Читать книгу Gemma. Sei glücklich oder stirb - Charlotte Richter - Страница 12

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Beatrix Swann steckt den Kopf zur Tür herein. »Xavier? Bringst du bitte die Testpersonen zurück in ihre …« Sie hält inne. Ihr Blick streift mich, ihre Lippen kräuseln sich.

»Hast du Xavier gesehen?«, wendet sie sich an Tilda.

»Der ist gerade los«, sage ich. »Wegen eines Plakats. Er sagte, er wolle die Polizei informieren.«

Sie kneift die Nasenflügel ein. Wahrscheinlich würde sie mich wegen Florentine am liebsten aus dem Saal schmeißen lassen, doch ihr bleibt nur, sich mit einem Ruck von mir wegzudrehen und die Tür übertrieben fest hinter sich zuzuziehen, worüber ich alles andere als unglücklich bin.

Tilda und ich verkrümeln uns in eine Sofaecke. Als sie mich gerade wieder tröstend an sich ziehen will, frage ich hastig: »Werden die Testpersonen eigentlich entlassen, wenn sie in die Zweite hochgehen?« Weniger, weil es mich interessiert, als um mich selbst auf andere Gedanken zu bringen.

Sie starrt mich an. »Erzählst du mir gerade, dass deine Testperson jetzt in der Zweiten ist?«

»So ungefähr.«

»Und die lassen dich trotzdem nicht als Observerin rein?« Sie fährt sich durch ihre Kringellocken. »Das kapier ich nicht.«

»Wahrscheinlich hatte es nichts mit mir zu tun, dass er rauf ist.«

»Also, entlassen wird deine Testperson jedenfalls nicht. Fünf Jahre Forschungszentrum, das gilt für alle Grenzgänger. Egal, ob sie in der Zeit in einer höheren Zone landen. Alan, der Typ, mit dem ich drin war, meint, für uns hätten sie die Frischlinge rausgesucht. Die bleiben der Akademie also noch ein paar Jahre erhalten. Das können die doch nicht mit dir machen«, zetert sie plötzlich los wie ein wütender Vogel und wirft ihre Arme um mich. »Das tut mir so leid«, flüstert sie. Stumm nicke ich an ihrer Schulter. Ich bin draußen. Und Keno wird weiter hier leben. Für lange Zeit. Als Testperson.

Egal. Er geht mich nichts an. Und die Akademie geht mich auch nichts mehr an.

Mein Vater. Er geht mich etwas an. Für ihn muss ich einen anderen Weg finden.

Wenn ich nur wüsste, welchen.

Auch Florentine ist inzwischen in den Vorbereitungsraum zurückgekehrt und weicht meinen Blicken beharrlich aus. Sie ist nicht die Einzige, die während der Prüfung in die Zweite abgerutscht ist, doch das dürfte ein schwacher Trost für sie sein. Und meinem schlechten Gewissen hilft es auch nicht wirklich weiter. Ich würde meinen Arkanit gern mit ihrem vertauschen, aber das wäre sinnlos: Die Arkanite sind auf uns geprägt. Sobald jemand anderes sie trägt, erlöschen sie.

Ich habe ihr das angetan. Niemand sonst. Es ist meine Schuld. Zu ihr hinübergehen und mich bei ihr entschuldigen ist wohl das Mindeste, was ich tun kann. Doch gerade, als ich mich von meinem Platz erheben will, öffnet sich die Tür. Sämtliche Gespräche verstummen. Eine Mitarbeiterin der Akademie winkt uns in den Hörsaal. Florentine steht auf. Ich habe meine Chance verpasst.

Gathea erwartet uns bereits. Eilig rutschen Tilda und ich in unsere Bank. Ich spüre meinen Herzschlag in der Kehle und in den Schläfen, sogar in meinen Fingerspitzen meldet er sich. Florentine, die auch in unserer Reihe sitzt, beißt ihre Zähne so fest zusammen, dass sich ihre Kiefermuskeln zu kleinen Kugeln ballen. Ich stelle mir vor, wie sie in Gedanken ihre Mutter umkreist; das Gespräch, das sie zu Hause erwartet.

Über Gathea flammt ein Spot auf und taucht ihre Gestalt in eine goldene Säule. Mit einem Räuspern schaltet sie das Pad in ihren Händen ein.

