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Die frühesten mappae mundi mit Seeungeheuern: Beatus-Karten
ОглавлениеDie frühesten erhaltenen mittelalterlichen Weltkarten datieren vom achten bis zehnten Jahrhundert und sind meist einfache, schematische »TO-Karten«. Sie werden so genannt, weil sie den die kreisrunde Erde umschlingende Ozean als O, und das die Erdteile trennende Wasser: Mittelmeer, Nil und Tanais in Form eines T zeigen, das Europa, Afrika und Asien innerhalb des O voneinander trennt.23 Diese Karten illustrieren Handschriften von Isidors Über die Natur der Dinge (De natura rerum) und Etymologien, Beda Venerabilis’ Über die Natur der Dinge (De natura rerum) und einem fälschlicherweise Beda zugeschriebenen Werk De ratione computandi, sowie von Sallusts Über den Krieg gegen Jugurtha und Lucans Der Bürgerkrieg (Pharsalia); die zur gleichen Zeit entstandenen Karten in den Handschriften von Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis sind größer und bieten etwas mehr geographische Details. Aber keine dieser Karten enthält Seeungeheuer.24 Die meisten von ihnen sind einfach zu klein, aber auch im Fall der größeren Beispiele, wo etwas Platz für kleine Seeungeheuer gewesen wäre, fehlte schlicht die Tradition, sie den Karten hinzuzufügen. Da TO-mappae mundi die mit Abstand häufigsten mittelalterlichen Karten sind, hat die Mehrheit der Mittelalterkarten keine Seeungeheuer.
Eine Gruppe größerer und viel detaillierter sowie kunstvoll ausgearbeiteter mappae mundi, die vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert angefertigt wurden, enthalten Abbildungen von Meeresgeschöpfen und Seeungeheuern. Es handelt sich um die Karten, die Handschriften des Apokalypsekommentars des Beatus von Liébana illustrieren (ca. 730–ca. 800).25 Das Werk von Beatus enthält eine Karte zur Darstellung der Missionsreisen der Apostel in alle Länder der bekannten Welt. Eine begleitende Liste gibt an, welcher Apostel welchen Teil der Welt bereiste. Einige Karten zeigen dies durch abgebildete Apostelköpfe an den jeweiligen Orten, wo sie predigten. Jede der erhaltenen Karten erstreckt sich über zwei Folia und ist geostet, das heißt, der Osten ist oben und dort wird auch der Garten Eden abgebildet, entweder in Form der vier Paradiesflüsse oder einer Darstellung von Adam, Eva und der Schlange. Auf den Karten sind Berge und Flüsse, manchmal auch Städte künstlerisch dargestellt (Abb. 3).
Abb. 5 Ein Mann, vermutlich Jona, im Inneren eines großen Seeungeheuers auf der mappa mundi des Beatus von Girona (Museu de la catedral de girona, Num. Inv. 7 (11),f. 54v-55r).
Die übergroße Anzahl von Meereslebewesen auf den meisten dieser Karten ist bemerkenswert, vor allem weil im Gegensatz dazu überhaupt keine Landtiere vorhanden sind. Nur drei von den siebzehn Karten dieser Gruppe haben weder Fische noch Seeungeheuer,26 auf allen anderen sieht man zumindest Fische im Randozean und drei der Karten zeigen mehr exotische Meeresbewohner.
