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Die ersten Menschenartigen
ОглавлениеDie Australopithecinen sind ausgestorben. Wir kennen sie nur durch meist sehr fragmentarische fossile Reste, die alle in Afrika gefunden wurden. Die Australopithecinen lebten vor ungefähr viereinhalb bis anderthalb Millionen Jahren. Die ersten Überreste eines Australopithecus wurden 1924 von dem Paläanthropologen Raymond Dart in Südafrika entdeckt. Es handelte sich um einen Kinderschädel, bekannt als das Taung-Kind (Taung liegt bei Kimberley in Südafrika). Untersuchungen ergaben ein Alter von über zwei Millionen Jahren. An dem Schädel fällt auf, dass er sowohl affenartige als auch menschenartige Merkmale hat. So ist das Gehirnvolumen dieses Hominiden noch ziemlich klein und mit dem heutiger Menschenaffen vergleichbar, während das flache Gesicht und das Gebiss eher an moderne Menschen erinnern. Dieser neu entdeckten Art gab Dart den Namen Australopithecus africanus (Abb. 4.2).
Abb. 4.2: Schädel des Taung-Kindes. Dieser Vertreter der Art A. africanus lebte vor etwa 2,3 Millionen Jahren im südlichen Afrika.
In den Vierzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kamen weitere Überreste ans Licht. Diese Funde waren wichtige Hinweise darauf, dass die Wiege der Menschheit in Afrika gestanden hat und nicht in Asien, wie der Niederländer Eugène Dubois und andere Paläanthropologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meinten.
Inzwischen waren in Süd- und Ostafrika Fossilien einer weiteren Australopithecus-Art gefunden worden, die auf zwei Millionen Jahre datiert wurden und damit ebenso alt wie die Funde von A. africanus waren, jedoch ganz andere Merkmale aufwiesen. Der viel kräftigere Körperbau dieser neuen Art trug ihr den Namen Australopithecus robustus ein. Auffallend sind die dicke Schädelwand, die riesigen Kiefer und Backenzähne, prononcierte Brauenwülste und Backenknochen und ein knochiger Kamm, der von vorn nach hinten über die Schädeldecke verläuft. Die robusten Australopithecinen müssen enorme Kiefer besessen haben, wobei der Scheitelkamm als zusätzliche Verankerung der Kiefermuskulatur diente. Der robusteste dieser frühen Hominiden ist der Australopithecus boisei, der 1959 von dem Paläanthropologen-Ehepaar Mary und Louis Leakey in der Olduvai-Schlucht in Tansania gefunden wurde. Wegen seines enormen Kiefers und der Backenzähne, deren Kaufläche die Größe einer Euromünze hatte, wird A. boisei auch der „Nussknackermensch“ genannt (Abb. 4.3).
Die Australopithecinen waren trotz ihrer furchteinflößenden Erscheinung vorwiegend Vegetarier. Wie die heutigen Gorillas ernährten sie sich von großen Mengen Blättern und Baumrinde (die Abnutzung der Backenzähne entspricht der bei heutigen pflanzenfressenden Primaten). Möglicherweise knackten sie mit ihrem gewaltigen Gebiss auch harte Nüsse. Der Artname „boisei“ geht auf den Londoner Geschäftsmann Charles Boise zurück, der mehrere Expeditionen der Leakeys finanzierte. Der Fund der grazilen und der robusten Australopithecinen (zu denen auch A. aethiopicus gehört) bewies, dass vor zwei Millionen Jahren mindestens vier verschiedene Hominidenarten in Afrika nebeneinander lebten, einschließlich der Vertreter der Gattung Homo waren es vielleicht sogar ein halbes Dutzend, wie spätere Entdeckungen nahelegten.
