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Probleme des biologischen Artkonzepts

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So weit scheint die Theoriebildung hinsichtlich der Frage, was Arten sind und wie neue Arten entstehen, verhältnismäßig wenig Probleme zu bereiten. Doch Pflanzen und Tiere verhalten sich nicht immer so, wie die Hand- und Lehrbücher es uns glauben machen wollen. Die Natur lässt sich nicht in die Zwangsjacke unserer Konzepte und Kategorien stecken. Im Grunde sind noch viele Fragen ungelöst. Auch Mayrs Artbegriff ist nicht unproblematisch. Sehen wir ihn uns noch einmal an.

Eine Art ist eine Gruppe natürlicher Populationen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen derartigen Gruppen reproduktiv isoliert sind.

Am augenfälligsten ist, dass Mayrs Definition sich nur auf Organismen bezieht, die sich geschlechtlich fortpflanzen. Ein reger oder eingeschränkter genetischer Austausch bestimmt ja, ob Populationen zur selben oder zu einer anderen Art gehören, und dieser Austausch findet nur bei sich sexuell fortpflanzenden Arten statt. Es gibt jedoch zahllose asexuelle Pflanzen und Tiere, die sich etwa durch Klonierung vermehren. Wenn wir Mayrs Definition strikt anwenden, gehören diese Organismen also nicht zu irgendeiner Art. Dies ist natürlich ein Manko, denn sich asexuell reproduzierende Lebewesen stellen ebenso eigenständige Gruppen dar wie sich geschlechtlich fortpflanzende Organismen.

Ein Beispiel für einen asexuellen Organismus, dem man auf Schritt und Tritt in Gärten, Parks und auf Wiesen begegnet, ist Leontodon taraxacum, besser bekannt als Löwenzahn oder Pusteblume. Ihr Blütenstaub ist unfruchtbar, dafür aber bildet sie (diploide) Eizellen, aus denen eine neue Pflanze heranwachsen kann, ohne dass diese Eizellen befruchtet werden müssen. Sie stellt faktisch lauter Klone her. Man bezeichnet diesen Vorgang als Parthenogenese, Jungfernzeugung (griechisch parthenos = Jungfrau; genesis = Zeugung).

Wahrscheinlich hat sich die Pusteblume aus Vorgängerpflanzen entwickelt, die sich ganz brav an die Spielregeln hielten. Daher bilden Organismen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, deutlich unterscheidbare Gruppen. Doch wie unterscheidbar sie auch sein mögen, nach Mayrs Definition ist die Pusteblume keine Art. Parthenogenese findet übrigens auch bei Tieren statt, etwa bei Stabheuschrecken und Blattläusen.

Ein zweites Problem des biologischen Artkonzepts besteht darin, dass Hybridisation viel häufiger vorkommt, als die Handbücher suggerieren. Und diese Hybriden sind oft sowohl lebensfähig als auch fruchtbar. Man müsste deswegen eigentlich die beiden Arten, zu denen die Eltern des Bastards gehören, nicht als zwei verschiedene (Unter-)Arten betrachten, sondern als eine einzige. Namentlich in der frühen Phase der Speziation können fruchtbare Hybriden regelmäßig auftauchen. Besonders Pflanzen kümmern sich wenig um reproduktive Barrieren. Auch die dreizehn Finkenarten der Galapagos-Inseln demonstrieren diesen Sachverhalt. Sie passen nur mit Mühe in den Rahmen des BSC, denn genaugenommen sind es gar keine verschiedenen Arten, da Hybridisation vorkommt und die Nachkommen fruchtbar sind. Der genetische Abstand ist noch zu klein, um von vollwertigen Arten sprechen zu können. Der Prozess der Speziation ist noch in vollem Gang.

Das dritte und letzte Problem hinsichtlich des biologischen Artkonzepts hängt mit dem vorigen zusammen. Die reproduktive Isolation, die nötig ist, um von einer Art sprechen zu können, vollzieht sich graduell. Evolution ist nun einmal ein allmählicher Prozess. Es lässt sich daher kein genauer Punkt festmachen, an dem auseinander strebende Populationen das Niveau einer neuen Art erreichen. Ob man die Darwinfinken als verschiedene Arten betrachtet, ist eine Ermessensfrage und hängt davon ab, welche Maßstäbe man anlegt. Verlangen wir totale reproduktive Isolation oder darf ab und zu auch ein lebenslustiger, fruchtbarer Bastard auftauchen? Betrachten wir Arten in ihrer ganzen Entwicklungsgeschichte oder in einer „erstarrten“ Momentaufnahme? Um die zeitliche Dimension der Evolution hervorzuheben, führte der Paläontologe G.G. Simpson, ein anderer Architekt der Synthetischen Evolutionstheorie, Mitte des vorigen Jahrhunderts das Evolutionäre Artkonzept (Evolutionary Species Concept oder ESC) ein, das in einer aktuellen Version wie folgt lautet:

Eine evolutionäre Art ist eine Linie von Vorfahren-Nachkommen-Populationen, welche ihre Identität gegen andere derartige Linien aufrechterhält und welche eigene evolutionäre Tendenzen sowie ein eigenes historisches Schicksal hat.

Mayrs BSC bezieht sich auf eine „horizontale“ Momentaufnahme der Speziation, Simpsons ESC berücksichtigt dagegen auch die „vertikale“, zeitliche Dimension der Evolution. Was Organismen zu einer Art macht, ist in erster Linie ihre gemeinsame Abstammung: Sie gehören zur selben genealogischen Linie, aus der sie hervorgegangen sind.

Wir Menschen lieben es begreiflicherweise, die Dinge zu ordnen, einzuteilen und zu klassifizieren, doch die Natur lässt sich nicht immer in unsere Schablonen pressen. Die Schwierigkeiten, vor die uns die Definition des Artbegriffs stellt, gilt in der einen oder anderen Form auch für die höheren Taxa wie Gattung, Familie, Ordnung oder Reich. Einige Biologen möchten zum Beispiel nicht nur den modernen Menschen und seine direkten Vorfahren, sondern auch die Menschenaffen, das heißt Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans, in die Gattung Homo einordnen. Die Frage dabei ist wiederum, welche Kriterien man verwendet: Geht es uns vor allem um größere, allgemeine Zusammenhänge oder mehr ums Detail? Doch wenn man auch die Natur auf verschiedene Weise einteilen kann, so ist deswegen nicht jede Klassifikation gleich überzeugend und brauchbar. Seit Aristoteles, Linné und Darwin hat die biologische Systematik große Fortschritte gemacht, dank der modernen technischen und biochemischen Analysemöglichkeiten können wir die vielen Facetten des Lebens auf unserem Planeten immer genauer untersuchen. Mayrs biologisches Artkonzept und seine Theorien über die Speziation sind noch immer sehr wertvoll, nur werden Biologen sich heute nicht mehr so strikt an sie halten.

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