Auf der Karte in der Handschrift von Beatus’ Kommentar, die sich jetzt in Girona, Spanien, befindet und auf 975 datiert wird,27 ist der nördliche Teil des allumfließenden Ozeans (auf Abb. 3 links) sowohl mit Schiffen als auch mit Meerestieren ausgestattet, während der Rest des Ozeans keine Schiffe, aber viele Meerestiere hat, wobei vier der Tiere mehr Ungeheuer als Fisch sind. Rechts (im Süden) gibt es ein Mischwesen aus Land- und Wassertier mit dem Kopf eines Hundes und dem Körper eines Fisches, einem canis marinus, also einem Seehund ähnlich; das merkwürdige Wesen oben links (im Nordosten) sieht wie eine Art Meerhuhn aus (Abb. 4).28 Beide Seeungeheuer sind Mischwesen, wie wir sie in der Einleitung besprochenhaben. In der oberen rechten Ecke (Südosten) der Karte ist ein Fisch mit einem gezackten Rücken zu sehen: Es ist die Serra oder der Sägefisch, ein traditionelles, bei Isidor und anderen Autoren erwähntes Seeungeheuer, von dem erzählt wurde, dass es Schiffe aufschlitzt, wenn es unter ihnen schwimmt.29 Im unteren Teil der Karte, im Westen, befindet sich ein Mann, der nur Jona sein kann, in einem riesigen Seeungeheuer (Abb. 5). Um ihn vor einem Sturm zu schützen, hatte Gott ihn für drei Tage von einem Seemonster verschlucken lassen. Die Identifizierung des Mannes als Jona wird durch seine Geste bestätigt: Er hält sich die Hand an den Mund als Zeichen, dass er spricht, womit der Künstler andeuten will, dass Jona im Bauch des Monsters betet (Jona 2,1–9). In der mittelalterlichen Kunst wird Jona fast immer im Maul statt im Bauch des Monsters dargestellt, so dass dieses Bild ungewöhnlich ist. Es gibt zwei illuminierte byzantinische Psalter aus dem neunten Jahrhundert mit Jona im Innern des Monsters.30 Das Bild von Jona auf der mappa mundi des Beatus von Girona hat also Vorgänger, aber es ist nicht klar, wie der Künstler des Girona-Beatus durch die byzantinische ikonographische Tradition hätte beeinflusst werden können. So hat das Bild von Jona auf der mappa mundi des Beatus von Girona also etwas Rätselhaftes.
Abb. 6 Eine Sirene packt eine Seeschlange, während an ihrem Schwanz ein Fisch knabbert, der gerade selbst von einer langen Seeschlange gefressen wird, auf der mappa mundi des Manchester-Beatus, ca. 1175 (Manchester, John Rylands University Library, MS lat. 8,f. 43v–44r).
Die Handschrift des Beatus-Kommentars, die sich jetzt in Manchester befindet, entstand etwa um 1175. Wie auf der Girona-Karte finden sich auch auf dieser im nördlichen Teil des Randozeans sowohl Meerestiere als auch Schiffe, was vor allem durch das Vorhandensein der Letzteren die Tatsache untermauert, dass der nördliche Teil der Welt bekannter und besser schiffbar war. Im südöstlichen Abschnitt des die Erde umgebenden Ozeans, der von Europa am weitesten entfernt ist, sind keine Schiffe, sondern eine auffällige Gruppe von Seeungeheuern (Abb. 6).31 Dazu gehört eine erstaunlich große Sirene, die mit der Hand nach einer Seeschlange greift, während ein Fisch an ihrem Schwanz knabbert und eine lange Seeschlange mit einem Katzenkopf den Fisch beißt, der an der Sirene knabbert. Diese Gruppe von Ungeheuern füllt einen Großteil des südlichen Ozeans aus. Ketten von sich beißenden Tieren sind nicht ungewöhnlich in der romanischen Kunst, aber auf keiner anderen Beatus-Karte gibt es eine vergleichbare Gruppe, auch nicht auf irgendeiner anderen mir bekannten mittelalterlichen Karte. Die Gruppe zeigt also die Freiheit des Künstlers, Neuerungen vorzunehmen, und weist zudem auf die Abscheulichkeit der weiter entfernten Teile des Weltozeans und seiner Ungeheuer hin.
