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Der Riesenhirsch und der Pfau
ОглавлениеMan würde meinen, dass alle Eigenschaften der Organismen durch den Evolutionsprozess geformt wurden und somit funktional sind. Doch dies ist nicht der Fall. Lebewesen besitzen zahlreiche Merkmale, die keinerlei Funktion besitzen. Oft handelt es sich um Nebenprodukte anderer funktionaler Eigenschaften. Beispiele sind der Blinddarm oder die Brustwarzen des Mannes. Männer haben Brustwarzen, weil der Embryo in der frühen Phase die weibliche Grundform besitzt, erst in einem späteren Stadium werden die geschlechtsspezifischen Merkmale ausgebildet. Oft ist es evident, welche Funktion ein Merkmal hat: Herz, Lunge, das Auge oder die Färbung des Birkenspanners sind durch natürliche Selektion erworbene Anpassungen. Das Herz hat die Funktion, Blut in den Körperkreislauf zu pumpen, die Lunge versorgt das Blut mit Sauerstoff, das Sehorgan ermöglicht den Lebewesen, Informationen über die Außenwelt zu sammeln, und die Färbung des Birkenspanners dient der Tarnung.
Manchmal allerdings ist die Funktion eines Merkmals nicht ohne Weiteres ersichtlich. So rätseln die Fachleute noch immer über den Zweck der Streifen der Zebras. Eine der Erklärungen lautet, sie seien wie die des Tigers eine wirksame Tarnung in hohem Gras oder im Unterholz – eine nicht sehr überzeugende Hypothese, da Zebras mit Vorliebe in der offenen Savanne grasen. Das Fellmuster scheint eher ein Lockmittel zu sein: Seht her, hier stehe ich in meinem schmucken Pyjama! Zebras wären möglicherweise mit einem uni hellbraunen Fell besser dran. Wir wissen also nicht immer mit Sicherheit, welche Eigenschaften durch natürliche Selektion geformt wurden und welche nicht. Fest steht dagegen, dass eine adaptive und damit funktionale Eigenschaft das Ergebnis der natürlichen Selektion ist. Doch nicht jede Eigenschaft ist eine Adaptation.
Abb. 2.2: Der Riesenhirsch (Megaloceros) hatte eine Schulterhöhe von mehr als zwei Metern und ein Geweih mit einer Spannweite von bis zu vier Metern.
Außer den Merkmalen, die (möglicherweise) keine Funktion besitzen, gibt es auch solche, die dem Prinzip der natürlichen Selektion regelrecht zu widersprechen scheinen. Paradebeispiele in den Lehrbüchern sind der Riesenhirsch und der Pfau. Der Riesenhirsch, Megaloceros giganteus, lebte in der letzten Eiszeit in ganz Europa und Nordasien und starb vor etwa zehntausend Jahren aus. Sein wirklich kolossales Geweih erreichte eine Spannweite von bis zu vier Metern und wog bis zu sechzig Kilo! Bis vor Kurzem ging man davon aus, das Geweih müsse seinem Träger mehr Nachteile als Vorteile verschafft und sein Aussterben beschleunigt haben. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum ein so hinderliches Ornament überhaupt hatte entstehen können.
Lange Zeit galt das Geweih des Riesenhirsches als ein Beispiel der sogenannten Orthogenese, einer Theorie, nach der sich die Evolution in eine vorbestimmte Richtung bewegt und durch eine unbekannte Kraft angetrieben wird. Dem Riesenhirsch wohnte sozusagen ein Streben innen, ein immer größeres Geweih zu entwickeln, bis er schließlich unter seiner Last zusammenbrach. Die Vorstellung der Orthogenese gilt heute als veraltet und wird von fast niemandem mehr vertreten.
Setzt man jedoch das Geweih des Riesenhirsches in Relation zu seiner Körpergröße, so zeigt sich, dass es durchaus mit den Abmessungen des Schädels und des Körpers korreliert. Megaloceros hatte ein Schulterhöhe von mehr als zwei Metern (Abb. 2.2). Sollte das Geweih also doch durch natürliche Selektion entstanden sein? Doch was konnte seine Größe erklären, die mehr Nach- als Vorteile haben musste? Der Hirsch war viel auffälliger für seine Feinde und konnte ihnen kaum entkommen. Zudem musste er das riesige Geweih, wie alle heutigen Hirsche, jedes Jahr abwerfen und im Sommer wieder aufbauen, was eine große Menge an Nahrung und Energie erforderte. Wozu also der ganze Aufwand, wenn sich die Weibchen auch ohne Geweih ganz gut durchs Leben schlagen?
Die gleichen Fragen kann man sich auch bei dem zweiten klassischen Beispiel für ein Merkmal stellen, das im Widerspruch zur natürlichen Selektion zu stehen scheint: die prächtigen Schwanzfedern des Pfauenmännchens (Pavo cristatus). Mit seinem glänzenden tiefblauen Gefieder und dem kecken Krönchen auf dem Kopf scheint er alles daran zu setzen aufzufallen. Erst recht nicht zu übersehen ist er, wenn er sein Rad schlägt und seinen bunten Fächer mit Dutzenden irisierenden Augen aufschlägt. Welche Funktion kann ein so ausgeprägtes Körpermerkmal haben, das seinen Besitzer in seiner Bewegungsfreiheit einschränkt – Pfaue können besonders schlecht fliegen – und alle Blicke der Raubtiere auf sich lenkt (die Ursprungsheimat des Pfaus sind die Wälder Südasiens)? Wenn es nach der natürlichen Selektion ginge, müsste er wie die Hennen unauffällig und gut getarnt sein. Warum hat sich ein solches Merkmal entwickelt?
Oder allgemeiner gefragt: Warum gibt es so große Unterschiede zwischen den Geschlechtern?