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Der evolutionäre Algorithmus
ОглавлениеDie biologische Evolution ist ein Prozess, bei dem drei Elemente eine entscheidende Rolle spielen, nämlich Variation, Selektion und Reproduktion. Zufällige Variation ist Vorbedingung und Triebkraft der Evolution. Die Mitglieder einer Population unterscheiden sich voneinander in vielerlei Hinsicht. Manche Eigenschaften verschaffen ihrem Besitzer einen Überlebensvorteil und fördern seine biologische Fitness, die Chance, Nachkommen hervorzubringen. Andere Eigenschaften sind nachteilig in dem Sinn, dass sie das Überleben und die Fortpflanzung erschweren. Die Variation in einer Population ist die Folge von Mutation und genetischer Rekombination, der Neuanordnung der Gene durch sexuelle Fortpflanzung. Ist eine Variation erblich, kann dies die genetische Zusammensetzung einer Population verändern. Die in einer Population auftretende Variation ist immer zufällig (im Englischen als random bezeichnet), das heißt, sie antizipiert nicht den Selektionsdruck, der auf eine Population ausgeübt wird. Wenn diese aus irgendeinem Grund nicht länger an ihre Umwelt angepasst ist, kann sie nur „abwarten“, bis sich eine günstige Variation einstellt. Variation ist also nicht, wie Lamarck meinte, zielgerichtet. Ein Organismus kann sich noch so sehr anstrengen, er hat keinerlei Einfluss darauf, ob er die Gene erhält, die ihm helfen könnten, Schwierigkeiten zu bewältigen.
Natürliche Selektion ist das zweite Element des Evolutionsmechanismus. Wir können sie mit Recht als den Motor, die treibende Kraft der Evolution bezeichnen. Die natürliche Selektion wählt quasi die Eigenschaften aus, die das Überleben begünstigen, und ist somit per definitionem nicht zufällig. Denn die Unterschiede im Fortpflanzungserfolg hängen nicht vom Zufall ab. Durchschnittlich werden diejenigen Individuen, die mit den Bedingungen ihrer Umwelt am besten zurechtkommen, die meisten Nachkommen haben. Die natürliche Selektion ist ein Sieb, das die vorteilhaften Variationen von den ungünstigen trennt.
Reproduktion schließlich ist das dritte und letzte Element des Evolutionsmechanismus. Sie ist der Schlüssel der Evolution, da sie in gewissem Sinn die Tür zur Unsterblichkeit öffnet. Die Organismen, die sich fortpflanzen, geben ihre genetische Information an ihre Nachkommen weiter. Die Gene sind dadurch potenziell unsterblich. Die Tatsache, dass Organismen sich selbst reproduzieren können, bedeutet zugleich, dass sich durch den evolutionären Auswahlprozess vorteilhafte Merkmale im Laufe der Generationen anhäufen. Gene, die eine günstige Mutation tragen, werden durchschnittlich öfter kopiert als Gene, die negative Auswirkungen haben. Merkmale, die die biologische Fitness steigern, verbreiten sich in der Population und werden verstärkt, nachteilige Merkmale schwächen sich ab und werden aussortiert. Die Population als Ganze wird auf diese Weise zu einer flexiblen Einheit, die allmählich ihren Genbestand verändern und sich wechselnden Umweltbedingungen anpassen kann.
Zusammen bilden die drei Elemente einen evolutionären Algorithmus aus Variation, Selektion und Reproduktion, einen VSR-Algorithmus. Ein Algorithmus ist ein einfaches Verfahren, das zu einer bestimmten Art Resultat führt, sobald es einmal begonnen hat. Das Ergebnis des evolutionären VSR-Algorithmus ist Angepasstheit. Wenn der kumulative Auswahlprozess der Evolution nur lange genug dauert, bringt er die erstaunlichsten Adaptationen hervor. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung des Auges, ein von Kreationisten und anderen Evolutionsgegnern häufig ins Feld geführtes Argument. Ein so hochkomplexes Organ könne niemals durch Zufall entstanden sein, lautet das Argument. Übersehen wird, dass die Entstehung der Variation zwar zufallsbedingt ist, nicht aber der Prozess der natürlichen Selektion. Fügt man dem auch noch das dritte Element – Reproduktion – hinzu, entsteht ein vollwertiger VSR-Algorithmus: Nur die Kombination aus Variation, Selektion und Reproduktion führt zu dem Mechanismus, der wie „intelligentes Design“ anmutet.
Das Auge ist mehrere Male bei ganz unterschiedlichen biologischen Arten entstanden, unter anderem bei Wirbeltieren, Insekten und Weichtieren. Höchstwahrscheinlich war der Anfang eine einfache lichtempfindliche Zelle oder ein Lichtrezeptor. Im Lauf von vielen Millionen Jahren wurde jede Verbesserung des Entwurfs, wie unscheinbar auch immer, bewahrt und weitergegeben, denn schon ein Prozent mehr Sicht ist hilfreich in einer Welt voller Gefahren. Schließlich entstanden über viele Zwischenstufen die komplizierten Facettenaugen der Insekten und die Linsenaugen der Wirbeltiere. Kurzum, man kann die Evolution komplexer Organe erst begreifen, wenn man alle drei Elemente des Evolutionsmechanismus beachtet. Um auf das im ersten Kapitel angeführte Beispiel des Affen am Computer zurückzukommen – die Wahrscheinlichkeit, dass er durch beliebiges Anschlagen der Tasten ein Theaterstück von Shakespeare zustande bringt, ist in der Tat unendlich klein. Fügt man der Textverarbeitung jedoch einen Algorithmus mit kumulativer Auswahl hinzu, der aus dem Zufallstext des Affen die richtigen Buchstaben, Leer- und Satzzeichen etwa von Macbeth in der richtigen Reifenfolge aussortiert, kann es der Affe weit bringen.
Um das Funktionieren der natürlichen Selektion zu illustrieren, wird in fast jedem modernen Lehrbuch über Evolutionsbiologie das Beispiel des Birkenspanners (Biston betularia) herangezogen. Dieser kleine, unauffällige Schmetterling ist in ganz Europa heimisch. Besonders in England wurde er erforscht. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Birkenspanner überwiegend hell gefärbt; auf den von Flechten bewachsenen Stämmen der Birken waren sie für ihre Feinde kaum zu erkennen. Die Tarnfarbe war das Resultat der natürlichen Selektion. Mit der durch die Industrialisierung zunehmenden Luftverschmutzung nahm der Flechtenbewuchs jedoch ab, die Stämme färbten sich dunkel. Die Folge war, dass die hellen Schmetterlinge nicht mehr geschützt waren und ein gefundenes Fressen für Vögel wurden. Zur allgemeinen Verwunderung breitete sich nun ab Mitte des 19. Jahrhunderts die dunklere Variante des Birkenspanners immer mehr aus – der Nachteil seiner Färbung hatte sich in einen Überlebensvorteil verwandelt – und verdrängte die helle Form fast völlig, ein Phänomen, das in der Biologie als Industriemelanismus bezeichnet wird. In den letzten Jahrzehnten ist mit der Abnahme der Luftverschmutzung eine Umkehrung des Verhältnisses zu beobachten. Möglicherweise kehrt die Population langsam wieder zu den hell gefärbten Individuen zurück.