Die Karte im Beatus von San Andrés de Arroyo, die ca. 1248 erstellt wurde, hat nicht die abgerundete Rechteckform der Girona- und Manchester-Karten, sondern eine Kreisform. Sie ist künstlerisch anspruchsvoller als die beiden anderen Karten, mit vielen Bildern von Städten, mit Bergen, die fantasievoll als Steinhaufen dargestellt werden, und einer breiteren Farbpalette: die Erde ist weinrot, und das Wasser hat einige weiße Wellenstreifen. Viele der Meerestiere sind längliche Fische oder Seeschlangen, darunter aber auch einige Seeungeheuer. Es gibt zwei Sirenen, eine im Südosten und eine andere im Nordosten.32 Beide befinden sich neben Schiffen, und angesichts der Tanzgesten, die sie mit ihren Händen ausführen, besteht kein Zweifel daran, dass sie den Seeleuten auf den Schiffen verführerische Lieder vorsingen (Abb. 7), wie von Sirenen bei Odysseus in der Odyssee – und in mittelalterlichen Bestiarien bekannt.33
Im westlichen Ozean des Arroyo-Beatus ist eine menschliche Unterwasserfigur dargestellt, die mit zwei Seeschlangen ringt. Sie ist eine Personifikation des Ozeans und erscheint auf keiner anderen Beatus-Karte. Es gibt dort auch einen Tintenfisch, einen Seestern und ein großes echsenartiges Wesen, vielleicht ein draco marinus oder Seedrache (Abb. 8). Die Platzierungsstelle des Seesterns auf der Karte von San Andrés de Arroyo stimmt mit dem Ort überein, den ihm Thomas von Cantimpré, Über die Natur der Dinge (De natura rerum) 7,73, und Albertus Magnus, Über die Tiere (De animalibus) 24,52, zuschreiben: eben dem westlichen Ozean. Die Karte wurde im dreizehnten Jahrhundert erstellt, nach 1248, folglich nachdem Thomas sein Werk beendet hatte (um 1240) und wohl auch nach Abschluss des Albertus-Werkes (vermutlich vor 1256). Der Seestern im westlichen Ozean ist fast sicher auf den Einfluss durch Thomas von Cantimpré zurückzuführen, nicht zuletzt weil das lachende Gesicht dem in mindestens zwei seiner illustrierten Handschriften ähnelt – einer Handschrift in Prag aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts und einer Handschrift des frühen fünfzehnten Jahrhunderts in Granada.34 Dies ist ein markantes Beispiel für den Einfluss eines enzyklopädischen Werkes auf eine mappa mundi kurz nachdem das Werk fertiggestellt wurde. Außerdem zeigen die Unterschiede zwischen den Seeungeheuern auf dieser Karte und den beiden anderen von uns behandelten ganz deutlich, dass sich der Künstler die Freiheit nahm, Neuerungen vorzunehmen, und sich nicht verpflichtet fühlte, die Ungeheuer in der als Vorlage benutzten Beatus-Handschrift zu kopieren.
Die mappa mundi des Beatus von Saint-Sever in Paris ist eine der geographisch detailreichsten Beatus-Karten, und auch eine der am häufigsten reproduzierten.35 Sie zeigt verschiedene Boote und viele gewöhnliche und im Wesentlichen gleichförmige Fische im Randozean, aber keine Seeungeheuer. Es gibt jedoch ein weiteres Bild der Erde in derselben Handschrift, das sowohl Fische als auch Seeungeheuer enthält. Die Karte bietet keine geographischen Details über die Erde, sondern stellt sie stattdessen wie eine Bühne für das Aufführen christlicher Geschichte dar, wie einige anderemittelalterliche mappae mundi auch (Abb. 9.)36: Genauer gesagt illustriert sie den Teil des apokalyptischen Dramas, das im Offenbarungstext 7,1–8 beschrieben wird.37 Sie zeigt, wie »vier Engel an den vier Ecken der Erde stehen, die hielten die vier Winde der Erde, damit kein Wind wehe über die Erde noch über das Meer noch über irgendeinen Baum«, und ein anderer Engel kommt vom Osten her mit dem Siegel Gottes in der Hand, um es den Dienern und Dienerinnen Gottes, die sich in der Mitte der Karte versammelt haben, auf die Stirn zu drücken. Die Erde wird terra genannt, und der sie umfließende Ozean mare; im Ozean schwimmen mehrere große Fische, und links auf der Karte, also im Norden38, befinden sich zwei Seeungeheuer (Abb. 10). Eines ist fraglos ein Mischwesen, aber schwer zu definieren; es scheint ein leo marinus oder Seelöwe zu sein, mit dem Vorderteil und den Pranken eines Löwen und einem Fischschwanz. Das andere ist ein »Ziegenfisch«; weder Plinius noch Isidor erwähnen eine solche Meereskreatur, aber dieses Mischwesen war der antiken und mittelalterlichen Kultur als die klassische Darstellung des Sternzeichens Steinbock bekannt, abgebildet als capricornus, also als Ziege mit einem Fischschwanz.39 Die Entscheidung für den Steinbock als Seeungeheuer auf dieser Karte ist etwas überraschend, aber er wurde vermutlich nur als exotisches Mischwesen und weniger wegen seiner astronomischen Bedeutung ausgewählt; ein Ziegenfisch findet sich auch unter den Darstellungen auf der mittelalterlichen Bilderdecke der Kirche von St. Martin in Zillis, Schweiz, auf die wir später (Seite 27–28) näher eingehen.