Den wohl berühmtesten Australopithecus verdanken wir dem amerikanischen Paläanthropologen Donald Johanson. 1974 stieß sein Team während einer Expedition in Hadar in Äthiopien auf das fossile Skelett einer bisher unbekannten Hominidenart, das sich fast zur Hälfte erhalten hatte, für paläontologische Begriffe etwas sehr Außergewöhnliches. Nie zuvor hatte man so viele fossile Überreste gefunden, die von einem einzigen frühen Hominiden stammten. Zudem stellte sich heraus, dass es sich um den bis dato ältesten Vertreter der Australopithecinen handelte, er war über drei Millionen Jahre alt. Johanson gab der neuen Spezies nach dem Fundort im Afar-Dreieck den Namen Australopithecus afarensis. Becken und Gebiss wiesen das Skelett als das einer erwachsenen, knapp einen Meter großen Frau aus (Abb. 4.4). Da das Team in seiner Euphorie am Abend des Fundes im Zeltlager stundenlang den Beatlesong Lucy in the sky with diamonds hörte, gab es ihr den Namen „Lucy“.
Abb. 4.3: Schädel der Hominidenart A. boisei („Nussknackermensch“). Das Fossil wurde in Tansania gefunden und ist knapp zwei Millionen Jahre alt.
Erstaunlich war, dass der Aufbau des Hüftgelenks und seine Lage zum Oberschenkelknochen darauf hinwiesen, dass Lucy aufrecht gegangen sein musste. Das war insofern bemerkenswert, als A. afarensis (wie die anderen Australopithecinen) nur ein Gehirnvolumen von kaum 500 Kubikzentimetern besaß, so viel wie ein moderner Schimpanse. Hiermit wurde eine der wichtigsten Hypothesen über die menschliche Evolution auf den Kopf gestellt, denn bisher hatte man angenommen, bei den frühesten Hominiden sei die Zunahme der Gehirngröße der Fortbewegung auf zwei Beinen (Bipedie) vorausgegangen. Lucy bewies genau das Gegenteil. Die verhältnismäßig langen Arme von A. afarensis wiesen zudem darauf hin, dass die Vertreter dieser Art noch gute Kletterer waren.
Abb. 4.4: A. afarensis („Lucy“). Das von Donald Johanson in Hadar (Äthiopien) entdeckte Fossil ist 3,2 Millionen Jahre alt.
Der aufrechte Gang der Australopithecinen wurde 1978 durch einen sensationellen Fund in Laetoli in Tansania bestätigt. Mary Leakeys Team stieß auf eine siebzig Meter lange Spur von Fußabdrücken, die in versteinerter Vulkanasche konserviert worden waren (Abb. 4.5). Die Art der Verteilung des Gewichts über Ferse und Zehen ließ keinen Zweifel daran, dass die Spuren nur von aufrecht gehenden Hominiden stammen konnten (wahrscheinlich von Vertretern der Spezies A. afarensis). Heutige Menschenaffen hinterlassen ganz andere Fußabdrücke, abgesehen davon, dass sie sich im „Knöchelgang“, auf Händen und Füßen, fortbewegen. Die Vulkanasche wurde auf dreieinhalb Millionen Jahre datiert, auf eine Zeit, in der in Afrika noch keine Vertreter der Spezies Homo, sondern ausschließlich Australopithecinen lebten. Neben typisch menschlichen Merkmalen, wie Bipedie, einem flachen Gesicht und relativ kleinen (Eck-)Zähnen, weist Lucy noch affenähnliche Merkmale auf, wie ein kleines Gehirn. Man kam daher zu dem Schluss, dass nicht das Hirnvolumen, sondern der aufrechte Gang Wesensmerkmal der frühen Hominiden ist.
Abb. 4.5: Einer der Fußabdrücke bei Laetoli (Tansania). Die versteinerte Spur wurde 1978 von Mary Leakey entdeckt und ist dreieinhalb Millionen Jahre alt.
