Читать книгу Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - Страница 8

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Das Licht ist gedämpft, die roten Stahltüren zu beiden Seiten des Ganges sehen mehr nach Fabrik als nach Wissenschaft aus. Vor der dritten Tür links bleibt Xavier stehen, zieht kurz seine Liste zurate und liest zwei Namen vor, Christopher Irgendwas und Till Sonstwie. Die beiden treten vor. Xavier öffnet die Tür, hinter der ein Streifen bläuliches Licht schimmert, winkt die beiden hindurch und schließt die Tür wieder. Meine Zunge ist ein Streifen Sandpapier. Wir gehen weiter, den Gang hinunter, das hohle Tapp-Tapp unserer Schritte dröhnt mir wie Hammerschläge in den Ohren. Die nächste rote Tür, der nächste Blick auf die Liste.

»Florentine Swann und Gemma Degano.«

Obwohl Xaviers Stimme so sanft und freundlich klingt, als könnte uns schon die Andeutung eines kühlen Untertons in die Flucht schlagen, weiche ich zurück. Mein Magen flattert. Okay. Los jetzt.

Xavier drückt die Klinke herunter. Die Tür öffnet sich wie ein roter Mund. Wir treten hindurch.

»Florentine«, sagt eine weiche Stimme. »Gemma. Wie schön, euch kennenzulernen.« Eine Frau von etwa vierzig Jahren kommt auf uns zu. Sie sieht aus wie eine Elfenkönigin aus einem Fantasystreifen. Fehlt nur das weiße Wallegewand. Gut, aus ihrem honigfarbenen Haar ragen auch keine spitzen Ohren.

Gathea Klett, die Direktorin der Akademie und die Frau, die nicht nur die Modulation entwickelt, sondern sie auch perfektioniert hat, schüttelt uns höchstpersönlich die Hand und lächelt dabei so warm, als hätte sie unserem Kommen den ganzen Tag entgegengefiebert. Der Arkanit auf ihrer Brust leuchtet und glüht.

»Herzlich willkommen.«

»Ha-hallo«, stottere ich. Florentine gibt ein Geräusch von sich wie eine Maus. Mein Puls bockt, hastig schiele ich auf meinen Arkanit hinunter. Erste Zone. Ja, ich bin nervös, doch nervös ist gut, nervös kann ich nutzen, nervös hat mit negativ nichts zu tun.

Gathea winkt uns zu einer Liege. Stoffriemen an den Seiten, ein Bügel, an dem eine weiße Kunststoffmaske hängt. Die orangefarbenen Sitze rechts und links der Liege ähneln diesen Kinosesseln, in denen du stundenlang abhängen kannst, ohne dass ein einziger Muskel verkrampft. Am Kopfteil jedes Sessels ist eine Art Heiligenschein aus Metall befestigt, innen versehen mit zwei optischen Linsen. Ich muss sofort zwinkern, das Ganze sieht aus wie ein Folterinstrument. Von den Heiligenscheinen und der Maske führen unzählige Kabel zu einem silbernen Apparat. Mit seinen grünen Leuchtfeldern und den zahllosen Kippschaltern wirkt er rührend antiquiert, doch der Anblick täuscht. Der Modulator ist das Modernste, was die Glücksforschung zu bieten hat. Ein feines Summen geht von ihm aus, das sich wie eine Nadel in meine Ohren bohrt.

Ob es wehtun wird? Ob … Nein. Stopp. Ich habe keine Angst. Ich bin … was war ich? Nervös. Genau.

»Dann setzt euch mal«, sagt Gathea.

Ich versinke in meinem Sessel. Einige Zentimeter über mir schwebt das heilige Folterinstrument.

»Die Technik des Luziden Träumens lernt ihr bereits im Kindergarten«, beginnt Gathea. »Ihr wisst, wie ihr eure Träume verändern könnt. Heute beeinflusst ihr nun zum ersten Mal den Traum und damit das Unterbewusstsein eines anderen Menschen. Es ist noch keine echte Modulation, das ist bei vergangenen Prüfungen zu oft nach hinten losgegangen. Trotzdem sollt ihr versuchen, positiv auf den Traum eurer Testperson einzuwirken.«

Ich drücke mich in die Polster, am liebsten würde ich darin verschwinden. Prompt richtet Gathea ihren Blick auf mich. »Möchtest du den Anfang machen, Gemma?«

»Gern«, krächze ich.