»In diesem Jahr nehmen wir drei Studenten in die Akademie auf. Wenn ich eure Namen aufrufe, kommt ihr bitte nach vorn.« Sie scrollt auf ihrem Pad nach unten. »Tilda Johannsen.«

Ein paar Sekunden bleibt alles still, dann bricht eine Art Kreischen aus Tildas Mund. Sonst tut sie nichts, sie sitzt nur da, die Hände an die Seiten ihres Gesichts gedrückt, und stößt diese merkwürdigen Laute aus. Ich beuge mich zu ihr und umarme sie, ziehe sie von der Bank hoch und gebe ihr einen Stups. »Ab mit dir«, flüstere ich.

Tilda hüpft auf Gatheas Pult zu, als hätte sie Sprungfedern unter den Füßen. Das Kreischen stellt sie unterwegs glücklicherweise ein. Die Direktorin gratuliert ihr, dann wendet sie sich wieder ihrem Pad zu.

»Larissa Scott.«

Drei Reihen vor mir steht ein Mädchen auf. Alles an Larissa sieht aus wie ein Herz: Ihr Gesicht, ihr kleiner Mund mit den nach oben gebogenen Mundwinkeln, selbst ihre Bluse ist mit winzigen pinkfarbenen Herzen bedruckt. Sie wirkt jünger als sechzehn, was auch daran liegen mag, dass sie sogar noch kleiner als Tilda ist. Als Gathea ihr die Hand schüttelt, sagt sie: »Vielen Dank.«

Gathea zieht wieder ihr Pad zurate.

Die letzte Chance.

Und wenn ich die Dritte wäre? Was, wenn sie mich doch aufnehmen?

Papa, denke ich. Papa.

»Gemma Degano.«

Mein Name klingt weit weg. Doch es ist mein Name.

Wie es sich anfühlt, wenn Wunsch und Wirklichkeit miteinander verschmelzen? Als würde ich seitlich in einen Traum hineinrutschen. Einen guten. Als würde ich auf Wolken gehen. Gemma Degano. Ich schwebe Richtung Pult, auf meinen Namen zu.

Alles wird gut, Papa, denke ich, denke es wieder und wieder. Alles wird gut.

Gathea reicht mir die Hand. »Eine außergewöhnliche Leistung«, sagt sie halblaut. »Dramatisch zwar, aber auf Anhieb.« Ihre Mundwinkel zucken, ich glaube, sie lächelt. »So etwas haben wir zuletzt … wann erlebt? Es muss über zehn Jahre her sein. Eine vollständige Modulation, schon beim ersten Versuch. Gratuliere.«

Kurz schießt mir die Frage durch den Kopf, ob es wirklich eine Modulation ist, wenn zwar die Testperson in eine höhere, die Observerin aber in eine tiefere Zone gerät und die Protektorin – in diesem Fall ich – irgendwie ihre Finger mit drin hat. Doch diese Frage behalte ich wohl lieber für mich.

Und damit habe ich von heute an wohl ein weiteres Geheimnis.

Gathea wendet sich wieder an die knapp einhundert Jungen und Mädchen, die in ihren Bänken sitzen bleiben mussten. »Für euch heißt es nun, nach vorne zu schauen und euer Ergebnis anzunehmen. Die Akademie hat euch eingeladen, alleine das ist eine fantastische Leistung. Euer Weg führt euch jetzt in eine andere Richtung – ihr kehrt an eure Schulen zurück, besteht euer Abitur, werdet studieren oder eine andere, vielversprechende Laufbahn einschlagen. Euer Leben steckt voller großartiger Möglichkeiten.«

Ein irgendwie knurrendes Geräusch lässt mich den Kopf wenden.

Florentine schiebt auf ihrem Pult ein paar Krümel zusammen und stippt sie mit dem Zeigefinger auf. Für eine Sekunde verzieht sich ihr Mund, dann zerquetscht sie die Krümel zwischen Daumen und Zeigefinger und schnippt sie auf den Boden.

Die Direktorin schickt alle hinaus. Nur wir drei sollen bleiben – die neuen Studentinnen der Akademie.

»Euer Studium beginnt in wenigen Tagen. Auf euch wartet eine aufregende Zeit.« Mit elegantem Schwung wirft sie ihr honigfarbenes Haar zurück, breitet die Arme aus und lacht. »Willkommen in eurem neuen Leben.«

Gemma. Sei glücklich oder stirb

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