A. afarensis war für einige Jahrzehnte der älteste bekannte Vertreter der Gattung Australopithecus. In den Neunzigerjahren wurden jedoch am Turkanasee in Kenia noch ältere Überreste gefunden. Die neue Art bekam den Namen Australopithecus anamensis, nach dem Turkana-Wort für See, anam. A. anamensis verlegt das Alter der Hominidenfamilie noch weiter zurück, nämlich um vier Millionen Jahre. Die Entdeckung ist einem Team unter Leitung von Meave Leakey zu verdanken, Ehefrau von Richard Leakey, dem Sohn des berühmten Paläanthropologen-Ehepaars, der selbst auch bedeutende Funde in Afrika machte.
Die Australopithecinen müssen sehr erfolgreiche Hominiden gewesen sein. Die sechs verschiedenen Unterarten lebten vor ungefähr vier bis anderthalb Millionen Jahren in einem Gebiet, das sich vom heutigen Äthiopien bis zum Kap der Guten Hoffnung erstreckt. Die robusten Vertreter der Gattung bildeten nach einiger Zeit einen eigenen evolutionären Zweig, der sich vor ungefähr anderthalb Millionen Jahren erschöpfte. Möglicherweise hatte das mit dem Auftauchen eines neuen, noch erfolgreicheren Hominiden zu tun: der erste der Gattung Homo angehörende Mensch. Die meisten Paläanthropologen sind der Ansicht, die grazilen Arten A. afarensis und A. africanus seien die Vorfahren dieses neuen Hominiden gewesen.
Und doch ist es ein Irrtum zu denken, Australopithecus sei der gemeinsame Vorfahre der heutigen Menschen und unserer nächsten noch lebenden Verwandten, der Schimpansen und Bonobos. DNA-Untersuchungen und paläontologische Analysen belegen, dass die Verzweigung schon viel früher, nämlich vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren stattfand. Aus dieser Periode fehlen jedoch fossile Zeugnisse fast völlig. Daher spricht man von dem sogenannten fossil gap, der Fossilienlücke. Der noch unentdeckte gemeinsame Vorfahre von Menschenaffen und Menschen hat aber schon einmal einen Namen bekommen, nämlich Pan prior, was soviel bedeutet wie „früherer Schimpanse“.
Der 2002 entdeckte Sahelanthropus tchadensis („Sahelmensch aus Tschad“) schlägt vielleicht eine Brücke zu dieser Frühzeit. Der fragmentarische Schädel aus Zentralafrika ist sechs bis sieben Millionen Jahre alt und erhielt den Spitznamen „Toumaï“, „Hoffnung auf Leben“. Es ist noch nicht ganz deutlich, ob Toumaï zum Zweig der Hominiden oder zu dem der Affenartigen gehört. Die meisten Paläanthropologen neigen zur ersten Hypothese. Toumaï hat ein flaches, menschenartiges Gesicht mit relativ kleinen Eckzähnen, auch der Zahnschmelz weist mehr Übereinstimmung mit dem des Menschen als mit dem des Schimpansen auf. Manches spricht sogar dafür, dass S. tchadensis aufrecht ging, ein Merkmal der Hominiden. Auch das tiefliegende Hinterhauptloch (foramen magnum), das den Rückenwirbel mit dem Schädel verbindet, sowie neuere Funde fossiler Überreste weisen in diese Richtung. S. tchadensis hatte ein relativ geringes Gehirnvolumen von knapp 350 Kubikzentimetern. Diese Tatsache besagt allerdings nicht sehr viel, da auch alle anderen frühen Hominiden ein kleines Gehirn hatten. Toumaï ist demnach möglicherweise der älteste bekannte Hominide, der kurz nach der Abspaltung der Hominiden von den Affenartigen lebte. Aber aus dieser Zeit sind, wie gesagt, sehr wenige Fossilien bekannt. Sehr viel besser ist es um die Periode vor viereinhalb bis vier Millionen Jahren bestellt, vor allem, was A. anamensis und A. afarensis betrifft. Und auch die verschiedenen Arten der Gattung Homo sind gut dokumentiert. Doch trotz dieses relativen Reichtums an wichtigen Funden ist der Verlauf der Evolution der Hominiden noch voller ungelöster Rätsel.