»Du weißt, was ein Grenzgänger ist?«

Eine rhetorische Frage. »Ein … ein Grenzgänger …« Ich räuspere mich. »Ein Grenzgänger hat seinen Arkanit mit der Droge Silver Ice manipuliert. Silver Ice friert den Arkanit in der Zweiten Zone ein, sodass der Grenzgänger in die von ihm angestrebte Dritte Zone absteigen kann, während sein Arkanit weiter die Zweite anzeigt.«

Gathea nickt und seufzt leise. »Eure heutige Testperson ist Keno Reed, 18 Jahre.« Während sie spricht, kühlt ihre Stimme um mindestens zehn Grad ab. »Seine Eltern arbeiten mit großem Erfolg als Therapeuten. Sein Vater war Mitglied der Ethikkommission, die unsere Regierung in Gesetzesfragen berät. Er hat sein Amt vor einigen Jahren niedergelegt und widmet sich seither seiner Karriere als Buchautor. Die Mutter ist bundesweit mit ihren Glücksseminaren unterwegs. Bruder Benjamin studiert Komplementärmedizin. Im Gegensatz zu Benjamin hat Keno keine Pläne für die Zukunft entwickelt. Er ist lieber mit den Grenzgängern in Kontakt getreten und hat seinen Arkanit manipuliert. Glücklicherweise hat eine Lehrerin an seiner Schule Verdacht geschöpft und die Zentrale für Manipulation eingeschaltet. Eine Identifikation wurde angeordnet, das heißt, mit einem Eingriff in Kenos Unterbewusstsein wurde Silver Ice erfolgreich neutralisiert und Keno Reed als Grenzgänger überführt. Da er bereits volljährig ist und dem Strafrecht für Erwachsene unterliegt, wurde er als Testperson an die Akademie überstellt.«

Ich kann nicht verhindern, dass sich mein Gesicht kurz verzieht. Dieser Junge, von dem Gathea spricht … dieser Keno. Er ist absichtlich in die Dritte Zone abgestiegen – weil er neugierig war? Jedenfalls muss er völlig gleichgültig gegenüber den Menschen gewesen sein, die ihn lieben. Er hat nicht nur sich selbst, sondern seine Familie, seine Freunde, überhaupt alle in seinem Umfeld in Gefahr gebracht und in Kauf genommen, dass sie sich mit seiner negativen Energie infizieren.

»Du wirst nun an einem Traum von Keno Reed teilnehmen«, Gathea legt eine Hand auf meinen Unterarm, drückt ihn kurz und wendet sich Florentine zu, »während du Gemma als Observerin begleitest. Anders als der Protektor sieht ein Observer nur einzelne Traumbilder. Wie viele es sind, hängt vom Training ab. Anhand dieser Bilder musst du entscheiden, ob und wann der Traum Gemmas Energiezone gefährdet und wir ihn abbrechen müssen.«

Florentine nickt. Ihre Lippen zittern.

»Manche Protektoren«, Gathea dreht sich wieder zu mir hin, »nehmen den Observer als hellen Schatten wahr. Das kommt allerdings eher selten vor. Das Kontrollteam erhält keine Bilder, überwacht aber eure psychischen und physiologischen Werte.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Wenn Keno gleich hereingebracht wird, sprecht ihr ihn bitte nicht an und unterlasst jeden Blickkontakt. So reduziert ihr die Ansteckungsgefahr.«

Mit diesen Worten geht sie zu der roten Stahltür hinüber und entriegelt sie. Florentine schaut mich aus kugelrunden Augen an »Kein Schutzanzug?«, flüstert sie entsetzt.

Die Anzüge tragen wir üblicherweise beim Kontakt mit Menschen, die sich in einer Kritischen Zone befinden. Negative Gedanken und Gefühle senden Schwingungen aus, schmutzige, unsichtbare Energiewellen, die dich infizieren können. Manche Leute behaupten zwar, das sei nicht abschließend erwiesen, doch in Deutschland ist das Tragen der Anzüge bei Kontakt vorgeschrieben: eine transparente Haut, die mithilfe eines hochkomplizierten Verfahrens energetisch aufgeladen wird und dich eine Stunde lang gegen die negativen Schwingungen der Dreier, Vierer und Fünfer abschirmt.

»Gehört wohl zur Prüfung«, wispere ich zurück. »Ob wir uns ohne Schutzanzug in der Ersten halten können.«

Florentine ist käseweiß. Ich wahrscheinlich auch.

Ein junger und ein älterer Mann betreten den Raum, der Ältere hält den Jüngeren unter der Achsel gefasst. Wie Gathea trägt er keinen Anzug, wahrscheinlich sind die Akademieleute so stabil, dass sie solche Hilfsmittel nicht benötigen.

Und dann der Jüngere. Keno Reed ist ein ziemlich großer Junge, der Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Beruhigungsmittel, vermute ich. Gathea hat uns angewiesen, dass wir weggucken sollen, trotzdem bleibe ich kurz an seinen Augen hängen. Es sind die glänzendsten Augen, die ich je gesehen habe, in einer blauen Farbe, die Lagune heißen könnte und die man eigentlich nur mit Kontaktlinsen hinbekommt.

Keno Reed, denke ich. Und: ein Grenzgänger. Und: Ich verstehe solche Menschen nicht.