Abb. 7 Eine Sirene neben einem Schiff im südlichen Ozean auf der Karte des Arroyo-Beatus, ca. 1248. Die Tanzgeste der Sirene bedeutet vermutlich, dass sie den Seeleuten auf dem Schiff ein Lied singt (Paris, Bibliothèque nationale de France, MS nouv. acq. lat. 2290,f. 13v–14r).
Abb. 8 Ein Seedrache, eine mit zwei Seeschlangen ringende Personifikation des Ozeans und ein Seestern im westlichen Ozean der Karte des Arroyo-Beatus, ca. 1248 (Paris, Bibliothèque nationale de France, MS nouv. acq. lat. 2290,f. 13v–14r)
Wir können ganz sicher sein, dass der Archetyp von Beatus’ Kommentar zur Apokalypse aus dem achten Jahrhundert eine Karte enthielt, denn der Text verweist mit einem Satz auf diese, und die letzte Studie zum Text des Kommentars deutet darauf hin, dass dieser Satz auch in der Originalhandschrift stand.40 Die Tatsache, dass auf allen bis auf drei der Beatus-Karten Meerestiere zu finden sind, und dies insbesondere auch auf zwei Beatus-Karten zutrifft, die dem Archetyp künstlerisch am nächsten sein dürften,41 macht es mehr als wahrscheinlich, dass auch das Original Seeungeheuer enthielt. So können wir also anhand der mappae mundi des Beatus die Geschichte der Seeungeheuer auf mittelalterlichen Karten bis ins achte Jahrhundert zurückverfolgen.42
Die Meerestiere auf den Beatus-Karten dienen offensichtlich dazu, dem Betrachter die Unterscheidung von Land und Meer zu erleichtern, und verleihen dem die Erde umfließenden Ozean außerdem einen dynamischen Charakter, indem sie den mit Wasser bedeckten Rand der Welt visuell genauso reizvoll machen wie das Festland und zudem die Wildheit der weiter entfernten Gebiete andeuten. Weil in dem Teil des Apokalypensenkommentars, den die Karte illustriert, keine Erwähnung von Sirenen oder anderen Seeungeheuern gemacht wird, und weil es keine Beständigkeit oder Traditionslinie für die einzelnen, auf den Beatus-Karten dargestellten Seeungeheuer gibt, dürfen wir schließen, dass die Buchmaler der jeweiligen Handschriften die Seemonster, die sie einsetzen wollten, frei wählen konnten.
Abb. 9 Eine Abbildung der Welt im Beatus von Saint Sever aus dem späten elften Jahrhundert, mit Fischen, einer Seeziege und einem Seelöwen im alles umfließenden Randozean (Paris, Bibliothèque nationale de France, MS lat. 8878,f. 119r).
Abb. 10 Seeziege und Seelöwe im Beatus von Saint Sever (Paris, Bibliothèque nationale de France, MS lat. 8878,f. 119r).