte Stein auf meiner Brust strahlt in reinem Gold. »Nicht ein grauer Faden. Wie machst du das? Irgendein Geheimnis?«

Ich schüttele den Kopf, schenke frischen Saft nach und drehe mich leicht von ihr weg. Schließe kurz die Augen. Weil es nicht anders geht.

Erst ist es dunkel. Doch mit dem nächsten Atemzug steigen aus meinem Inneren die Farben des Glanzes auf und beginnen ihren hypnotischen Tanz. Es ist wunderschön. Ein paar kostbare Sekunden gebe ich mich dem Anblick noch hin, bevor ich die Augen widerstrebend wieder öffne.

Es geht mir gut. Ich bin dort, wo ich sein möchte.

Die Tür öffnet sich. Xavier kommt herein und bittet die nächsten fünf Paare zu sich. Wir gehören dazu. »O Gott«, flüstert Florentine.

Tilda springt von ihrem Sofa auf, sprintet zu mir herüber wie ein flinkes Eichhörnchen, nimmt mir mein Glas ab und umarmt mich. Ich klammere mich an sie, rieche ihr Superparfum, spüre ihre Kringellocken an meiner Wange.

»Los jetzt, Gemma.« Mit einem Finger stupst sie von unten gegen mein Kinn. »Kopf hoch. Du schaffst das. Wenn du es willst.«

Hinter Florentine trete ich in den Gang hinaus. Auf der Schwelle drehe ich mich noch einmal um. Tilda formt mit Zeige- und Mittelfinger ein V. Ehe ich ihren Gruß erwidern kann, schließt sich die Tür zwischen uns.

Gemma. Sei glücklich oder stirb

Подняться наверх