Entschlossen zwinge ich meinen Blick von seinen Augen weg und hinunter auf seine Brust. In seinem Arkanit schwebt der graue Nebel. Keno hat sich entschieden. Er hat in voller Absicht den Weg in die Dritte Zone gewählt. Ein Grenzgänger – und weil sie ihn geschnappt haben, ist er jetzt außerdem eine Testperson. Im Gegensatz zu mir ist er nicht freiwillig hier, doch das hat er sich selbst zuzuschreiben. Die Grenzgänger wissen, was ihnen bei einer Identifizierung blüht.

Keno schwankt und lehnt sich gegen die Liege.

»Leg dich jetzt bitte hin«, sagt Gathea sanft.

»Bin nicht müde«, antwortet er und kippt um. Der Mann fängt ihn gerade noch auf, bevor er zu Boden kracht. »Moment«, murmelt Keno. »Meine Beine … geht gleich wieder …« Sein Blick gleitet über mich hinweg, rutscht zurück und hakt sich fest.

Schau weg, Gemma. Schau weg!

Plötzlich wirkt er gar nicht mehr benommen. Er mustert mich so intensiv, als wollte er sich jedes Detail meines Gesichts einprägen, damit er mich wiedererkennt, wo auch immer wir einander gleich begegnen werden.

»Du …« Er leckt sich die Lippen und setzt erneut an: »Du gehst nicht … in mich rein.«

Gathea legt eine Hand auf meine Schulter. »Schau woandershin, Gemma.«

Doch er wendet den Blick zuerst ab. Seine Lider klappen zu. Als seine Beine erneut wegknicken, lässt ihn der Mann rücklings auf die Liege sinken und zurrt geschickt die Stoffriemen fest. Keno murmelt etwas, kann aber die Augen nicht mehr öffnen. Der Mann lässt den Bügel herunter. Die weiße Maske senkt sich herab, Kenos Gesicht verschwindet. Ich sage mir, dass dort jetzt nur noch eine Testperson liegt. Kein Mensch, der einen Namen hat.

Es funktioniert nicht. Ich habe seine Augen gesehen.

Der Mann greift unter die Liege und klappt ein Tablett heraus, auf dem drei mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten gefüllte Spritzen liegen. Er desinfiziert Kenos Armbeuge, führt die Injektionsnadel der roten Spritze ein und drückt den Kolben durch.

Gleich werde ich Kenos Traum betreten. Das Unterbewusstsein eines Grenzgängers. Was erwartet mich dort?

Egal. Völlig egal. Ich schaffe das. Ich werde eine Studentin der Akademie. Ich rette meinen Vater.

»Wir injizieren euch jetzt das Serum, das euch mit Kenos Unterbewusstsein verbindet«, höre ich Gathea wie aus weiter Ferne sagen.

Der Mann greift nach der gelben Spritze und tupft mit dem Desinfektionsmittel an Florentines Armbeuge herum. Gathea nimmt die grüne Spritze vom Tablett.

Meine Spritze.

Meine Zehen bohren sich in meine Schuhsohlen, meine Finger umkrampfen die Sessellehnen, als Gathea die nach Alkohol riechende Desinfektionslösung auf meiner Haut verstreicht. Mein Körper will aus dem Sessel hoch, ich zwinge ihn zur Ruhe. Ein Pieks, ein Kribbeln. »Bitte die Augen offen halten«, sagt Gathea.

Mit einem Surren senkt sich der Heiligenschein und verengt sich hinten und an den Seiten, bis das Metall meinen Hinterkopf und meine Schläfen fest umschließt. Die Linsen sind nur wenige Zentimeter von meinen Augäpfeln entfernt. Mein Herz klopft in meiner Brust, in meinem Magen. In meinen Augen. Dort vor allem. Ich habe mich noch nie so verletzlich gefühlt. Das Surren wird zu einem Sirren, gefolgt von einem Klick. Die Okulare bewegen sich auf mich zu. Auf meine Augen. Der Heiligenschein hält meinen Kopf in Position. Mein Nacken spannt sich. Mein Kopf will ausweichen und kann nicht.

Um mich wird es schwarz.

Etwas Kühles drückt gegen meine Augäpfel, erst leicht, dann fester, dann lässt der Druck nach. Der Sessel ruckelt. Eine Art Nieselregen piekst mir in die Wangen und überzieht mein Gesicht mit einem feinen Schleier.

In der Ferne murmelt Gatheas Stimme. Die Geräusche aus dem Prüfungsraum verschmelzen zu einem Raunen im Hintergrund. Ich spüre den Sessel nicht mehr. Der Regenschleier wird fortgezogen. Jetzt ist da Wärme. Eine rote Wolke steigt in meinem Kopf auf und polstert ihn von innen aus. In mir macht sich eine angenehme Müdigkeit breit.

Nicht einschlafen! Das hier ist meine Prüfung. Ich muss wach bleiben. Muss meinen Vater …

Gemma. Sei glücklich oder stirb

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